Der Fan als DJ seiner Lieblingsband
Massive Attack sind nicht nur Trip-Hop-Pioniere, sie befassen sich auch mit neuen Varianten, Musik zu hören. In der von ihnen entwickelten App können Nutzer Songfragmente der Band selbst remixen. Wir haben es versucht - aber begeistert sind wir nicht.
Wer zu den Ausgewählten gehört – "Fantom" läuft nur auf neueren iPhones, Android-Nutzer werden ausgeschlossen - bekommt laut Eigenbeschreibung kostenlos "a sensory music experience" geboten – am ehesten wohl zu übersetzen als ein musikalisches Erlebnis für alle Sinne.
Herzstück der App sind Fragmente von vier neuen Songs, die sich vom User neu remixen lassen. Beeinflusst werden diese Neuinterpretationen vom eigenen Standort, der Tageszeit und – mithilfe einer Apple Watch – sogar vom Pulsschlag.
Das, was die Algorithmen am Ende ausspucken ist durchaus hörbar. Natürlich ist die App so programmiert, dass sich Ergebnisse nie schlecht anhören. Schließlich lässt sich eine derartige Software auch als Promotion-Instrument verstehen. Vor allem, weil eine Woche später die Songs offiziell veröffentlicht wurden. Massive-Attack-Frontmann Robert Del Naja sieht das natürlich anders. Einem amerikanischen Online-Magazin sagte der Brite:
"Wir haben hier unsere Musik zur Verfügung gestellt, mit der die Leute ihre eigene Musik komponieren können. Und keiner sagt dir, wie es zu sein hat."
Und so ist die App ein nettes Spielzeug, deren Unterhaltungspotenzial jedoch schnell ausgeschöpft ist: Alle Sinne werden nicht angesprochen – Tasten und Hören stehen im Vordergrund. Kaum vorstellbar, dass jemand länger als einen Nachmittag mit der App verbringt. Und auch, wenn die selbst erstellten Remixes dann über Twitter geteilt werden können – wen interessiert das schon? Oder wird der Konsument damit doch zum Künstler?
Eine App gegen die Entsinnlichung?
Wenn es nach Del Naja geht, ist die App zumindest erst der Anfang:
"Ich überlege die ganze Zeit, was wir als nächstes machen könnten: Zum Beispiel ließen sich die Daten der Konzertbesucher über die App einfangen und dann im Live-Set in Echtzeit remixen."
Der Band ausschließlich geschäftliches Kalkül vorzuwerfen, wäre falsch. Bestimmt haben sie ehrliches Interesse am Austesten künstlerischen Grenzen, interaktiver Erfahrungen und neuer Technologien. Grenzüberschreitungen und Remixes waren schon immer das Markenzeichen der Band, die App ist eine logische Fortführung. Doch kann eine App die Entsinnlichung ausgleichen, die einsetzte, nachdem physische Tonträger, Booklets und Plattencover immer mehr verschwunden sind? Kaum vorstellbar, denn die Individualität, die die App suggeriert, ist lediglich programmiert - eher wird die meisten User interessiert haben, in die neuen Stücke der Band hineinhören zu können.
"This app is called Virus. And it is about generative music."
Was Interaktion durch Apps betrifft, hatte Björk bereits 2011 die Maßstäbe gesetzt. Denn "Biophilia" ist mehr: Das Gesamtkunstwerk aus Musik-Album und Multimedia enthält gleich mehrere Apps zu verschiedenen Songs. Auch hier sind Remixes möglich.
"In order to let it play, you have to flick with your fingers and stop the virus take over the song."
Die schiere Größe des Projekts war bahnbrechend und ist bis heute unerreicht. Nicht umsonst wurde es mittlerweile in die digitale Kollektion des Museum of Modern Art aufgenommen.
"This is scape. A new generative music app."
Auch Brian Eno hat Apps herausgebracht
Apps mit wirklich künstlerischem Anspruch produzierte auch Brian Eno. Mit Bloom, Scape, Air und Trope brachte der Brite bereits vier kleine Apps heraus, die seiner Kunst sehr entsprechen: Mit flächigen Soundbites zum Neuarrangieren lässt es sich tief eintauchen in die Welt der Ambient-Musik.
"You recognize the personality of a given piece. But the performance will not be precisely the same as any other one you have heard."
Doch selbst hier stößt der Nutzer schnell an Grenzen.
Die Programmierung einer guten, funktionierenden App ist aufwendig und teuer. Und soll diese wirklich einen Mehrwert darstellen, eine Erweiterung des Gesamtwerkes, können sich dies wohl nur die ganz großen des Business erlauben. Kleinere Künstler können sich das schlichtweg nicht leisten. Werden gutverdienende Künstler bald nur noch über Apps veröffentlichen? Kaum vorstellbar, denn die große Masse rezipiert Pop- und Rockmusik wohl weiterhin lean-back – heißt: zurückgelehnt, passiv, ohne sich intensiv, aktiv damit auseinanderzusetzen. Und so bleibt der Musikhörer weiter in seiner Konsumentenrolle. Die wahren Künstler bleiben die Musiker – und die bringen am Ende sowieso ihre eigenen Versionen heraus, behalten also die Autonomie über ihr Werk.
So auch bei Massive Attack. Am Ende ist es also ziemlich egal, was Fans der Band in irgendeiner App zusammengemixt haben.