Neue Artenvielfalt

Warum das Fichtensterben dem Harz guttut

Tote Bäume liegen im Nationalpark Harz übereinander.
Früher standen die Fichten dicht aneinander, nun ist wieder Platz für andere Bäume. © picture alliance / Arco Images / R. Schlepphorst
Von Dietrich Mohaupt |
Zuerst kam das Orkantief Friederike, dann folgten die Trockenheit und der Borkenkäfer: Im Harz sind massenhaft Fichten entwurzelt und umgestürzt. Doch was aussieht wie ein apokalyptisches Chaos, könnte den Beginn eines gesunden Mischwaldes markieren.
Von einem kleinen Parkplatz an der Bundesstraße vier zwischen Torfhaus und Braunlage geht es auf einem schmalen Forstweg in den Wald hinein – oder besser: in die traurigen Reste eines früher dichten, grünen Fichtenwaldes. So erleben das jedenfalls viele Autofahrer, die hier unterwegs sind. Zahllose tote Baumgerippe ragen in den Himmel, überall liegen entwurzelte und wild übereinander gestürzte Baumreste. Aus dem fahrenden Auto ein durchaus verstörender Anblick, muss auch die Ornithologin Caren Pertl vom Nationalpark Harz eingestehen.
"Sehr viele Leute fahren hier durch… Und wenn man durchfährt, sieht man natürlich deutlich weniger, wie wenn man reingeht. Wir haben hier sehr, sehr viele tote Bäume – gerade in den letzten Jahren ist der Käfer hier ganz schön reingegangen. Und erst wenn man genauer hinguckt, dann sieht man, dass da immer noch Bäume übrig geblieben sind, es stehen noch so einzelne Gruppen oder Einzelbäume, alte Bäume, und es kommt natürlich sehr viel Jungwuchs hinterher – also die kleinen Bäume kommen schon hinterher."
Der Käfer – gemeint ist der Borkenkäfer – hat hier ganze Arbeit in den Fichtenbeständen geleistet. Er hatte es aber auch besonders leicht, vor allem in diesem Sommer.
"Die Fichte kommt überhaupt nicht zurecht mit so einem trockenen Sommer wie dieses Jahr. Dann sind die Bäume nicht mehr so wehrhaft gegenüber dem Käfer. Also, wenn da so ein Käfer anbohrt an einer gesunden Fichte, sagen wir mal von … keine Ahnung, 100 Jahren oder so … der bohrt da rein, wird eingeharzt – und die Sache hat sich erledigt. Wenn die Bäume aber gestresst sind durch diese Trockenheit, dann können die sich nicht mehr wehren. Und deshalb hat der Käfer deutlich mehr Spielraum und geht deswegen auch so großflächig rein."

Eine natürliche Entwicklung des Waldes

Anfang des Jahres hatte hier bereits Orkantief Friederike gewütet, dann kam die lange Trockenperiode und mit ihr der Borkenkäfer. Die Folgen sind zwar überall deutlich zu sehen, aber sie sind nicht wirklich ein Problem für den Wald, betont Nationalpark-Sprecher Friedhart Knolle.
"Es ist eigentlich die natürliche Entwicklung des Waldes. Wir sind aber – ich sage es mal ganz provokativ – mit unseren über 2000 Jahren Kulturentwicklung – so weit entfernt von einem Naturwald, wie sich das die meisten Bürger überhaupt nicht vorstellen können. Ich war mal ein Vierteljahr in Kanada – und da sah das in den Rockies genauso aus… Sogar noch schlimmer. Ein paar Jahre vorher war da ein Waldbrand. Und ich als armer Deutscher – ich war wirklich schockiert! Und dann meinten die Kandier nur: Naja... a German! This is the bush – also dies ist der Wald."
Und der kann, wenn man ihn lässt, auch mit den Folgen von Waldbränden, Stürmen oder Borkenkäferattacken auf natürlichem Weg fertig werden. Das habe ihm das Beispiel Kanada sehr deutlich gemacht.

Caren Pertl ist inzwischen ein Stück von der Bundesstraße in den Wald hineingegangen. Gerade erst hat es hier den ersten Schnee des Jahres gegeben, über die teils gefrorenen Überreste führt der schmale Weg mitten hinein in das Chaos aus entwurzelten, umgestürzten Bäumen. Es finden sich aber auch immer wieder einzelne grüne Vegetationsinseln, die dem Borkenkäfer getrotzt haben.
"Hier, wo wir jetzt im Moment stehen, da sind so ganz kleine Inseln zu sehen. Wir sind jetzt ein paar Meter gegangen, das ist keine große Strecke gewesen. Man hat hier einzelne alte Bäume, die stehen bleiben, darunter ist wieder so eine kleine Gruppe, hier ein Stückchen weiter ist wieder eine kleine Gruppe, über den Weg rüber wieder ein paar Einzelbäume und ein paar kleine hinterher, ein bisschen Jungwuchs. Das geht schon – also das bleibt wirklich stehen, das ist nicht so, dass alles flächendeckend stirbt."
Im Nationalpark Harz liegen umgestürzte Bäume auf dem Boden. Ein Forstarbeiter ist damit beschäftigt, die Rinde von den Bäumen zu entfernen.
Was auf den ersten Blick wie Chaos aussieht, könnte der Anfang eines gesunden Mischwaldes sein.© picture alliance / Klaus-Dietmar Gabbert

Etliche Vogelarten kehren zurück

Der jungen Ornithologin ist auch sofort noch etwas anderes aufgefallen. Ihre geschulten Augen haben ein paar Wintergoldhähnchen entdeckt, eine der kleinsten Vogelarten Europas. Die im Schnitt gerade einmal neun Zentimeter langen Vögel tummeln sich in kleinen Schwärmen in diesen nachwachsenden Vegetationsinseln inmitten der absterbenden Fichten.
"Das reicht auch für diese sehr fichtengebundenen Arten – also gerade das Wintergoldhähnchen ist eine Art, die absolut an die Fichte gebunden ist, die bauen ihre Nester so an den Seitenästen von Fichten, brauchen deswegen eben die Nadeln. Wir haben sie hier immer noch – also die sind jetzt nicht weg. Das sind vielleicht weniger geworden, das kann sein – aber sie sind immer noch da. Also da reichen einfach diese kleinen Inseln."
Auffällig ist vor allem, dass zu den bisher schon in den Fichtenwäldern in diesem Bereich des Nationalparks heimischen Vogelarten offenbar etliche weitere hinzugekommen sind. Baumpieper, Gimpel, Wendehals Tannenhäher – nur einige Beispiele dafür. Auf einer Fläche von einem Quadratkilometer wurden seit 2007 die häufig vorkommenden Brutvogelarten regelmäßig gezählt – das Ergebnis sei eine logische Folge der vom Borkenkäfer ausgelösten Entwicklung hin zu einem naturnahen Wald, erklärt Caren Pertl.
"Wir haben mal verglichen: 2008 auf dieser Fläche und 2018. 2008 war die Fläche noch so gut wie grün, es gab nur so kleinere Käferlöcher. Eine einzige Art ist 2018 nicht aufgetaucht, die 2008 hier war. Das war die Weidenmeise. Das ist aber auch keine Art, die jetzt ein ganz typischer Fichtenwaldbewohner ist. Wir hatten im Vergleich 2008 – ich meine es waren 20 Arten versus 33 Arten 2018."

Platz für andere Bäume

Und das ist immerhin eine Steigerung von 65 Prozent. Alles Arten, die auch wirklich in diese Region auf 800 bis 900 Metern Höhe gehören.
"Das sind Waldarten, das sind Hochlagenarten, und es sind eben auch Arten dabei, die diese leicht offeneren Bereiche, diese größere Strukturvielfalt brauchen. Wie zum Beispiel Rauhfußkauz und Sperlingskauz – so völlig dichte Wälder ohne Bruthöhlen sind für die gar nicht gut, weil sie einfach diese Spechthöhlen brauchen für die Brutanlage."
Ein dichter Fichtenwald wird hier nicht wieder entstehen. Die Fichte wird zwar weiter dominieren, das Gelände wird aber durch das Totholz am Boden und die alten Stuken, also die langsam verrottenden Baumstümpfe, viel offener und abwechslungsreicher, andere Baumarten finden Platz und breiten sich aus.
"Eberesche, zwischendurch mal die eine oder andere Birke als Pionierbaumart – aber hier oben ist das tatsächlich Fichte und Eberesche. Und natürlich ist das für die Eberesche auch gut, wenn die hier ein bisschen mehr Luft, ein bisschen mehr Licht, ein bisschen mehr Platz kriegt – und, man darf auch nicht vergessen, das ist nochmal so ein Unterschied zu diesen kahlgeräumten Flächen: Wenn Sie diese Stuken hier stehen haben, dann bleiben auch die Vögel sitzen. Vögel fressen Beeren, die Samen kommen entsprechend wieder raus und dadurch verbreitet sich das auch noch ein bisschen."

Ein bisschen mehr Wildnis

Während Caren Pertl diesen beginnenden Kreislauf der natürlichen Walderneuerung schildert, hält sie immer wieder kurz inne. Offenbar sieht sie im Wald nicht nur mehr als andere, sie hat auch etwas gehört: Buntspechte. Die Vögel selbst lassen sich zwar nicht blicken, aber das Ergebnis ihrer Arbeit ist zu sehen.
"Wir haben hier jetzt drei, vier Bäume innerhalb von naja, was werden das sein, 20 Quadratmeter oder so, wo auch mehrere Spechthöhlen angelegt wurden, also vom Buntspecht. Manche sind komplett ausgebaut, manche sind nur angehackt. Aber das dauert natürlich ein bisschen, das werden Sie häufig auch nicht in diesen ganz jung abgestorbenen Bereichen finden, sondern das dauert mal zwei, drei Jahre, bis das ein bisschen morsch, ein bisschen besser zu bauen ist. Und dann kommen auch die Spechte hier rein."
Erste Erfolge, die zeigen, dass hier etwas in Gang gekommen ist. Und zwar ein Prozess, der am Ende zu einem klar definierten Ziel führen soll. Manche sagen dazu "naturnaher Mischwald". Nationalparksprecher Friedhart Knolle ist das zu ungenau.
"Eigentlich kann ich nur einen Begriff benutzen, der auch mittlerweile recht beliebt und in aller Munde ist. Früher war der verhasst. Also, ich kenne noch Zeiten, wo meine Chefs sagten, diesen Begriff bitte nicht benutzen, der schockiert. Das ist der Begriff der Wildnis! Der Wald, den wir entwickeln, ist ein Wildnis-Wald!"
Auf dem Weg dahin befinden sich große Teile des Nationalparks Harz gerade in einer Phase, in der Schädlinge wie der Borkenkäfer für Zerstörungen sorgen, die auf den ersten Blick wirklich apokalyptisch wirken. Gleichzeitig beginnt aber auch schon die Artenvielfalt von dem Wandel zu profitieren. Die Natur regeneriert sich bereits. Aber sie braucht Zeit, betont Caren Pertl.
"Mein ehemaliger Chef hat immer gesagt, wir müssen in 200, 300 Jahren nochmal gucken kommen. Das sind die Zeiträume, in denen wir uns bewegen. Also, das kann gut sein, dass wir in unserer Lebenszeit das überhaupt nicht mehr so richtig mitkriegen."
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