Hessen schickt seine Beamten aufs Land
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Auch der Staat als Arbeitgeber bekommt den Fachkräftemangel zu spüren. Hessen reagiert und verlegt inzwischen Stellen in Orte abseits der Ballungsräume. Für den ländlichen Raum ist das eine Chance – und die Pendler freut das Plus an Lebensqualität.
Martin Leinweber steuert den Dienstwagen der hessischen Finanzverwaltung durch die Kleinstadt Lauterbach im Vogelsberg. Der studierte Jurist ist seit 2014 Leiter des Finanzamtes Alsfeld-Lauterbach. Heute Morgen wird er für mich zum Reiseführer durch die Kreisstadt rund 30 Kilometer westlich von Fulda.
Finanzamt-Neubau im 14.000-Seelen-Ort
Die Fahrt geht zur Baustelle des neuen Finanzamtes in Lauterbach: "Und hier sehen Sie das neue Gebäude. Das ist die Zufahrt, durch die die Steuerpflichtigen und auch die Kolleginnen und Kollegen das Finanzamt dann erreichen werden."
Der geräumige Rohbau liegt ein wenig am Rande der hügeligen Stadt mit knapp 14.000 Einwohnerinnen und Einwohnern. Martin Leinweber fährt das Auto in die lehmige Einfahrt der Baustelle. Dabei erklärt er, wie seine Beamtinnen und Beamten künftig aus der Innenstadt ins neue Dienstgebäude kommen sollen: "Wir hatten jetzt gerade einen Termin mit dem Bürgermeister, in dem wir über die Anbindung mit dem Stadtbus gesprochen haben. Das wird sich einrichten lassen."
Denn das neue Finanzamt wird ab Herbst dieses Jahres einer der größten Arbeitgeber von Lauterbach sein. Rund 200 Menschen werden hier dann das Steueraufkommen von rund 1,6 Milliarden bearbeiten, die das Land Hessen jährlich aus der Grunderwerbssteuer einnimmt.
Stress auf der A5 fällt weg
Christian Wolf und Sandra Bohn sind zwei, die jetzt in Lauterbach arbeiten. Die beiden Finanzbeamten hatten sich schon fast damit abgefunden, noch viele Jahre lang von ihren Heimatorten im Vogelsbergkreis ins Rhein-Main-Gebiet zu pendeln. Mindestens anderthalb Stunden dauert eine Fahrt.
Christian Wolf erinnert sich mit Grauen an den täglichen Stress auf der A5: "Die Leute stellen auch fest, man ist selber entspannter geworden. Dass diese Knechtschaft des Pendels weggefallen ist. Das ist schon Gold wert. Und das kann man nicht so einfach bezahlen."
Und Bohn ergänzt: "Das ist ja so, dass das für die Kinder einfach eine Zukunft bildet. Dass die einfach auch wissen, hier haben sie auch einen Ausbildungsplatz. Hier können sie auch was werden und was machen."
Die Finanzbeamtin lebt in einem Dorf bei Lauterbach. Sie freut sich schon darauf, in Zukunft mit ihrem E-Bike in das schicke, neue Dienstgebäude zu fahren, in dem es auch Duschen geben wird. Früher musste sie mit dem Zug schon mal rund vier Stunden täglich hin- und zurück zu ihrem Arbeitsplatz im Rhein-Main-Gebiet pendeln.
Jobchance für die Jugend auf dem Land
Aber nicht nur den "alten Hasen" bringt die neue hessische Zentralstelle für Grunderwerbssteuer in der Provinz Vorteile, sondern auch dem Nachwuchs. Das Amt bietet künftig mehr Jugendlichen aus der strukturschwachen Region die Chance hierzubleiben.
"Wir haben bereits in 2019 insgesamt 17 jungen Menschen einen Ausbildungsplatz gegeben", sagt Dienststellenleiter Martin Leinweber. "Wir bilden aus sowohl in einem dualen Studium als auch in einer dualen Ausbildung. Und für das kommende Jahr werden wir 21 jungen Menschen einen Ausbildungsplatz geben. Das Einstellungsverfahren ist nahezu abgeschlossen.
Im August beginne ein neues Einstellungsverfahren, ergänzt Leinweber: "Und wenn jedes Jahr 20 Ausbildungsplätze hier geschaffen werden, denke ich mir, ist das schon mal ein Ausrufungszeichen."
Ballungsräume entlasten
Lauterbach ist erst der Anfang: Insgesamt 3000 Arbeitsplätze will die Landesregierung in den nächsten Jahren aus den Ballungsräumen in ländliche Regionen verlagern.
Der hessische CDU-Finanzminister Thomas Schäfer sagt, warum: "Das hat einen doppelten Effekt. Wir sehen zunehmend, dass wir in den Ballungsräumen bei kleiner werdenden Schulabgänger-Jahrgängen im Wettbewerb um die besten Kräfte nicht mehr nur die guten Chancen haben. In den ländlichen Regionen ist das noch etwas anderes. Wenn man da eine Chance hat, gerade wie die Finanzverwaltung, ein berufsbegleitendes Studium mit einem Bachelor-Abschluss bieten zu können, mit der Garantie, in der Heimat dann auch eingesetzt zu werden, dann haben wir sehr, sehr gute Bewerberinnen und Bewerber."
Der zweite Effekt, so Thomas Schäfer, sei die Stärkung des ländlichen Raums. Es gehe darum, ein Zeichen zu setzen, dass eben auch in diesen Regionen Entwicklung stattfindet: "Auch Dinge, die in der Vergangenheit zentralisiert worden sind, in den großen Städten, dass die sich jetzt genau in die andere Richtung bewegen. Wir haben vor wenigen Tagen das Richtfest erlebt eines neuen Finanzamts in Lauterbach im Vogelsberg, wo künftig sämtliche Grunderwerbsteuervorgänge aus ganz Hessen bearbeitet werden. Über hundert zusätzliche Arbeitsplätze, das ist in dieser Region ein deutliches Wort."
Mittagspause auf der Terrasse
Das Richtfest ist vorbei, jetzt werden große Glasplatten an der Fassade des neuen Amtsgebäudes angebracht. Behördenleiter Martin Leinweber erklärt mit Stolz die Baustelle: "Hier sehen Sie im Carrée gebaut das neue Finanzamt. Auf der rechten Seite wird der Zugang für die Steuerpflichtigen sein, da wird auch das Bürgerbüro und die Finanzservicestelle untergebracht sein. Und dann werden dei verschiednen Arbeitsbereiche, insbesondere die hessische Zentralstelle für Grunderwerbssteuer hier einziehen. Und hier vorne sehen Sie unsere neue Kantine. Da wird dann ein Austritt sein. So dass man auch auf der Terrasse seine Mittagspause machen kann, wenn die Sonne scheint im Sommer. Ja, und wir freuen uns alle darauf."
Christian Wolf und Sandra Bohn sind mit auf die Baustelle gekommen. Das künftige neue Verwaltungsgebäude zaubert ihnen selbst bei Temperauren knapp über null Grad und Wind ein Lächeln ins Gesicht: "Ja, es ist auf jeden Fall schön, wenn man das so sieht", sagt Sandra Bohn. "Alles neu und direkt vor der Haustür. Sehr schön!"
Christian Wolf stimmt ein: "Ja, auf jeden Fall. Es ist was bewegt worden. Und man sieht tagtäglich, wenn man hier spazieren geht, wie es sich weiterentwickelt und wir sind gespannt."
Pendel-Stress ist vorbei
Seit die beiden den täglichen Pendel-Stress hinter sich gelassen haben, bleibt auch viel mehr Zeit für ehrenamtliches Engagement in den Heimatorten. Für Vereinsarbeit oder Politik im Ortsbeirat wie bei Sandra Bohn.
Sie hofft, dass sich auch der Stadtkern von Lauterbach wieder belebt, wo einige Ladenlokale leer stehen und auch manche Fachwerk- oder Holzschindelfassade dringend mal gestrichen werden müsste: "Was sich in Lauterbach noch verändern müsste? Ja, es müssten sich noch mehr Geschäfte hier ansiedeln. Es müsste wieder interessanter werden."
Vielleicht gelinge das dadurch, dass wieder mehr Leute hier her kommen, meint Bohn. "Dass man vielleicht auch mal wieder besser Shoppen gehen kann. Dass einfach ein bisschen mehr Leben wieder in die Stadt kommt."
Studium in Rotenburg an der Fulda
Hessens Finanzminister Thomas Schäfer betont, dass seine Behörde auch ein duales Studium auf dem Land anbietet: im Studienzentrum der Finanzverwaltung und Justiz in Rotenburg an der Fulda.
Aus dem Vogelsbergkreis ist das gut erreichbar: "Viele stehen ja vor der Frage, gerade in den ländlichen Regionen: Ich hätte gerne eine akademische Ausbildung. Wenn ich das haben will, muss ich im Zweifel weggehen: Der nächste Studienstandort ist halt etliche Kilometer weg", sagt der Minister.
Die Erfahrungen zeige, dass man dann am Studienort oft Partnerin oder Partner kennenlerne, sagt Schäfer. "Und dann ist der Weg zurück häufig steiniger und manchmal findet er auch gar nicht mehr statt."
Deswegen verfolgt Hessen die Strategie, immer mehr Fachhochschulen zu dezentralisieren und auch in etwas abgelegenen Kleinstädten akademische Bildungswege zu eröffnen.
Dezentrale Fachhochschulen
Das gilt nicht nur für Verwaltungslaufbahnen, sondern etwa auch für Ingenieurs-Berufe. Beim Nachwuchs für die Finanzämter sieht Finanzminister Thomas Schäfer nach Jahren geringer Nachfrage unter Jugendlichen Licht am Horizont durch die Ausbildungs- und Studienchance im ländlichen Raum.
Die eigene Hochschule in Rotenburg an der Fulda sei im Moment "pickepackevoll", sagt Schäfer. "Wir haben sonst so Jahrgangsbreiten von 300 gehabt. Wir haben jetzt 700 Leute, die da pro Jahrgang ausbildet werden. Für den mittleren, aber mit einem Studium dann auch für den gehobenen Dienst. Wir haben ein ehemaliges Krankenhaus angemietet, das jetzt zusätzlicher Campus ist für die Hochschule. Da ist richtig was los."
Auch die Finanzbeamten Sandra Bohn und Christian Wolf kommen immer mal wieder zu Weiterbildungen auf diesen Campus.
Beide sind sich sicher, dass die Dezentralisierung der Landesverwaltung auch viele Verwandte oder Freundinnen davon überzeugt, dass es auf dem Land doch eine Zukunft gibt.
Lebensqualität auf dem Land
Wenn es hier Arbeit gibt, empfinden sie ihr Lauterbach auf dem alten Vulkan gar nicht mehr als abgelegen.
"Man lebt im Grünen und ist trotzdem zentral", sagt Christian Wolf: "Alsfeld direkt an der A 5, es geht nach Nord und Süd. Und Fulda auf der anderen Seite. Man ist nicht weg vom Schuss."
Sandra Bohn ergänzt: "Man kann auch mal mit dem Fahrrad fahren, es ist einfach eine tolle Gegend. Und die kleine Stadt hier, die lädt auch mal ein, ein Eis zu essen. Also – es hat ja durchaus auch seinen Charme".