Gelebte Vielfalt sichtbar machen
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Jüdisches Leben in Deutschland wird immer noch viel zu oft in Klischees dargestellt. Das gilt auch für Schulbücher – und das muss und wird sich ändern, sagt der Historiker und Verleger Ilas Körner-Wellershaus vom Verband Bildungsmedien.
Kirsten Dietrich: Immer noch sind Schulbücher ein wichtiges Medium, mit dem Bildungsinhalte zu Schülerinnen und Schülern kommen. Bei manchen Themen merkt man besonders, dass das eine sehr herausfordernde Aufgabe ist: wenig Zeit und Raum zur Verfügung zu haben, gleichzeitig aber große, vielfältige Themen und Epochen abbilden zu müssen – beim Thema Judentum und jüdische Geschichte zum Beispiel.
Da gab und gibt es immer wieder die Beschwerde, beim Thema "jüdisches Leben in Deutschland" gehe es eigentlich vor allem um Nationalsozialismus und Holocaust, also um jüdisches Leiden. Der Vielfalt jüdischen Lebens wird das nicht gerecht. Das soll anders werden. Und das sei auch schon anders, sagt zum Beispiel der Verband Bildungsmedien, ein Zusammenschluss von Schulbuchverlagen, deren Programmverantwortliche über grundsätzliche Bildungsfragen nachdenken. Vorsitzender des Verbands ist Ilas Körner-Wellershaus. Er ist Historiker und Verlagsleiter beim Ernst-Klett-Verlag.
Nicht reduzieren auf die Katastrophe
Herr Körner-Wellershaus, jüdische Menschen tauchen im Unterricht in Deutschland vor allem – vielleicht sogar ausschließlich – als Verfolgte, als Opfer und Tote auf. Was an diesem Vorwurf ist berechtigt?
Ilas Körner-Wellershaus: Natürlich spielen Holocaust und Schoah eine ganz gravierende Rolle im Staatsverständnis, im bildungspolitischen Kontext, im historischen Kontext, im Lebenskontext auch, und das Gedenken an Holocaust und Schoah spielt in Lehrplänen, Schulbüchern, in unserer Gesellschaft eine große Rolle.
Aber es ist natürlich wichtig, dass wir jüdisches Leben nicht auf diese wirklich katastrophale Phase der deutschen Geschichte reduzieren, sondern jüdisches Leben als etwas darstellen, was Bestandteil der deutschen Geschichte ist, so wie es auch Bestandteil der Geschichte anderer Staaten ist.
In diesem Sinne haben wir seit vielen Jahren eine sehr wichtige Debatte auch in Deutschland und auch in der Bildungspolitik, in der Entwicklung von Lehrplänen, in der Ausarbeitung und Konzipierung von Bildungsmedien, von Schulbüchern – gedruckt oder digital –, in der es darum geht, wie wir eigentlich jüdisches Leben und Glauben an junge Menschen vermitteln und auch darstellen.
Tragende Rolle in Kultur und Gesellschaft
Dietrich: Dann schauen wir doch mal, was sich da konkret verändert hat. In Nordrhein-Westfalen zum Beispiel gibt es einen neuen Lehrplan, der genau diesen Ansprüchen gerecht werden soll. Was ist da anders geworden?
Körner-Wellershaus: Nehmen wir mal das Thema Geschichte an dieser Stelle. Dann geht es darum, dass wir zeigen und darstellen, dass deutsche Juden in der Gesellschaft tief integriert gewesen sind und eine tragende Rolle in der deutschen Gesellschaft vor dem Nationalsozialismus und auch wieder danach spielen; zum Beispiel im 19. Jahrhundert – oder, wie es historisch heißt, das lange 19. Jahrhundert – das ganze Thema der Judenemanzipation, die jüdischen Beiträge zur Kultur aufzuzeigen: die Familie Mendelssohn Bartholdy, aber auch andere Denker, die tiefe Integration von Juden in der Gesellschaft.
Deshalb geht es darum, in den einzelnen Kapiteln der Bildungsmedien genau solche Ansätze darzustellen – und das nicht wieder als Sonderseiten, sondern einfach integriert in die ganz normale Darstellung von historischer Entwicklung.
In Uniformjacke beim Schabbat
Dietrich: Füllt das dann einfach nur Leerstellen in bestehenden Schulbüchern, also fügt man da einfach was ein, oder muss man dafür die Darstellung, zum Beispiel in Geschichtsbüchern, grundlegend umarbeiten?
Körner-Wellershaus: Man arbeitet um, auf jeden Fall, weil man den Kontext anders darstellt. Der Platz in Schulbüchern ist begrenzt, und insofern ändert sich die Konzeption eines Kapitels. Wir stellen dann zum Beispiel ein Gemälde dar, in dem Kriegsteilnehmer des Ersten Weltkriegs oder eine Familie beim Schabbat gezeigt werden. Und einer der Männer dort sitzt in einer Uniform der damaligen Zeit.
So machen wir klar: So ist das Leben und so haben Menschen, jüdische Menschen in Deutschland ganz normal in der Gesellschaft ihre Aufgaben erfüllt, so wie die Menschen anderer Konfessionen und Glaubensrichtungen auch.
Dietrich: Und es ist eben nicht ein Bild aus dem Schtetl in Osteuropa.
Körner-Wellershaus: Genau, sondern eine bürgerliche deutsche Familie.
Dietrich: Haben Lehrkräfte auf solches Material gewartet?
Körner-Wellershaus: Manche Lehrkräfte haben darauf gewartet, nämlich diejenigen, die schon immer engagiert in Dialogen im Interesse mit jüdischem Leben und jüdischer Geschichte stehen. Für andere Lehrkräfte ist es wichtig, das zu sehen, weil es ihnen vielleicht selbst nicht so klar ist.
Handreichungen für Lehrkräfte
Insofern, denke ich, führt die Diskussion, die wir seit einigen Jahren haben und in der sich auch der Zentralrat der Juden immer wieder sehr zu Recht zu Gehör bringt, zu gewissen Veränderungen, hoffentlich, und wird auch weitergehen.
Aber gleichzeitig ist es eben auch etwas, bei dem Lehrkräfte in der Aus- und Weiterbildung oder eben auch durch Bildungsmedien von den Verlagen durch andere Quellen auf solche Aspekte aufmerksam gemacht werden und entdecken und sehen, dass Juden und Jüdinnen auch nach 1945 in der Bundesrepublik Deutschland aktiv eben auch mitgewirkt haben und dass das einfach ein Gang der Gesellschaft auch ist, der sich in den letzten Jahren auch durch Juden und Jüdinnen, die aus Russland nach Deutschland gekommen sind, sehr auch ausgeweitet und intensiviert hat und auch wieder zu einem großen und breiten jüdischen Leben geführt hat in Deutschland.
Expertise für die Redaktionen
Dietrich: Sie haben eben schon das Stichwort Zentralrat der Juden genannt, mit dem arbeiten Sie auch noch bei einem anderen Thema zusammen. Wir haben ja jetzt gerade vor allem über Geschichtsbücher geredet, über Geschichtsunterricht – Sie arbeiten aber mit dem Zentralrat auch zusammen beim Thema Religionsunterricht und beim Blick auf Religions- und Ethikbücher, weil auch da ja stark mit Klischees gearbeitet wird oder besser gesagt – hoffentlich – wurde.
Körner-Wellershaus: Ja, das ist, finde ich, ein ganz wichtiger Punkt. Herr Schuster hatte – zwei Jahre ist es ungefähr her …
Dietrich: Josef Schuster, der Vorsitzende des Zentralrats der Juden in Deutschland.
Körner-Wellershaus: Genau – Herr Schuster hat sich vor zwei Jahren in der Debatte zu Wort gemeldet und gesagt, dass viele Schulbücher eben Klischees über jüdisches Leben und jüdischen Glauben transportieren. Das war der Anlass für uns seitens des Verbandes Bildungsmedien, auf Herrn Schuster zuzugehen und zu sagen: Lassen Sie uns das Gespräch dazu suchen, damit wir gemeinsam einen Weg finden, um das zu verbessern.
Und so ist es zu einer Kooperation zwischen dem Zentralrat der Juden und dem Verband Bildungsmedien beziehungsweise Verlagen des Verbandes Bildungsmedien gekommen. Dabei haben wir Workshops in den einzelnen Verlagen veranstaltet, sodass die Fachredaktion "Religion und Ethik" mit einer Bildungsreferentin des Zentralrats der Juden in ein zwei-, dreistündigen Austausch eingestiegen ist, in dem es genau um die Medien dieses Verlages ging und die Frage: Was daran kann wie verbessert werden?
Und daraus sind sehr gute Arbeitsbeziehungen entstanden, sodass einige Manuskripte jetzt im Vorfeld ausgetauscht werden und Expertise eingeholt wird. So bearbeiten wir das Desiderat, dass von außen verbessert wird, was dargestellt wird mit Stereotypen, Klischees oder auch hier und da vielleicht strukturellem Antisemitismus, und anders dargestellt wird. Das ist eine sehr gute und sehr fruchtbare Zusammenarbeit geworden, über die wir sehr froh sind.
Akzent auf dem gelebten Alltag
Dietrich: Ich könnte mir vorstellen, dass die Arbeit gerade beim Thema der religiösen Dimension des Judentums auch deswegen schwierig ist, weil die Bilder, die für antisemitische Karikaturen und Klischees verwendet werden, ja bevorzugt aus dem orthodoxen Spektrum genau des religiösen Judentums stammen.
Körner-Wellershaus: Und genau das ist eben das Thema. Ich glaube, manchmal hilft es einfach – und das war auch Bestandteil des Workshops –, sich klarzumachen: Wenn es ums Christentum ginge, wie möchte ich denn eigentlich, dass das Christentum dargestellt wird? Möchte ich eine militante Form des Christentums, Thema Inquisition, oder möchte ich eigentlich die offene Seite und den Alltag dargestellt haben?
Darum haben wir diese Workshops, wenn es irgendwie ging, auch in den Gemeindezentren der jüdischen Gemeinde vor Ort stattfinden lassen, um eben zu zeigen, dass es ganz normal um ein Gemeindeleben geht. Genau dieses wird dann eben auch dargestellt in seinem Alltag: über die Feste, Familienfeste, das Miteinander in der Gemeinde, auch Aufgaben der Gemeinde, die dann ja gar nicht so weit unterschiedlich sind von anderen Gemeinden, was Kinderbetreuung oder Altenbetreuung anbelangt.
Vor allem legen wir den Akzent auf die jüdischen Feste und stellen das so dar, dass es eben sichtbar wird als ein Bestandteil jüdischen Lebens in Deutschland von ganz normalen Familien, die hier leben und ihre Feste feiern, so wie andere auch.
Ohne die Brille christlicher Standards
Dietrich: Besteht da nicht aber doch die Gefahr, dass man da in genau dem guten Bemühen die ja eben doch auch bestehende Andersartigkeit jüdischer Religion im Vergleich zum Beispiel zur christlichen Mehrheitsreligion verwässert?
Körner-Wellershaus: Das ist jetzt die Frage, und das ist auch eine Frage von Lehrplänen, ob das jüdische Leben immer durch die Brille christlichen Lebens dargestellt wird. So nach dem Motto: Wir teilen ja Thora, Altes Testament, bestimmte Grundformen von Religion miteinander. Oder – das finde ich, ist wichtig – versuchen wir, jüdisches Leben und jüdischen Glauben aus sich heraus in Deutschland darzustellen?
Ich denke, das tun eben auch Religionsbücher, die in den letzten zwei Jahren entstanden sind. Die zeigen eben – ich hab hier so ein Beispiel vor mir liegen –, wie eben eine jüdische Familie in Deutschland Schabbat feiert. Und das wird dann nicht wieder gleich gegengeblendet in irgendwelchen Bezügen zu christlichen Festen oder dem christlichen Sonntag.
Ich denke, auf diese Weise kann es eigentlich sehr gut gelingen, jüdisches Leben so darzustellen und zu Wort und zu Bild kommen lassen, wie es sich aus sich selbst heraus eben gestaltet und wie Jüdinnen und Juden es auch in der ganzen Vielfalt jüdischen Lebens und jüdischen Glaubens in Deutschland leben.
Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Deutschlandfunk Kultur macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.