Barbara Peveling, Nikola Richter (Hrsg.): "Kinderkriegen – Reproduktion reloaded"
Nautilus, Hamburg 2021
352 Seiten, 25 Euro
Kinderkriegen und die neue Vielfalt der Elternschaft
21:24 Minuten
Wie ticken Familien jenseits der klassischen Kernfamilie? Zwei Bücher untersuchen Lebensmodelle, die die romantische Zweierbeziehung auf Lebenszeit hinter sich lassen - von der "postromantischen Elternschaft" bis zum "Kinderkriegen reloaded".
Kinderkriegen und Elternschaft – über Jahrhunderte war ziemlich klar, was das für die Beteiligten bedeutet. Heute gibt es völlig neue Möglichkeiten der Reproduktion, und das wirbelt auch die Rollen durcheinander. Andere Familienmodelle jenseits der klassischen Vater-Mutter-Kind-Gemeinschaft sind vorstellbar. Wie sie funktionieren, welche Vorteile und Nachteile sie haben können, das erforscht die Soziologin Christine Wimbauer in ihrem Buch "Co-Parenting und die Zukunft der Liebe – Über post-romantische Elternschaft". Ganz lebenspraktische Erfahrungsberichte rund ums Kinderkriegen aus Sicht von Müttern und Vätern haben Barbara Peveling und Nikola Richter in ihrem Band "Kinderkriegen – Reproduktion reloaded" versammelt.
"Offener über Leihmutterschaft sprechen"
Das Buch sei nötig, sagt Peveling, weil es zurzeit rasante Umbrüche gebe: "Es gibt ganz neue Familienformen. Es gibt ganz neue Arten der Reproduktion, in denen der Körper eine ganz neue Rolle spielt und die Medizin eine viel wichtigere Rolle."
Es gebe ein großes Spektrum an Themen und "eine große Herausforderung an unsere Gesellschaft". So habe sie recherchiert, dass es in Frankreich so viele eingefrorene Embryos gebe, "die nicht mehr abgeholt werden", wie die Stadt Aix-en-Provence Einwohner habe.
Auch Peveling selbst hat einen Embryo eingefroren. Sie sagt dazu: "Das ist eingefrorenes Leben!" Zugleich wirft sie Fragen auf: "Was passiert damit, wenn das nach einer gewissen Zeit nicht mehr aktuell ist, wenn man seine Zellen gar nicht mehr will oder braucht in seinem Leben? Sie sind trotzdem da. Werden sie vernichtet?"
Nikola Richter ergänzt, dass gerade Tabuthemen wie Abtreibung, Totgeburt, Leihmutterschaft offener angegangen und diskutiert werden müssten. "Wir sollten uns die Erfahrungen dieser Menschen anhören", meint die Mitherausgeberin, die Erfahrung von "Eltern, die dieses Wissen haben, weil sie das erlebt haben." Gerade weil die Vielfalt der Familien so zugenommen habe, gehe es in ihrem Band um die "Vielstimmigkeit von Elternschaft".
Als Herausgeberinnen hätten sie ganz bewusst auch viele männliche Autoren eingeladen, "damit wir miteinander ins Gespräch kommen, Männer und Frauen". Dabei gehe es um Fragen wie: "Was macht das Kinderkriegen mit uns, mit unseren Körpern, mit unseren Beziehungen, mit unseren Finanzen, mit unseren Freunden um uns herum?"
"Mehr als romantische Liebe zwischen zwei Menschen"
Die Soziologin Wimbauer, die zu Co-Parenting-Familien forscht, betont: Co-Parenting gebe es schon lange, etwa, wenn sich ein heterosexuelles Ehepaar habe scheiden lassen und dann Stiefeltern (oder "Bonuseltern") dazugekommen seien. In ihrer Forschung interessiere sie sich aber vor allem für geplante Co-Elternschaft, "wenn zwei Menschen oder mehr zusammen eine Familie gründen, die sich von Anfang an nicht romantisch lieben".
In der soziologischen Perspektive sei die Liebe nicht so sehr als individuelles Gefühl interessant, sondern als "gesellschaftliche Semantik", betont Wimbauer, "also als Kulturmuster und Leitbild, nach dem sich dann Gefühle bilden und ausgedrückt werden". In den vergangenen etwa 200 Jahren sei das Leitbild der romantischen Liebe aufgestiegen und heute das prägende Leitbild, "dass sich genau zwei Menschen lieben: ein Mann und eine Frau, höchstpersönlich und exklusiv, dauerhaft und bis ans Ende ihres Lebens".
Dabei gebe es viel mehr als diese eine romantische Liebe, meint Wimbauer. "Zum Beispiel können sich auch mehrere Menschen lieben, und es gibt auch die Eltern-Kind-Liebe, oder auch Liebe zur Natur, und Freundesliebe, oder eine nicht-exklusive Liebe."
Trotzdem erscheine es vielen Menschen so, als sei nur romantische Liebe die wahre und richtige Liebe. "Das schließt alle Menschen aus, die nicht so lieben. Die vielleicht drei Eltern sind." Aus diesem Grund interessiere sie sich als Wissenschaftlerin für die Liebe: "Um diese Ausschlüsse und dieses kulturelle Konstrukt herauszuarbeiten, ist es immer lohnenswert, sich mit der Liebe zu beschäftigen."
Pragmatischen Vorteile von vier Elternteilen
Post-romantische Elternschaft sei ein relativ neues Phänomen mit den pragmatischen Vorteilen einer Großfamilie: "Irgendjemand ist immer da, irgendjemand hat immer Zeit für das Kind", sagt Wimbauer. Die Kinder hätten auch mehr Rollenvorbilder und mehr Ansprechpartner.
Richter reagiert skeptisch: Es klinge so schön, dass dann immer jemand Zeit für das Kind habe, "aber wie würde man das lösen? Leben dann alle unter einem Dach? Muss das Kind von Ort zu Ort ziehen?"
Sie selbst, sagt dazu Peveling, sei als Kind in verschiedenen Familienformen aufgewachsen und habe als Erwachsene sehr viele Familienformen selber gelebt, "vom Alleinerziehendsein bis zur Großfamilie mit sechs Kindern." Deshalb können sie sich eigentlich alles vorstellen. "Bei mir ist alles willkommen."
Auch in Co-Parenting-Familien gebe es Probleme und Ungleichheiten, erklärte Wimbauer. Es sei kein Automatismus, dass sich hier ein emanzipatorisches Potenzial entfalte. Es ergebe sich nicht von alleine eine utopische, egalitäre Konstellation. "Das muss gut ausgehandelt werden zwischen den Eltern."
Christine Wimbauer: "Co-Parenting und die Zukunft der Liebe – Über post-romantische Elternschaft"
Transcript, Bielefeld 2021
298 Seiten, 29 Euro
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