Es sprachen: Bettina Kurth, Tonio Arango, Frank Arnold
Regie: Klaus-Michael Klingsporn
Ton: Hermann Leppich
Redaktion: Dorothea Westphal
Annäherung statt Abrechnung
29:44 Minuten
Autoren wie Christoph Meckel haben sich mit den Verstrickungen ihrer Väter im Nationalsozialismus auseinandergesetzt. Jetzt sucht eine andere Generation nach väterlichen Leitbildern und Denkweisen, die für sie prägend waren.
Meist ist es der Tod, der Autorinnen und Autoren dazu bringt, sich mit ihren Vorfahren auseinanderzusetzen. In neueren Romanen sind es vor allem Väter, denen sich die Nachgeborenen schreibend nähern.
"Der Protagonist weiß ja letztlich wenig darüber, wie sein Vater oder sein Großvater ihr eigenes Leben und ihr eigenes Vatersein gesehen haben", erzählt Bov Bjerg. "Ich hoffe, dass deutlich wird, dass es um Befreiung geht und dass der Protagonist sich befreien kann von dem vermeintlichen Schicksal."
Verstorbene Väter, abwesende Väter, Väter, denen sich Söhne oder Töchter schreibend nähern. Bov Bjerg und Nora Gantenbrink haben das in ihren jüngsten Büchern getan. Michael Kleeberg und Frank Witzel ebenso.
Leerstellen füllen
"Als ich mich viel mit meinem Vater beschäftigt habe, habe ich eigentlich erst festgestellt, wie großartig meine Mutter ist", sagt Nora Gantenbrink.
"Da geht es auch um diese Leerstellen, in die man etwas hineininterpretiert. Jemand, der nicht da ist, nach dem sehnt man sich dann, und der, der die ganze Zeit da ist, das schätzt man gar nicht so."
"Solange er da war, war das keine Option", meint Michael Kleeberg. "Sonst wäre da eine Präsenz des täglichen Lebens gewesen, was vielleicht dumm ist, weil ich ihn noch mehr hätte fragen können."
Und Frank Witzel ergänzt: "Ich habe den Nachlass gesichtet und war mit einer Anzahl von Dokumenten konfrontiert und habe überlegt, ob ich die bearbeite, weil ich mich ja ohnehin schon mehrfach mit Familien- oder BRD-Nachkriegsgeschichte beschäftigt habe."
Unheilvolle Vätertradition
Bov Bjerg, Jahrgang 1965, ist selbst dreifacher Vater. Sein Roman "Serpentinen", erzählt von einem depressiven Vater um die Fünfzig, der sich mit seinem Sohn auf eine Reise begibt. Er zeigt dem Jungen die Orte seiner Kindheit in der Schwäbischen Alb. Eine Reise mit ungewissem Ausgang. Denn der Ich-Erzähler steht in einer unheilvollen Tradition. Alle männlichen Vorfahren der Familie haben sich umgebracht.
Bjerg sagt: "Die ursprüngliche Absicht des Erzählers war tatsächlich, sich in diese verheerende Tradition zu stellen. Er fährt da hin mit seinem Sohn in der Absicht, sich selber und unter Umständen auch dem Jungen das Leben zu nehmen. Diese Absicht verändert sich im Laufe der Tage, die sie dort verbringen, er befasst sich in Gedanken ständig mit seiner eigenen Prägung, und am Ende geht es anders aus, als er es vermutlich vorhatte."
Die Depression, "der schwarze Gott", wie die Krankheit im Buch genannt wird, ist mächtig und unberechenbar. Der Ich-Erzähler trinkt dagegen an, wie es sein Vater getan hat. Dennoch ist Bov Bjergs Roman kein depressives Buch geworden, sondern im Ton überraschend leicht, pointiert, oft sarkastisch.
Der Ich-Erzähler will kein "Scheißvater" sein, wie er sagt. Sein Sohn, der sich für die Vergangenheit interessiert – den toten Großvater –, bringt den Protagonisten dazu, sich mit der eigenen Herkunft auseinanderzusetzen.
Ungeheuerlicher Verdrängungsapparat
Ende der 1970er-, Anfang der 1980er-Jahre gab es einen regelrechten Boom der sogenannten "Väterliteratur" in der Bundesrepublik. Nach aktionsreichen Jahren mit Revolten, Trips und Terror befand sich die 68er-Generation in einer Art Selbstfindungsphase. Der 2020 verstorbene Schriftsteller Christoph Meckel hat sein "Suchbild. Über meinen Vater" 1980 gewissermaßen auf dem Höhepunkt der damaligen Väterliteratur geschrieben. Darin beschreibt er seinen Vater als exemplarischen Fall: ein Schriftsteller im NS-Staat, befreundet mit Günter Eich und Peter Huchel, der sich mit den Verhältnissen arrangiert und als Wehrmachtsoffizier in den Zweiten Weltkrieg zieht.
Christoph Meckel hatte mit seinem Vaterbuch einen Nerv getroffen, gerade weil es keinen völlig verblendeten und verrohten Nazi zeigte, sondern einen Schöngeist, der sich in barbarischen Zeiten seine bürgerlichen Werte bewahrt zu haben glaubte.
"Dieses Bürgertum", erklärte Meckel in einem Interview mit dem Saarländischen Rundfunk, "ermöglichte vielleicht zum letzten Mal – jedenfalls was die Deutschen betrifft, ich hoffe es – einen ungeheuerlichen Verdrängungsapparat. Und da die Leute in diesem Verdrängungsapparat leben und feststecken und dieses Buch ihnen vielleicht eine kleine Ritze aufmacht, durch die sie erkennen können, dass da was nicht stimmt, das ist für die einen erschreckend und für die anderen befreiend."
Versöhnung mit dem Hippievater
Der Vater in Nora Gantenbrinks autobiografischem Roman "Dad" bricht aus der bürgerlichen Enge der Wirtschaftswunderjahre aus, in die er hineingeboren wurde. Er gehört der Generation an, die mit der unheilvollen Tradition bricht, von der Christoph Meckel sprach. Beim Literaturstudium in Frankfurt am Main hat er den rebellischen Geist von ‘68 tief eingeatmet. "Sex and Drugs and Rock`n`Roll" wurde zu seiner Lebensmaxime.
Nora Gantenbrink wurde 1986 im nordrhein-westfälischen Iserlohn geboren – im Eisenwald, wie es in ihrem Roman heißt. Der Hippievater ihrer Protagonistin Marlene schickt bunte Karten aus Thailand, Marokko und Indien. Er ist selten da, wenn sie ihn braucht. Die Eltern haben sich getrennt, als sie noch ein kleines Mädchen war.
Jahre nach dem Tod des Vaters, der an AIDS starb, macht sich die Tochter auf die Spurensuche, besucht alte Weggefährten ihres "Dads", reist an Orte, von denen er ihr erzählt hat, Orte mit exotischen Namen – Goa, Koh Samui, Marrakesch. Sie will Leerstellen füllen, die ihr Vater hinterlassen hat, Antworten finden, will wissen, wer er war, weil sie Prägungen spürt, die sie mit ihm verbinden. Auf ihrer Recherche begegnet sie Althippies und Kleinkriminellen, wird mit den Folgen des Sextourismus in Südostasien konfrontiert. Wohin sie auch kommt, nichts ist glamourös oder bewusstseinserweiternd. Eher im Gegenteil.
Im Gegensatz zu vielen früheren Vaterbüchern ist Nora Gantenbrinks Roman kein wütendes Buch geworden. Man spürt vielmehr den Wunsch nach Versöhnung.
Nora Gantenbrink sagt dazu: "Es gab bestimmt auch Phasen, wenn ich da ein Buch geschrieben hätte, dann wäre es deutlich wütender ausgefallen. Ich bin aber froh, dass ich kein Wutbuch geschrieben habe."
Wirtschaftswunder und sozialer Aufstieg
Die Geschichte von Michael Kleebergs Vater ist eine der vielen bundesrepublikanischen Aufstiegsgeschichten. Aufgewachsen in den 1930er-Jahren mit prügelndem Alkoholikervater und überforderter, bald alleinerziehender Mutter, arbeitete Kleebergs Vater sich hoch zum Abteilungsleiter, gründete eine Familie, kaufte immer bessere Autos, eine Eigentumswohnung, ein Haus in Hamburg. "Glücksritter" heißt Michael Kleebergs Buch über einen Mann, der sich jedoch keineswegs allein auf sein Glück verlassen konnte. Immer wieder gab es Rückschläge, Pleiten, Kündigungen. Noch im hohen Alter fiel er auf einen Trickbetrug herein, von dem Michael Kleeberg nur durch Zufall erfuhr.
Während Nora Gantenbrinks Vater als Nachkriegskind bürgerliche Wertvorstellungen und Leistungsmerkmale in Bausch und Bogen von sich wies, dienten sie dem in der NS-Zeit unter geradezu asozialen Verhältnissen aufgewachsenen Vater von Michael Kleeberg zur Orientierung. Geld wurde in den Wirtschaftswunderjahren zum alleinigen Wertmaßstab.
Der 1959 geborene Michael Kleeberg reflektiert in seinem Buch, das er "Recherche über meinen Vater" nennt, die Biografie eines Menschen, der nach Kriegsende die Vergangenheit hinter sich lassen wollte, aber keine Chance hatte, ihr zu entkommen. Die Denk- und Verhaltensmuster seiner Kindheit haben sich tief in sein Bewusstsein eingeschrieben.
Verpasste Karriere und Konformismus
Frank Witzel, Jahrgang 1955, vergleicht den Schreibprozess mit einer Suchbewegung. Sein Roman "Inniger Schiffbruch" ist das Ergebnis einer Auseinandersetzung mit dem Nachlass seiner Eltern nach dem Tod seines Vaters, vor allem mit dessen Tagebüchern, von deren Existenz er gar nichts wusste.
Frank Witzel erzählt: "Ich habe eben gemerkt, dass ich, wenn ich mich immer mehr in diese Dokumente reinbegebe, in eine Sackgasse komme. Der Stoff, den ich fassen will, entzieht sich mir eigentlich, und den Zugang, den ich wirklich finden kann im Erzählen, das ist dann doch das Romanhafte."
Mit literarischen Bezügen, u.a. zu Thomas Bernhard, strukturiert er das biografische Material, unterstützt er den Erinnerungsprozess. Sein Vater, der nach dem Krieg Komponist und Pianist werden will, entscheidet sich für die sicherere Existenz als Kirchenorganist, Chorleiter und Musiklehrer. Die verpasste Künstlerkarriere bleibt ein Stachel, der sich immer wieder bemerkbar macht, während sich sein Sohn in den 1960er-Jahren die Harre wachsen lässt und Popmusik für sich entdeckt.
In seinem Buch erinnert sich Witzel auch an drastische Erziehungsmaßnahmen. Schläge und Ohrfeigen waren in jenen Jahren zwar üblich, wollten aber zu dem sonst eher feingeistigen Vater nicht so recht passen. Ein Indiz für eine generelle Überforderung, meint Witzel, die mit dem sozialen Aufstieg des Vaters zusammenhängt: "Er hatte immer Angst, wenn sein Sohn, also ich, jetzt irgendwas gemacht hat, was jetzt nicht ganz konform ging mit dem, wie sich das gesellschaftlich gehört, Haare wachsen lassen, zu rauchen, was auch immer - Angst vor einem Abstieg, der dann auf ihn zurückfällt und vielleicht dann auch seine Biografie nochmal deutlich anders zeigt."
Die Zeit des Aufstiegs - und des Ausstiegs
Anders als in der Väterliteratur der siebziger und achtziger Jahre sind die heutigen Bücher über Väter keine Abrechnungen, sondern Annäherungen. Es geht um Prägungen, die noch immer häufig bis in die Zeit des Nationalsozialismus zurückreichen. Parallelen werden deutlich: Vaterbilder, Vaterrollen, die von Krieg und Nachkriegszeit geprägt wurden, von Wirtschaftswachstum und Wohlstand, egal ob sie mit gesellschaftlichem Aufstieg oder Ausstieg aus der Gesellschaft verbunden sind.
Michael Kleeberg sagt: "Ich habe festgestellt, dass viele Leute gesagt haben: 'Ja, erinnert mich an meine Familie'. Seien es die Konflikte, sei es der Zeitgeist, sei es dies, sei es jenes."
(DW)