Momentaufnahmen der AIDS-Krise in den 80ern
1978 gab es den ersten dokumentierten Fall der Krankheit, die man ab 1981 AIDS nannte. Anfangs war das Thema HIV-Infektion sehr präsent, dann verschwand es weitgehend. Nun kehrt es medial zurück - auch auf dem Buchmarkt. Doch es bleibt noch immer eine Lücke.
"Das Ende von AIDS haben sich die Vereinten Nationen fürs Jahr 2030 auf die Fahnen geschrieben, in Deutschland soll das Ziel schon 2020 erreicht sein. Bis dahin soll die Krankheit bei niemandem mehr ausbrechen. In Deutschland wird derzeit noch bei etwa tausend [HIV-positiven] Patienten jährlich das Vollbild diagnostiziert."
Ein wichtiges Buch mit wuchtigem Titel: In "Die Kapsel. AIDS in der Bundesrepublik" will "taz"-Redakteur Martin Reichert 40 Jahre Krankheits-, Sozial-, Polit- und Kulturgeschichte bündeln, auf 270 knappen Seiten. Ein Buffet aus Fakten, Diskursen, offenen Fragen und persönlichen Anekdoten, das so viele Themen (und: Pioniere, Stimmen) streift, dass ich beim Lesen mehr Zeit bei Google und auf Wikipedia verbrachte als in Reicherts zugänglichem, doch oft kursorischem Text. Das viel zu kurze Suhrkamp-Buch zeigt mir vor allem, wie vage und oberflächlich mein eigenes Verständnis und Wissen sind.
Wie ausführlich und detailliert müssen Dokus und Sachbücher erzählen? Auch wunderbare Graphic Novels wie Judd Winnicks "Pedro and me" (2000; über den Aktivisten und MTV-Star Pedro Zamora) oder "Taking Turns" (2017; ein "Graphic Medicine"-Doku-Comic der lesbischen Hospizpflegerin und Künstlerin M.K. Czweriec) bleiben bei engen Einzel-Aspekten der AIDS-Krise wie der Jugendkultur der 90er oder Pflege und Hospiz - und sind didaktisch, zugänglich, sympathisch. Fehlt also immer noch ein großes Standard-, Grundsatzwerk über die Zeit ab etwa 1978, als erste AIDS-Fälle dokumentiert wurden, und die Zeit ab 1996, seit HIV via "Medikamentencocktail" meist gebändigt wird?
Nischen bieten Raum für mutige Produktionen
2017 erzählt David France in "How to survive a Plague" auf mehr als 600 holprigen Seiten, wie New Yorker Aktivistengruppen - z.B. Act up Ende der 80er - gegen selbstsüchtige Forscher, korrupte Pharmafirmen und die Gleichgültigkeit der Presse und des Präsidenten Ronald Reagan agitierten. Ein verquastes, maßloses, oft provinzielles Buch. Tausend (oft interessante) Details - aber ohne Gespür für Dramaturgie.
Hier stolpern auch Filme und Theaterstücke meist: Tony Kushners unvergesslicher Broadway-Zweiteiler "Angels in America" (1991) zeigt Stimmungen und Alpträume der New Yorker Community. Larry Kramers Lehrstück "The Normal Heart" (1985) prangert das Polit-Versagen an, zusammen mit einer fiktiven, eher seichten Liebesgeschichte. Ryan Murphys HBO-Verfilmung von 2013 vermittelt kompakt, stilsicher, packend alle Oberflächen der Ära: Wie wurde vor 35 Jahren in Manhattan gesprochen, getanzt, gestritten - gestorben?
Je mehr Sender und Portale im US-Serienmarkt auf Nischen und eigensinnigen Ton setzen, je mehr Produktionen nicht mehr allen und jedem vage gefallen, sondern lieber kleine, engere Zielgruppen komplett begeistern wollen – desto spezifischer, mutiger werden HIV und queerer Alltag erzählt. Zuletzt etwa in Ryan Murphys "Pose" von 2018. Mit Ikonografie, die oft aufs Fremde und Vergangene setzt. Mit Bildern, die zeigen: Das war eine ganz eigene Welt, zu einer ganz anderen Zeit.
Schmerzliches Fehlen eines deutschen Pendants
Um die AIDS-Krise zu verstehen, brauche ich mehr als solche Momentaufnahmen – die immer wieder unterstreichen: "Das ist lange her. Das ist weit weg." Das für mich stärkste, wichtigste AIDS-Sachbuch stammt von Randy Shilts: einem der ersten offen schwulen Journalisten im Dienst großer US-Zeitungen. "And the Band played on" erschien bereits 1987. Die deutsche Ausgabe, "Und das Leben geht weiter", ist seit 25 Jahren vergriffen. Shilts stellt zwei große Fragen: "Was geschah?" Und, sobald klar wird, dass eine Geschichte von AIDS vor allem eine Geschichte von Versäumnissen, vermeidbarem Leid, sozialer Kälte, Hass, Homophobie ist: "Wie konnte das geschehen?"
Zeitlicher Abstand hilft beim Analysieren. Trotzdem bleibt "And the Band played on", eines der frühesten und ältesten Bücher, eine Klasse für sich. Ein deutsches Pendant fehlt schmerzlich. Shilts selbst ließ sich während der Arbeit am Manuskript nicht auf HIV testen. Erst, als das Buch in Druck ging, sah er sich bereit, den eigenen Status zu erfragen. Er starb 1994, mit 43 Jahren, an AIDS.
(abr)