Neue deutsche Esskultur

Von Paul Stänner |
Die Deutschen sind Feinschmecker geworden. Derzeit gibt es hierzulande so viele Sterne-Restaurants wie nie zuvor. Die Geschichte dieses genussvollen Wandels weg vom fetten Braten und von dicken Soßen hat der Berliner Koch, Kulturhistoriker und Journalist Erwin Seitz unter dem Titel "Die Verfeinerung der Deutschen" aufgeschrieben.
"Als Kind und als Jugendlicher bin ich eigentlich nur um die Töpfe geschlichen, um zu schlecken. Die Oma hat dann ab und zu mal einen Brocken den Kindern in die Hand gegebenen, aber ich bin lange Zeit nicht angehalten worden, in der Küche mitzuhelfen. Ich bin eher schon darauf getrimmt worden, dass man in der Metzgerei mal mithilft, die Metzgerlehre stand zunächst im Vordergrund."

Das regelmäßige Joggen in der Berliner Hasenheide hat noch nicht figurprägend angeschlagen. Erwin Seitz, 54 Jahre alt, Literaturwissenschaftler und Kunsthistoriker, Journalist und Buchautor, Gourmet und Gourmand, sieht man die Lust am guten Essen an. Das verfeinerte Leben hat in Höhe seines Gürtels Spuren hinterlassen. Dabei ist ihm diese Leidenschaft für die Genüsse eigentlich nicht in die Wiege gelegt worden. Metzger sollte er werden, nicht Koch. Dafür war in den 60er-Jahren noch die zu erwartende Ehefrau zuständig. Die Eltern hatten in Franken eine Metzgerei und ein Landgasthaus.

"Bei uns zu Hause gab es dann immer so Bratengerichte, Schweinebraten, Kalbsbraten, Bratwürste natürlich auch. Aber es gab auch Kartoffelgerichte, Kartoffelauflauf und solche Dinge. So eine stark kartoffel- und fleischgeprägte Küche, würde ich sagen, ja."

Die typische deutsche Küche der 60er-Jahre also, noch im Ausläufer der Fresswelle nach dem Krieg. Zur Enttäuschung der Eltern übernimmt Erwin Seitz nicht die Metzgerei in Wolframs-Eschenbach.

"Nach der Metzgerlehre hat's mich von selber interessiert nicht gleich zu Hause zu bleiben, sondern in die Welt hinauszugehen, was zu lernen, was zu sehen. Und ich hab dann selber drauf gedrängt, Koch zu lernen."

Zunächst einmal in einem Hotel in Nürnberg -

" - und nach dieser Lehre war ich noch ein Jahr als ausgelernter Koch hier in Berlin im Kempinski."

Im Luxushotel Kempinski war Erwin Seitz in der hohen Gastronomie angekommen. Es hätte ihm eine aussichtsreiche Karriere als Koch offengestanden. Wenn er nur gewollt hätte - aber da war ein Hindernis.

"Es war immer schon als Kind ein Bildungshunger da, zu lesen, zu erfahren, was die Welt im Innersten zusammenhält. Und mich hat auch der Ort Wolframs-Eschenbach, in dem ich aufgewachsen bin - das ist ja ein Kleinod an mittelalterlicher Architektur, mit sehr kunstvoller Architektur -, immer auch inspiriert, ein Auge für die Kunst zu haben. Und dann ist der Wolfram von Eschenbach da!"

Wolfram von Eschenbach, vielleicht der bedeutendste Dichter des deutschen Mittelalters, schwebte wie ein Geist über Seitz' Geburtsort. Der 20-jährige Metzger und Koch hatte ihn seinerzeit noch nicht gelesen, stand aber in seinem Bann. Ihm war klar:

"Ich möchte eigentlich das machen, was in mir drängt. Da waren die Eltern nicht begeistert, aber sie haben dem zugestimmt und dann bin ich in die Welt hinausgegangen und bin nach Berlin gegangen, bin nach Oxford gegangen. Dieser Hunger nach Wissen, nach den Orchideenfächern, nach den schönen Dingen des Lebens, der war - ziemlich stark."

Seitz studierte Germanistik, Philosophie, Kunstgeschichte und promovierte über Goethes Autobiografie. Im Jahr 2011 kam sein bislang opulentestes Werk auf den Büchermarkt: "Die Verfeinerung der Deutschen".

"Das hat sich quasi ganz organisch aus meinem Arbeitsfeld heraus entwickelt - Metzger, Koch, Literatur, Germanistik, Philosophie, Kunstgeschichte, Gourmandise - das, dachte ich mir, das muss man zusammen verbinden."

Es wurde verbunden und so entstand ein Buch, in dem den konventionellen Stereotypen, nämlich die Deutschen seien unkultiviert, den Genüssen des Lebens nicht zugänglich, immer nur sturheil arbeitend, Paroli geboten wurde.

"Und es hat mich gereizt zu forschen, war das denn immer so, was ist daran was Tacitus sagt: 'Nördlich der Alpen wohnen die Barbaren' und die Deutschen verstehen nichts vom Essen und vom Trinken und sie sind doch relativ unkultiviert - ist dem denn wirklich so?"

Seitz schrieb ein wohlbeleibtes, pralles, süffiges Buch über die Bemühungen und die Erfolge der Deutschen beim dem Versuch, ihr Leben zu verfeinern. Die Niederlagen sind dabei zumeist der protestantischen Askese und dem preußischen Militärgeist geschuldet, aber sie haben nicht gesiegt. Dabei ist Seitz gar nicht der Meinung, man müsse für die Zubereitung der Genüsse einen gewaltigen Maschinenpark betreiben. Die Kochgelegenheit des Junggesellen ist so minimalistisch, als habe der gebürtige Franke den preußischen Geist allzu radikal verinnerlicht.

"Es reicht ein Herd, ein Kühlschrank, ein Schneidebrett, dann diese guten Zutaten, also diese gute Vorratskammer mit gutem Salz, guten Gewürzen, guten Ölen, guten Essigen und das frische Gemüse einkaufen auf dem Biomarkt einmal in der Woche."

Die Zutaten sind für Seitz das Wichtigste - er plädiert für eine naturnahe Küche, die darum bemüht ist, den Eigengeschmack der Produkte pur und in höchster Potenz herauszukitzeln. Der professionelle Restaurantkritiker ist ja auch gelernter Koch - hat er da nicht auch selbst wieder Lust, mit eigenen Ideen an den Herd zu gehen?

"Die Idee, dass man ein Lokal eröffnet und die Ideen verwirklicht, die man als Journalist entwickelt hat, die ist immer da. Aber ich vermute, am Ende ist dann die Lust zu schreiben und die Ideen zu entwickeln und übers Essen zu schreiben größer als das Kochen selbst."

Erwin Seitz: Die Verfeinerung der Deutschen. Eine andere Kulturgeschichte.
Insel Verlag, Berlin 2011
823 Seiten, 28 Euro


Programmtipp:
Der Kulturhistoriker, Gastronomiekritiker und Autor Erwin Seitz ist am Samstag, den 29. Dezember 2012, Gast in unserer Sendung "Im Gespräch". Ab 09:05 Uhr unternehmen wir mit ihm eine unterhaltsame und appetitanregende Reise durch die kulinarische Geschichte der Deutschen.