Neue deutsche und belgische Texte

Ein Besuch beim Stückemarkt in Heidelberg

Blick auf Heidelberg ( Rhein-Neckar-Kreis)
Blick auf Heidelberg © picture alliance / dpa / Foto: Daniel Karmann
Von Michael Laages |
Neue Stücke, junge Autoren, bekannte Namen, große Theater, experimentelle Theatermacher, Uraufführungen – das ist der Heidelberger Stückemarkt. Michael Laages war für uns dort.
In nächster Nachbarschaft ist (fast) alles ganz anders. Und Jean-Marie Piemme ist ein gutes Beispiel dafür. Aufgewachsen in der Wallonie, dem verarmten einstigen Industrie-Revier im frankophonen Süden Belgiens, ist Piemme in die Riege der produktivsten Dramatiker des Landes aufgestiegen – aber schon ab Aachen (und erst recht im Rest der Theaterrepublik Deutschland) kennt kein Mensch den Autor und die vielen Stücke, die er geschrieben hat. Auf dem Umweg über das Braunschweiger Festival "fast forward" (das junge Regie-Talente aus ganz Europa vorstellt und fördert) zeigte der junge Regisseur Antoine Laubin ein neues Stück des Landsmanns Piemme in Braunschweig; und die Ko-Produktion mit dem Stadttheater in Liege, also in Lüttich, hat gestern die kleine belgische Gastspiel-Reihe in Heidelberg eröffnet.
Auch Piemmes Kollege Tom Lanoye wurde schon in Deutschland gespielt – nach dem Shakespeare- und "Schlachten"-Marathon, den er Ende der 90er Jahre in Hamburg kreierte – mit dem Regisseur Luk Perceval. Damit ist vom Kern der Differenz zwischen hier und dort die Rede – weil es ein Stadt- und Staatstheater-System wie das deutsche in Belgien nicht gibt, weil nicht kontinuierlich staatliches Geld in die Theaterförderung fließt und die alle fünf Jahre neu beantragt werden muss, gibt’s auch keine dauerhafte Förderung und Pflege junger Autorinnen und Autoren. Genauer: Verlässliche Partner für junge Dramatik sind überwiegend freie Gruppen. Deren Regisseure sind allemal bekannter in Deutschland als die, die fürs Theater schreiben.

Vier belgische Talente mit neuen Texten

Wenn sich darum heute beim "Stückemarkt" vier belgische Talente mit neuen Texten auch dem Vergleich mit der deutschsprachigen Konkurrenz stellen, ist eine nachbarschaftliche Herausforderung der besonderen Art. Sechs deutsche Stücke waren im Wettbewerb, vier Dramatikerinnen und zwei Dramatiker traten an. Und ausgerechnet die Prominenteste, Anne Lepper, scheiterte spektakulär – weil ihr recht abstrakter "Entwurf für ein Totaltheater" - mit schrägen Geschichten um eine Frau auf Um- und Abwegen, Wurstbrote und einen Polizei-Chor - nicht so gelesen wurde, wie sie sich das wohl gewünscht hatte, blieb sie stumm im Gespräch danach; hat sich dafür aber immerhin entschuldigt.
Christiane Kalss startete auch mit einer schrillen Farce: "Die Erfindung der Sklaverei" lässt ein Dorf zum Arbeitslager mutieren, wo erst die zugezogenen Fremden und dann auch die Einheimischen ausgebeutet werden bis aufs Blut. Der Wahnsinn regiert – und das Stück gibt dem albernen Affen reichlich Zucker.
"Was machst Du da? /
Meerschweinchen! /
Das seh‘ ich ... /
Du denkst jetzt, das sind ganz normale Meerschweinchen – sind sie aber nicht! /
Nein? /
Nein, diese Meerschweinchen sind der Beginn von etwas ganz Großem: nämlich großen Meerschweinchen! /
Ach ... /
Ja. Früher, als es noch keine Menschen gab, waren die Meerschweinchen so groß, dass Menschen auf ihnen reiten konnten; wenn es schon Menschen gegeben hätte. Hat mir das Internet erzählt ..."

Szenarien vom Ende der Welt

Martina Clavadetscher überträgt für "Umständliche Rettung" den biblischen Mythos von Sodom, Gomorrha und Frau ein wenig zu spekulativ in die Gegenwart. Und auch Maria Milisavijevic beschwört eine Menge Mythen – für Szenarien vom Ende der Welt. Die ist in Kriegen zerfallen, und eine Art Gottseibeiuns hockt schon am Rand der Erde und entsorgt die Menschheit. Die aber entscheidet plötzlich, sich nicht entsorgen zu lassen – und dreht um:
"Sie lachen die Panzer aus, und die Leuchtreklamen, und die Neonschuhe, und Hollywood, und die Angst, und das Dröhnen ..."
"Beben" heißt das Stück, und die Autorin setzt ganz auf Utopie:
"Die Geschichte geht gut aus, weil sie hier gut ausgehen darf – und weil ich das entscheide!"
Eine Kandidatin für den Preis in Heidelberg, unbedingt – zwei junge Autoren kommen hinzu: Sergej Gößner, der in "Mongos" von zwei kranken Jungs und ihrer Freundschaft erzählt ...
"Ikarus im Rollstuhl. /
Francis an Krücken. /
Ikarus ist querschnittsgelähmt. /
Francis hat eine sehr aggressive Form von MS, Multipler Skleroise oder so was in der Art."
Und Stefan Hornbach, dessen Text "Über meine Leiche" auch zu den "Autorentheatertagen" nach Berlin kommt – vom Krebs und dem kämpferischen Umgang mit ihm, unterstützt von einer lebensmüden Freundin, handelt der Text.
"Das bin ich, Friedrich – um mich geht’s hier überwiegend. Und Sie – damit sind dann die Zuschauenden gemeint; und die sollen sich gemeint fühlen ... - geht das?"
Starker Tobak. Soweit voran ins Unbekannte traut sich junge Dramatik.