Neue Erkenntnisse aus der Hirnforschung
Spiritualität ist in der ältesten Hirnregion verankert, besagen aktuelle Studien. Ob es Gott gibt, bleibt aber eine Glaubensfrage, so Michael Blume. © Pexels / Pixabay / Mart Production
Sitzt Gott im Gehirn?
10:36 Minuten
Warum sind manche Menschen religiös und andere nicht? Ist Gott vielleicht nur ein Hirngespinst? Mit diesen Fragen beschäftigen sich Neurowissenschaftler schon lange. Ihre jüngste Entdeckung erklärt der Religionswissenschaftler Michael Blume.
Sandra Stalinski: Herr Blume, ist diese Entdeckung, die der Hirnforscher Michael Ferguson und sein Team da gemacht haben, wirklich der Durchbruch und die Antwort auf diese Fragen, nach der in der Hirnforschung schon so lange gesucht wird?
Michael Blume: Es ist ein weiterer Baustein, und so sehen sie es auch selbst. Natürlich wird das dann oft als eine Bestätigung gesehen, aber tatsächlich war man schon länger auf der Spur und hat verschiedene Gehirnareale entdeckt. Was jetzt den Kolleginnen und Kollegen gelungen ist, sie haben eine sehr alte Gehirnregion entdeckt, die mit Spiritualität verbunden ist. Das ist nicht komplett neu, aber ein Schritt nach vorne.
Spiritualität in ältester Gehirnregion verortet
Stalinski: Dann lassen Sie uns mal erklären, was genau die Forscher da herausgefunden haben und wie sie vorgegangen sind.
Blume: Es ist so, dass wir sowohl Religiosität, also den Glauben an höhere Wesen, wie auch Spiritualität, also die Erfahrung in der Meditation, in verschiedenen Gehirnregionen bearbeiten. Und da wusste man schon eine ganze Menge, vordere Gehirnbereiche, hintere Gehirnbereiche. Was jetzt mit zwei Studien neu entdeckt worden ist, älteren Läsions-Analysen, wo man geguckt hat, wo liegen Schäden im Gehirn vor und wie wirkt sich das aus, ist, dass wir auch eine Region im Hirnstamm haben.
Es ist also wirklich die älteste Region des Gehirns, aus der heraus es erst erwachsen ist, die direkt mit Spiritualität verbunden ist. Wenn Menschen dort Beschädigungen hatten, hat sich ihre Spiritualität merklich verändert. Je nachdem, welche Gehirnregion betroffen war, war sie verstärkt oder geschwächt. Das bedeutet, dass man jetzt einen weiteren Beleg dafür hat, dass auch Spiritualität biologische Grundlagen hat.
Wo auch Liebe und Altruismus stattfinden
Stalinski: Periaquäduktales Grau heißt diese Hirnregion, das habe ich gelernt, auch zentrales Höhlengrau genannt. Sie haben schon gesagt, das ist eine sehr alte Region im Gehirn. Wofür ist die denn sonst noch zuständig?
Blume: Da geht es tatsächlich um ganz basale Funktionen wie Liebe, Altruismus: Nehme ich nur mich selbst wahr oder nehme ich mich in Verbindung mit anderen wahr? Das kann man sich vorstellen, dass das natürlich schon lange vor jeder Sprachlichkeit entstanden ist. Wir alle kennen hoffentlich solche Momente, in denen wir nicht mehr ganz bei uns selbst sind, sondern zum Beispiel mit einer geliebten Person eine Einheit bilden. Dass das in so alten Gehirnregionen moduliert wird, wusste man, aber dass das sozusagen auch mit Spiritualität zusammenhängt, das ist jetzt natürlich schon eine tolle Sache.
Auch ein Terrorist benutzt diese Hirnareale
Stalinski: Haben wir dadurch jetzt auch einen Beleg dafür, dass religiöse Menschen per se altruistischer, vielleicht gütiger, angstfreier sind?
Blume: Nein. Das kann man ganz klar sagen. Es ist so: Wir können mit Religiosität und Spiritualität das Beste aus dem Menschen herausholen. Man kann damit tatsächlich zum Beispiel eine Auffassung entwickeln: Ich setze mich für andere ein, ich forsche, ich liebe, ich unterstütze. Aber zum Beispiel auch ein Terrorist, der sich einredet, er muss sich in die Luft sprengen, um seine Lieben zu verteidigen oder seinen Gott, aktiviert diese Gehirnareale.
Man würde heute sagen: Religiosität und Spiritualität haben ein enormes Potenzial, aber wie wir das einsetzen, dafür brauchen wir auch noch die Vernunft. Man kann mit diesen Fähigkeiten aus Menschen Heilige machen, aber man kann eben aus ihnen auch Extremisten machen. Deswegen muss man schon immer genau hingucken.
Religiöse Musikalität im Gehirn verankert
Stalinski: Man spricht ja in diesem Zusammenhang auch von religiöser Musikalität, ein Begriff, den Max Weber geprägt hat. Analog zur Musikalität geht man davon aus, dass manche Menschen empfänglich für religiöse Gefühle und Spiritualität sind und andere nicht. Ist das, was Ferguson und sein Team jetzt herausgefunden haben, ein Beweis dafür, dass einem religiöse Musikalität mitgegeben wird oder auch nicht?
Blume: Ja, es ist tatsächlich ein weiterer Beleg. Ich hatte diesen Ansatz von Weber auch schon damals in meiner Doktorarbeit verfolgt, weil, das ist ja spannend, er war ja sowohl Religionssoziologe als auch Musiksoziologe – und er hat da eine Verbindung gesehen, auch wenn er von religiösen Virtuosen sprach zum Beispiel. Und so würde man das heute tatsächlich sehen, das ist wie bei Musikalität.
Wie Musikgeschmack: Auch religiös ticken wir unterschiedlich
Wenn ich es als Kind einübe, aber nicht mit Zwang – sonst kann es auch ins Gegenteil umschlagen –, dann habe ich später unter Umständen eine höhere Chance, das dann auch als Erwachsener zu entwickeln. Und insofern ist es tatsächlich – was jetzt so ein bisschen bestätigt wird – ein Teil unserer biologischen Möglichkeiten.
Und keiner von uns ist völlig identisch. Wie manche von uns auf Jazz abgehen und andere auf Heavy Metal, so werden wir mit Menschen zu tun haben, die bei einer bestimmten Gebetsform gar nichts empfinden und bei einer anderen in Ekstase geraten. Oder bei einer Meditation funktioniert die eine Form gar nicht und die andere Form spricht sie tief an. Das spricht schon ein bisschen dafür, dass wir auch im religiösen und spirituellen Bereich unsere Individualität ernster nehmen müssen. Wir sind nun mal nicht alle exakt gleich, jeder von uns hat ein anderes Gehirn. Deswegen gibt es kein Angebot, das für alle in gleicher Weise geeignet ist.
Gibt es ein Gottes-Gen?
Stalinski: Jetzt haben Sie gesagt, wenn ich das als Kind einübe. Die Frage, die schon oft gestellt wurde in der Hirnforschung, ist ja: Gibt es so ein Gottes-Gen, also man hat es oder man hat es nicht, oder ist das etwas, was man erlernen kann, wenn man es nur lange genug übt?
Blume: Wir Menschen haben alle eine Veranlagung zu Sprachfähigkeit, zu Musikalität, zu Kreativität. Aber Veranlagung allein reicht ja noch nicht, wir müssen dann auch eine Sprache oder ein Musikinstrument oder eine Kunst erst lernen. Und genau so ist es mit Religiosität und Spiritualität auch. Man würde heute nicht mehr sagen, das ist Natur oder Kultur, sondern das ist ein bisschen von beidem. Und wenn man ein Kind hat und man möchte ihm das mitgeben, dann sollte das spielerisch stattfinden, freundlich, nicht mit Zwang.
Das ist so, wie wenn Sie ein Kind dazu zwingen, unbedingt Klaviervirtuose zu werden. Das kann gewaltig nach hinten losgehen. Es ist eben ein Teil unserer biologischen Ausstattung, was auch bedeutet, dass es nichts bringt, jemanden zu etwas zwingen zu wollen, was die Person vielleicht gar nicht anspricht. Von daher ist es Natur und Kultur, wir könnten es gar nicht lernen, wenn es nicht auch in unserer Biologie angelegt wäre. Und unsere Neurobiologie ist eben bei jedem Menschen auch ein Stück weit einzigartig.
Ob es Gott gibt, lässt sich im Labor nicht klären
Stalinski: Sie sind ja Religionswissenschaftler und beschäftigen sich als solcher mit ganz unterschiedlichen Religionen und auch Themen aus diesem Bereich. Sie haben aber Ihre Doktorarbeit über Neurotheologie geschrieben, also genau dieses Themenfeld, über das wir gerade sprechen. Können Sie uns das einmal erklären, was ist Neurotheologie?
Blume: Da war in der Anfangszeit seit den 1980er-Jahren, als das losging, eine große Euphorie in der Neurowissenschaft, wir können jetzt klären, ob es Gott gibt oder nicht. Das nannte man dann Neurotheologie. Inzwischen wird in den neueren Studien zum Beispiel von Neurospiritualität gesprochen.
Das finde ich schon deutlich besser, weil wir natürlich durch Hirnforschung, durch interdisziplinäre Forschung besser verstehen können, wie Religiosität und Spiritualität im Gehirn funktionieren und wie sie entstanden sind, aber ob da jetzt eine höchste Wahrheit dahinter ist, also ob wir sozusagen auf Gott zugehen durch unsere Gehirne oder ob das eben einfach nur eine nützliche Illusion ist, mit der wir erfolgreicher überleben und uns fortpflanzen, das bleibt eine Glaubensfrage.
Insofern habe ich darauf geguckt und war überrascht, wie viel wir über Neurowissenschaften herausfinden können. Aber ob es Gott gibt oder nicht, bleibt dann doch eine Glaubensfrage, da kommen die Labore einfach nicht ran, auch in Zukunft nicht.
Grundlagenforschung, die glücklich macht
Stalinski: Warum haben Sie denn dieses Thema gewählt?
Blume: Ich komme selbst aus einer nicht-religiösen Familie, bin mit einer Muslimin verheiratet, als junger Erwachsener Christ geworden, habe eigentlich den interreligiösen Dialog, den Dialog auch mit Juden, Jesiden und so weiter von früh auf erlebt. Mich hat interessiert, warum sind Menschen so unterschiedlich, was ist da los? Auf der einen Seite erkennen wir sofort, wenn Menschen in Indien einen Tempel besuchen, wir erkennen sofort, dass das Religion ist, aber auf der anderen Seite gibt es auch diese große Vielfalt.
Und da habe ich dann gemerkt, ein Feld, das noch kaum erforscht war, war eben der Zusammenhang mit Naturwissenschaft. Ich habe dann zum Beispiel auch eine Biografie über Charles Darwin geschrieben, der Theologie studiert hatte: Charles Darwin war studierter Theologe und der hat schon ziemlich coole Gedanken gehabt zum Thema Evolution von Religion. Das wurde dann halt nur über ein Jahrhundert lang vergessen. Jetzt endlich forscht man wieder gemeinsam daran. Das war eine tolle Sache, damit kriegt man zwar keinen Job, ich bin dann im politischen Bereich gelandet, aber diese Forschungen habe ich nie bereut. Das war wirklich Grundlagenforschung, die glücklich macht.
Gott wird im Gehirn erfahren
Stalinski: Aber die Frage, ob Gott nun im Gehirn sitzt und vielleicht auch nur da, also ob Gott vielleicht nur ein Hirngespinst ist, die haben Sie letztgültig in der Zeit nicht klären können?
Blume: Genau. Ich würde sagen, wir können heute sagen, dass Gott im Gehirn erfahren wird, dass die Leute entsprechende Erfahrungen machen. Die können wir aber immer noch so erklären, dass wir sagen, das ist eine nützliche Illusion, das wäre dann der evolutionäre Atheismus, wir sagen, das ist halt eine Täuschung, die sich quasi bewährt hat. Der Agnostizismus sagt, nein, wir können es nicht wissen, was dahintersteckt. Und der evolutionäre Theismus sagt, das zeigt doch – wie Teilhard de Chardin gesagt hat –, die ganze Evolution geht auf Gott zu und das ganze Universum strebt auf die Erkenntnis Gottes zu. Alle diese Deutungen sind möglich.
Deswegen würde ich tatsächlich sagen, bei einer Neurotheologie, die quasi über die Hirnforschung die Gottesfrage beantworten möchte, bin ich skeptisch. Aber ich bin sehr dafür – wie wir es ja gerade diskutiert haben –, dass wir besser verstehen, woher Spiritualität und Religiosität in unseren Gehirnen stammen. Vielleicht trägt das auch dazu bei, dass wir wechselseitig toleranter und verständnisvoller werden und verstehen, warum das dem einen Menschen total viel bedeutet und den anderen Menschen vielleicht nur stört, dass das beides sozusagen seine Berechtigung hat in der menschlichen Vielfalt.
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