Welche Spätfolgen können wie lange auftreten, welche Ursachen und Behandlungen gibt es? Wie stark sind Kinder und Jugendliche nun doch betroffen? Unser fortlaufend aktualisiertes Dossier "Long Covid" über die Langzeitfolgen von Covid-19 gibt einen Überblick.
Greift das Immunsystem den eigenen Körper an?
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Abgeschlagenheit, Luftnot, anhaltende Kopfschmerzen: Von solchen und ähnlichen Langzeitfolgen sprechen viele Covid-Genesene. Hinweise legen nun nahe, dass es sich bei Long-Covid um eine Autoimmunerkrankung handeln könnte.
Die Liste der Beschwerden bei Long-Covid ist lang: Thrombosen, Fieber, Luftnot, Herzmuskelentzündungen, Kopfschmerzen, Schwindel, Verlust des Geruchssinns, Taubheit in Gliedmaßen und Fingern, totale Erschöpfung – manchmal noch monatelang nach der akuten Covid-19-Erkrankung, wenn das Coronavirus im Körper längst nicht mehr nachweisbar ist.
Für Professorin Carmen Scheibenbogen, Leiterin der Immundefekt-Ambulanz der Charité Universitätsklinik in Berlin, ist klar: Long-Covid hat alle Anzeichen einer Autoimmunkrankheit.
"Man weiß, dass insbesondere bei Infektionen das Immunsystem stark aktiviert wird. Da kommt es manchmal auch zu Überreaktionen gegen körpereigene Strukturen – das ist erstmal nichts Ungewöhnliches. Solche Autoantikörper, die sich gegen körpereigene Strukturen richten, finden wir bei allen Menschen. Normalerweise werden die aber sehr schnell wieder abgeschaltet."
Manche Menschen haben allerdings ein besonders aktives Immunsystem, teils aus genetischen, teils aus umweltbedingten Gründen.
"Diese Menschen haben ein erhöhtes Risiko, dass sie solche Autoantikörper nicht wieder richtig unter Kontrolle bringen. Diese Antikörper werden dann fortgesetzt gebildet. Das kann auch zur Störung von Körperfunktionen oder zur Zerstörung von Zellen führen."
Zytokinstürme können Long-Covid nicht erklären
Schon zu Beginn der Pandemie konnten Forscherinnen und Forscher beobachten, wie das Immunsystem bei einigen Covid-19-Patienten überreagierte. Die Zahl bestimmter Signal-Eiweiße des Immunsystems – der Zytokine – stieg bei zu ihnen zu regelrechten "Zytokinstürmen" an.
Doch Zytokinstürme sind kurze Ereignisse und können die anhaltenden Schäden durch Long-Covid nicht erklären.
Im Mai dieses Jahres erschien im Fachmagazin "Nature" die Studie einer Forschungsgruppe unter Leitung von Professorin Akiko Iwasaki von der Yale Universität in den USA. Mit einer neuen Technik, die Autoantikörper mit einer bislang unerreichten Genauigkeit im Körper messen kann, untersuchte das Team Covid-Patienten der ersten Coronawelle.
"Als wir diese Technologie an Covid-Patienten angewandt haben, fanden wir ungewöhnlich hohe Mengen an Autoantikörpern", berichtet Aaron Ring, Immunbiologe und Assistenzprofessor in Yale. "Eines war sehr wichtig: Je schwerer die Patienten erkrankt waren, umso mehr Autoantikörper hatten sie in der Regel. Die Autoantikörper spiegelten also die Schwere der Erkrankung wider."
Ungewöhnlich hohe Mengen an Autoantikörpern
Die Covid-Erkrankten hatten sogar höhere Level an Autoantikörpern als Menschen mit der häufigen Autoimmunkrankheit Lupus. Noch etwas war überraschend:
"Eine Sache an unserer Studie war wirklich interessant und ist meines Erachtens sehr wichtig: Wir haben eine unglaublich breite Vielfalt an Autoantikörpern entdeckt, mit ganz verschiedenen funktionalen Effekten. Zum Beispiel fanden wir zahlreiche Autoantikörper gegen die Blutgefäße – und wir wissen, dass Probleme mit den Blutgefäßen bei Covid eine große Rolle spielen. Wir fanden auch Autoantikörper gegen Bestandteile des zentralen Nervensystems – und einige dieser Patienten hatten stärkere neurologische Beschwerden."
Sogar Autoantikörper, die sich gegen das Immunsystem selbst richten, konnten die Wissenschaftler und Wissenschaftlerinnen finden. Schon 2020 hatte ein Forschungsteam der Rockefeller Universität in New York in genesenen Covid-19-Patienten Autoantikörper gegen Typ-I-Interferone nachgewiesen, die der Körper fatalerweise für seine Immunantwort auf das neuartige Coronavirus braucht.
Autoantikörper gegen Immunzellen
Die Yale-Arbeitsgruppe weitete diesen Befund nun erheblich aus, erklärt Aaron Ring: "Die Patientinnen und Patienten hatten alle möglichen Arten von Autoantikörpern gegen andere immunregulatorische Schlüsselproteine, Zytokine genannt. Die haben eine Vielzahl von Funktionen in der Kontrolle des Immunsystems. Wir fanden sogar auch einige Reaktionen gegen die Oberfläche von Immunzellen."
Die Autoantikörper binden an T-Zellen, andere an B-Zellen – alles wichtige Player in der Abwehr von Infektionen. Da erstaunt es nicht, wenn der Körper schwer erkrankter Patientinnen und Patienten nicht in der Lage ist, das Coronavirus zu kontrollieren.
Jedoch bleibt vieles ungeklärt: Was genau richten die Autoantikörper im Körper an? Welche erprobten Medikamente gegen andere Autoimmunkrankheiten könnten auch bei Long-Covid helfen? Rund zehn Prozent der Covid-Erkrankten aus Carmen Scheibenbogens Klinikalltag haben auch nach sechs Monaten noch anhaltende Symptome – und zwar die Leicht-Erkrankten, die keine stationäre Behandlung brauchen.
"In den USA ist schon vor einigen Monaten über eine Millarde Dollar für die Erforschung von Long-Covid bereitgestellt worden. Für die Erforschung der Mechanismen von Long Covid und die Entwicklung von Medikamenten wurde jetzt auch in Deutschland Geld ausgeschrieben. Aber das wird sicher nicht reichen, um alle Aspekte auch so weit zu erforschen, dass darauf basierend Medikamente entwickelt werden können."
Forschung zu allen Autoimmunerkrankungen voranbringen
Der wichtigste Schutz gegen Long-Covid bleibt die Impfung, betont Carmen Scheibenbogen.
Gleichzeitig könnte die weltweite Pandemie mit ihren langwierigen Folgeproblemen aber auch helfen, mehr Licht in das Dunkel vieler anderer Autoimmunkrankheiten zu werfen, die ja oft ebenfalls nach einer Infektion entstehen.
"Hier bietet die Pandemie sogar eine Chance, weil wir jetzt gleichzeitig so viele Menschen haben, die zum selben Zeitpunkt an der derselben Infektion erkrankt sind. Das ist natürlich immer ein gewisser Vorteil, wenn man das in so einer großen Gruppe von Menschen erforschen kann, weil man dann sehr viel einheitlichere Ergebnisse erwarten kann."