Wie das Gehirn entscheidet
Bestimmte Experimente haben gezeigt, dass es vorbewusst angebahnte Entscheidungen gibt. Das gilt den Deterministen als Argument, es gebe keinen freien Willen. Doch ganz so einfach ist es nicht, wie neue Untersuchungen zeigen.
John-Dylan Haynes: "Man weiß generell, dass Menschen nicht gut darin sind, zu sagen, warum sie sich auf eine bestimmte Art und Weise entschieden haben. Wir handeln oft intuitiv, ganz oft können wir gar nicht die Gründe angeben, warum wir eine Entscheidung gefällt haben, und selbst wenn wir diese Gründe angeben, sind sie oft falsch, wie sich zeigt."
Wenn man in sich hinein schaut, erscheint der Prozess der Entscheidungsfindung nicht sonderlich rätselhaft. Man überlegt, wägt ab, berechnet die Tragweite seiner Entscheidung, schwächt sie ab, entscheidet um oder hält an der ursprünglichen Idee fest. Und dann handelt man.
An dieser Selbstverständlichkeit, mit der sich die Handlungsplanung und -ausführung in der Innenschau zeigt, hegte der US-amerikanische Hirnforscher Benjamin Libet in den Siebziger- und Achtziger-Jahren des letzten Jahrhunderts starke Zweifel.
"Geeignete Aktivitäten von Nervenzellen können gewiss den Inhalt oder sogar die Existenz des subjektiven Erlebens beeinflussen. "
... stellt Libet in seinem Buch "Mind Time" fest, um darauf zu fragen:
"Gilt auch das Umgekehrte? Können unsere bewussten Absichten wirklich die Aktivitäten der Nervenzellen beim Vollzug eines freien Willensaktes beeinflussen oder steuern?"
Hinter dieser Frage steht das Leib-Seele-Problem, das die Philosophie seit ihren Anfängen beschäftigt: Wie kann etwas nicht Räumliches, nicht Materielles wie der Geist oder das Bewusstsein auf etwas Räumliches und Materielles wie die Körperzustände wirken? Wie kann die ihrem Wesen nach geistige Entscheidung meine Hand zu bewegen, die ihrem Wesen nach materielle Bewegung meiner Hand verursachen?
Wenn man am Kausalitätsprinzip festhält, nach dem jede materielle Wirkung auch eine materielle Ursache hat, käme der Eingriff des Bewusstseins in die materielle Welt einem Akt der Magie gleich.
Insofern bieten sich mehrere alternative Deutungen an: Erstens: Das Kausalitätsprinzip verabschieden. Unmöglich, da man dann mit Wirkungen zu rechnen hätte, die ohne Ursache entstehen.
Zweitens: Die Eingriffsmöglichkeit des Bewusstseins bei Handlungen in Abrede stellen. Unbefriedigend, da es dann keinerlei überlegte Handlungen gäbe.
Drittens: Mithilfe von Experimenten den Zusammenhang von Bewusstsein, Entscheidung und Handlung ergründen.
300 Millisekunden Vorlauf
Philip Hübl: "Libet hat Versuchspersonen gebeten, den Finger zu bewegen, und sie sollten sich gleichzeitig merken, wann sie den Ruck gespürt haben, den Finger zu bewegen."
Der Philosophieprofessor Philip Hübl von der Universität Stuttgart.
"Und zwar haben sie auf eine Uhr geschaut und sollten sich den Zeigerstand der Uhr merken – das war ein Punkt, der sich ziemlich schnell gedreht hat: Wann habe ich den Ruck verspürt, den Finger zu bewegen?
Dann hat er gemessen, wann sie tatsächlich den Finger bewegt haben und hat rausgefunden: Der Ruck, den Finger zu bewegen, dieses Gefühl, jetzt will ich den Finger bewegen, hat 300 Millisekunden stattgefunden, bevor sich der Finger tatsächlich bewegt hat.
Gleichzeitig hat er noch Hirnströme gemessen, das Bereitschaftspotential, und hat herausgefunden, eine halbe Sekunde vorher – also noch einmal 200 Millisekunden vor dem Ruck – hat sich schon eine typische Veränderung dieser Hirnaktivität ergeben. Das ist dann viel diskutiert worden, weil es so wirkt, als würde das Hirn entscheiden, wann sich der Finger bewegt, und 200 Millisekunden später haben wir dann als Personen den Eindruck, wir würden den Finger bewegen wollen, aber in Wirklichkeit ist alles schon entschieden."
John-Dylan Haynes: "Das ist natürlich paradox! Wie kann es denn sein, dass mein Gehirn weiß, wie ich mich gleich entscheiden werde, noch bevor ich selber das Gefühl habe, dass ich mich entschieden habe? Damit hat er eines der wichtigsten Experimente zur Erforschung der Willensfreiheit im Gehirn begründet."
John-Dylan Haynes ist Professor am Bernstein Center for Computational Neuroscience der Charité Berlin und Direktor des Berlin Center for Advanced Neuroimaging. Der britisch-deutsche Hirnforscher könnte ein Enkel von Benjamin Libet sein. Auch hinsichtlich seines Forschungsansatzes. Denn Haynes hat mit den neuesten zur Verfügung stehenden neurowissenschaftlichen Methoden weitere Versuche zur Entscheidungsfindung im Gehirn durchgeführt.
Das wurde nötig, nachdem einerseits die Kritik an den Versuchen immer lauter wurde, während zugleich eine Phalanx von Hirnforschern uns Menschen den freien Willen streitig machen wollten.
So forderte 2004 der Neurowissenschaftler vom Frankfurter Max-Planck-Institut für Hirnforschung, Wolf Singer:
"Wir sollten aufhören, von Freiheit zu sprechen.
Denn:
"Verschaltungen legen uns fest.
"Das Ich ist eine Instanz, die hartnäckig ihren Produzenten leugnet"
Der Bremer Hirnforscher Gerhard Roth folgerte aus dem Nachhinken des Bewusstseins in den Libet-Versuchen:
"Das Ich ist eine Instanz, die hartnäckig ihren Produzenten leugnet. Wenn man sich die Großhirnrinde anguckt, dann überwiegen die Verknüpfungen dessen, was reinkommt, und dessen, was rausgeht, um das Hunderttausend- bis Millionenfache. Also alles, was aus dem Unbewussten in das Bewusstsein eindringt, erlebt das Bewusstsein an und in sich und kann das alles sich nur selbst zuschreiben.
Und so kommt es, dass dieses Ich all die Wünsche, die aus dem Unbewussten kommen, die Handlungsentwürfe, die auch aus dem Unbewussten kommen, sich selbst zuschreibt. Und das ist diese Lüge: Ich tue das, Ich erlebe das, Ich will das jetzt so. Das sind Illusionen, aber es sind sehr nützliche Illusionen.
Wenn man diesen Apparat zerstört, kann der Mensch nicht mehr in komplexen Situationen handeln. Das ist so, wie wenn man einem Menschen, der ein ganz kompliziertes Verkehrssystem leitet, seinen Computer wegnimmt, dann ist er verloren."
Doch es regte sich auch Widerspruch aus den Reihen der Hirnforscher gegen die Deutung, dass mit den Libet-Experimenten die Existenz des freien Willens des Menschen widerlegt wäre.
Gerald Hüther: "Ich hätte mir von den Kollegen gewünscht, dass sie sich erstmal klar darüber werden, was man überhaupt in unserem deutschen Sprachgebrauch unter freiem Willen versteht."
Der deutsche Hirnforscher Gerald Hüther.
"Dass da 300 Millisekunden, bevor ich auf irgendeinen Knopf drücke, im Hirn ein Bereitschaftspotential aufgebaut wird, das hat mit freiem Willen einfach überhaupt nichts zu tun. Willensfreiheit heißt doch: Ich entscheide mich jetzt, eine bestimmte Sache zu machen. Das können Sie doch nur dann entscheiden, wenn Sie auch wissen, dass Sie es hinkriegen. Man kann sich doch nicht für etwas entscheiden, das man gar nicht hinkriegt.
Und hirntechnisch heißt das, wenn ich mich dazu entscheide, einen Knopf zu drücken, muss ich auch wissen, dass, wenn ich dann sage: 'Knopf drücken', dass es auch geht. Beim Knopfdrücken fällt das nicht so auf.
Ich würde Sie mal einladen, sich in Gedanken mit einem anderen Experiment zu befassen: Nämlich, dass Sie hier ein Rad schlagen. Dann stellen Sie sich hier hin, und ich frage Sie: Wann können Sie den Entschluss fassen, aus freiem Willen dieses Rad zu schlagen. Das können Sie erst, nachdem Sie sich innerlich das Bewegungsmuster aufgebaut haben. Wenn man verlangen wollte, dass der Mensch einen freien Willen hätte, ohne dass da vorher schon etwas vorbereitet wäre, auf das er zurückgreifen kann, wäre das so, als würde man von ihm verlangen, dass er etwas wollen soll, was er gar nicht kann, woran er sich den Hals bricht. Das geht doch nicht!"
An die Frage, ob die in den Libet-Versuchen untersuchte Entscheidung für eine sehr einfache Handbewegung eine Aussagekraft für komplexe menschliche Handlungen hat, schließen sich auch methodische Fragen zum Experiment selber an.
Libet arbeitete bei seinen Versuchen lediglich mit fünf Probanden, von deren Verhalten unter Laborbedingungen auf die gesamte Menschheit geschlossen wurde.
Philip Hübl: "Dann gibt es die große Frage: Gibt es so etwas wie einen Willensruck überhaupt? Libet hat natürlich durch die Fragestellung seinen Versuchspersonen suggeriert: Achtet mal darauf, was in euch passiert. Dann hat er gesagt: Den Drang, die Absicht, den Wunsch. Aber Drang, Absicht, Wunsch sind ganz verschiedene Dinge. Auf was sollte man da wirklich achten? Die Leute haben dann auf alles Mögliche geachtet und das identifiziert mit dem Willensruck."
John-Dylan Haynes: "Es gab auch ganz viele Diskussionen, ob man diesen Libet-Versuchen wirklich trauen kann. Ein Aspekt ist beispielsweise, dass die Hirnaktivität 200-300 Millisekunden vor der bewussten Entscheidung auftritt. Da waren sich einige Forscher nicht so ganz sicher, ob diese Zeitspanne nicht zu kurz ist. Möglicherweise könnte das ja auch auf einen Messfehler sein.
Eine andere Frage war, dass sich die Probanden nur für die Bewegung der Hand entscheiden konnten und ihnen keine Alternativen für Handlungen zur Verfügung standen.
Es war auch unklar, was andere Hirnregionen machen. Er hat nämlich Messungen mit dem EEG gemacht. Damit misst man Hirnströme auf der Oberfläche des Skalps, aber damit bekommt man nur motorische Hirnsignale, also die tatsächlich mit dem Abschluss der Bewegung zu tun haben.
Libet hat immer Mittelwerte über ganz viele Entscheidungen gezeigt. Das heißt, er hat die Leute ganz oft eine Entscheidung fällen lassen, sich zu bewegen und hat dann diese unscharfen einzelnen Kurven so lange gemittelt, bis man aus dem Rauschen heraus dann tatsächlich eine Kurve gesehen hat. Wenn man sagen möchte, dass dieses Hirnpotential, das der Entscheidung vorausgeht, wirklich die Ursache der Entscheidung sein soll, dann muss sie jedes Mal auftreten, sobald man sich entscheidet. Man muss also genau sagen, wie eng ist denn der Zusammenhang zwischen dem sogenannten Bereitschaftspotential und der anschließenden Entscheidung. Das wurde aus den Libet-Experimenten nicht klar."
Hirnmessung per fMRT
Das Haynes-Lab im Bernstein-Center Berlin setzt unter der Leitung seines Namensgebers auf die beiden Wunderwaffen der zeitgenössischen Hirnforschung: Die funktionelle Magnetresonanztomografie, die wegen des ihr zugrundeliegenden physikalischen Prinzips auch oft als Kernspin bezeichnet wird, sowie die mathematische Analysis der Muster neuronaler Aktivität. Die beiden Verfahren hängen eng zusammen.
Das fMRT macht sich die Tatsache zunutze, dass sich die Neurone die benötigte Energie in Form des Sauerstoffs aus den Blutgefäßen holen. Das Blut verändert in Abhängigkeit von der Sauerstoffkonzentration seinen Magnetisierungsgrad, der wiederum mit der Magnetresonanztomographie gemessen werden kann.
Somit liefert das fMRT ein Muster der Neuronen-Aktivität im Hirn. Dieses Muster kann dann mit mathematischen Verfahren ausgewertet werden. Mit einiger Übung können die Neurowissenschaftler auf diese Weise Muster für bestimmte Gedanken herauslesen. Brain-Reading lautet der Fachausdruck.
Jeder Gedanke bildet im Zusammenspiel der 86 Milliarden Neurone ein komplexes Muster. Da es sich von Mensch zu Mensch unterscheidet, muss der Computer auf die individuelle Gedankenwelt des Probanden trainiert werden.
Schon sieben Sekunden vorher steht die Entscheidung fest
John-Dylan Haynes: "Dann haben wir ein Experiment gemacht, wo Probanden in einem Kernspintomographen liegen. Die Probanden konnten sich immer wieder in neuen Durchgängen aussuchen, ob sie sich für eine linke oder eine rechte Taste entscheiden. Und dann mussten sie die drücken.
Und wir haben auf dem Bildschirm, den sie sehen konnten, eine Reihe von Buchstaben, die zufällig angeordnet waren, gezeigt. Und zwar jede halbe Sekunde gab es einen neuen Buchstaben. Damit haben wir messen wollen, wann die Probanden sich entscheiden.
Wir haben sie nämlich gebeten, die sollen uns sagen, welcher Buchstabe auf dem Bildschirm zu sehen war, als sie sich entschieden haben. Jetzt hatten wir also die Hirnaktivität. Wir hatten die Entscheidung. Und wir wussten, wann sie sich entschieden haben. Da kam folgendes raus:
Die Entscheidung fiel üblicherweise eine halbe Sekunde bis eine Sekunde vor der eigentlichen Bewegung. Aber wir fanden Hirnaktivität, die schon sehr früh angezeigt hat, wie sich jemand gleich entscheiden würde. Und zwar bis zu sieben Sekunden. Das heißt, das Gehirn hat Informationen über eine Entscheidung, die jemand erst sieben Sekunden später glaubt zu fällen.
Das klingt natürlich paradox. Wir haben dann alle möglichen Tests noch gemacht, ob wir dem Ergebnis trauen konnten. Aber es schien solide zu sein. Man muss allerdings ganz klar sagen: Diese Vorhersage ist nicht perfekt. Das an sich ist schon interessant. Wir konnten statistisch sauber überzufällig die Entscheidung vorhersagen, aber wir konnten sie nur mit 60-70% vorhersagen."
Offensichtlich habe ich hier etwas nicht richtig verstanden. Warum können wir denn so rasch reagieren, wenn die Hirnaktivität sieben Sekunden Vorlauf hat?
John-Dylan Haynes: "Diese Entscheidungen, die wir untersucht haben, die lange dauern, bis sie sich aufgebaut haben, das sind alles selbst getaktete Entscheidungen. Da kann die Person sich selber aussuchen, wann sie die Entscheidung fällen möchte. Das ist vielleicht eher zu vergleichen mit einer Entscheidung, wo man nicht auf eine äußere Frage reagiert, sondern eine Entscheidung zum Beispiel: Wo gehe ich studieren? Was für einen Job werde ich machen?
Das sind auch selbst getaktete Entscheidungen. Da muss man nicht schnell reagieren, sondern hat Zeit, die Entscheidung im eigenen Tempo aufzubauen. Das heißt, wir können natürlich immer noch genau so schnell auf äußere Ereignisse reagieren. Aber in Situationen, wo wir uns frei entscheiden, scheint das Gehirn bereits vorher die Entscheidung vorbereitet zu haben, bevor wir das Gefühl haben, dass wir uns entscheiden."
Sieben Sekunden vor dem bewussten Entschluss für eine Handlung hat das Hirn bereits über die Handlung entschieden. Dieses spektakuläre Ergebnis der Versuche von John-Dylan Haynes und seinen Mitarbeitern gibt Rätsel auf. Zu kontra-intuitiv scheint das zeitlich dramatische Hinterherhinken des Bewusstseins. An dieser Stelle sind nicht nur Neurowissenschaftler, sondern auch Philosophen aufgerufen, Interpretationen zu liefern.
Gibt es keine bewusste Entscheidung?
Michael Pauen ist Professor für Philosophie des Geistes an der Berliner Humboldt-Universität. An der Berlin School of Mind and Brain arbeitet er eng mit Neurowissenschaftlern zusammen.
Michael Pauen: "Die Frage ist – und das war so ein Diskussionspunkt – kann man daraus schließen, dass unsere Entscheidungen bereits mehrere Sekunden auf der neuronalen Ebene unbewusst bereits festgelegt worden sind, bevor wir selber davon erfahren? Dass also das, was wir als bewusste Entscheidung betrachten, letztlich so eine Art Kino ist, das aber auf den eigentlichen Entscheidungsprozess keinen Einfluss hat.
Ich glaube nicht, dass man das so interpretieren kann, einfach deswegen, weil wenn zum Beispiel relativ kurz vorher eine neue Information hereingekommen wäre, dann – so war mein Einwand damals - dann hätte sich die Person noch umentscheiden können."
John-Dylan Haynes entwickelte mit seinem Team ein neues Experiment, um zu untersuchen, ob das Bewusstsein in der Lage ist, die in den unbewussten Strukturen des Hirns angelegten Entscheidungen aufzuhalten.
Wenn es einen solchen Mechanismus gibt, so die Überlegung, könnte er auch eine Erklärung für die Vorhersagerate von nur 60 bis 70 Prozent bei den vorigen Versuchen sein. So entstand ein Computerspiel, das sinniger Weise im Kampf Mensch gegen Maschine die Frage der Willensfreiheit entscheiden sollte: Die Brain-Challenge.
John-Dylan Haynes: "Nehmen wir mal an, wie aus dem Western, Sie müssen ein Duell absolvieren. Dann ist die Aufgabe, die man selber hat, zu ziehen so schnell wie möglich, ohne dass es vorhergesagt werden kann. Der andere muss versuchen, mich vorherzusagen und ich muss versuchen, möglichst unvorhersagbar zu sein. Dann kann ich gewinnen.
So ein Spiel haben wir mit Leuten gespielt. Wir haben die gebeten, einen Knopf, der auf dem Fußboden stand, mit dem Fuß zu treten. Den Probanden wurde auch ein Licht gezeigt. Das Licht konnte grün oder rot sein. Wenn das Licht grün war, und sie haben den Knopf gedrückt, dann konnten sie gewinnen.
Wenn sie aber den Knopf getreten haben, und das Licht war rot, dann haben sie verloren. Das wäre jetzt nicht weiter schwierig für die Probanden, aber wir haben ihre Hirnaktivität gemessen und haben die unbewusste Entscheidung, jetzt gleich den Knopf zu treten, ausgelesen und dann dieses Signal benutzt, um das Licht auf rot zu schalten, damit er den Durchgang verliert.
Wenn die Maschine gewinnt, ist der Mensch vorhersagbar, wenn die Maschine nicht gewinnt, ist der Mensch nicht so gut vorhersagbar."
Das Duell läuft also so: Das Licht schaltet von rot auf grün. Der Proband entschließt sich dazu, auf den Knopf zu treten, um die Runde zu gewinnen. Aufgrund der charakteristischen vorbewussten Signale in seinem Hirn aber registriert der Computer die Entscheidung, den Knopf zu treten, bevor sie dem Probanden bewusst wird und schaltet das Licht auf rot.
Wenn der Proband trotzdem auf den Knopf tritt, kann er die im Unbewussten initiierte Handlung nicht mehr aufhalten. Er verliert den Durchgang und die Menschheit ihren Anspruch auf den freien Willen, denn dann scheinen alle Entscheidungen im Hirn bereits besiegelt zu sein, bevor sie bewusst werden.
Ist das Ich doch Herr im eigenen Haus?
Schafft es der Proband hingegen, nicht auf den Knopf zu treten, ist das Ich doch Herr im eigenen Haus und hat die letzte Entscheidungsgewalt. Wer also wird siegen im Duell?
"Es war so, dass die Maschine schon gewonnen hat, aber in ganz vielen Fällen hat die Maschine nicht gewonnen. Wenn man sich das ganz genau anschaut, stellt man fest, dass die Probanden, nachdem das Gehirn die vorbereitende Aktivität getroffen hat, die Bewegung noch anhalten können. Sie können also die Entscheidung noch abbrechen. Das widerspricht der Interpretation des Libet-Experimentes, nach dem dieser Prozess wie so eine Dominokette ist, wo man nicht mehr eingreifen kann.
Stattdessen sieht es eher so aus, dass wir diesen Prozess anhalten können. Wir haben also noch bis zu einem ganz späten Zeitpunkt Kontrolle darüber. In meinen Augen bedeutet das, dass dieses klassische Libet-Experiment seine Relevanz verloren hat für die Frage der Willensfreiheit.
Weil argumentativ wollte man damit immer Determinismus beweisen, und das Libet-Experiment ist nach unseren Versuchen nicht mehr dazu geeignet, Determinismus zu beweisen, weil die Probanden sich noch umentscheiden können. Das bedeutet nicht, dass das Gehirn nicht deterministisch ist, sondern nur dieser eine Weg, wie man dafür argumentiert, obsolet geworden ist."
Die Dominosteine der Entscheidungsfindung
Man kann die Entscheidungsfindung im Hirn mit einer Reihe von Dominosteinen gut ins Bild setzen. Wenn der erste Stein angestoßen wird, fallen alle anderen Steine der Reihe nach um. Es sei denn, man schafft es, einen der Steine aus der Kette herauszunehmen. Dann bleiben die darauffolgenden Steine stehen.
So ähnlich laufen nach den Versuchen von John-Dylan Haynes Handlungen ab. Sie werden in unbewussten Arealen des Hirns vorbereitet und angestoßen wie die Kette der Dominosteine. Das Bewusstsein spielt dabei die Rolle desjenigen, der einen Stein aus der Kette entfernt und sie dadurch anhält. Auf diese Weise kann das Bewusstsein eine Handlung verhindern. In dieser Möglichkeit, über die Ausführung einer Handlung zu entschieden, zeigt sich der freie Wille des Menschen.
Und das soll Freiheit sein?
John-Dylan Haynes: "Ob's einen freien Willen gibt, hängt ganz davon ab, was man unter freiem Willen versteht. Wenn man mit frei meint, dass sich die Entscheidung unabhängig machen kann von den Hirnprozessen, dass wir etwas entscheiden können, was nicht von den Hirnprozessen vorhergesehen ist, dann muss man ganz klar sagen – sagt die Wissenschaft – dass das nicht möglich ist.
Die Entscheidung mag zwar nicht vollständig vorhersagbar sein, weil noch ein Rest Zufall eine Rolle spielt, aber dieser Zufall, der da noch eine Rolle spielt, ist keiner, über den der Proband eine Kontrolle hat. Es ist nicht so, dass man darin seinen Willen ausdrücken kann. Auch diese Entscheidung, eine getroffene Absicht abzubrechen, hat ihre Mechanismen im Gehirn.
Wir können also nachvollziehen, nicht nur, wie die Entscheidung ursprünglich im Gehirn zustande kommt, sondern wir können auch die Mechanismen sehen, wie diese Person die Entscheidung wieder anhält. Beides sind Prozesse, die im Gehirn sich abspielen und mithin genauso deterministisch sind wie Prozesse, die im Herzen stattfinden oder in der Leber."
Zweifel am neurowissenschaftlichen Determinismus
Der neurowissenschaftliche Determinismus wird oft als Argument gegen den freien Willen des Menschen gewendet. Wenn alle inneren Zustände und äußeren Handlungen eine Entsprechung in einem speziellen Hirnzustand haben, so die Argumentation, sind sie durch die Naturgesetze der Hirnprozesse determiniert, festgelegt. Und wenn dem so ist, gibt es keinen Raum für menschliche Freiheit.
Markus Gabriel: "Der Determinismus ist insofern noch einmal ein ganz interessanter Fall, weil gar nicht klar ist, ob der sich überhaupt formulieren lässt. Ich habe immer größere Zweifel daran, dass man überhaupt sagen kann, was der Determinismus sein soll."
Markus Gabriel, Professor für Erkenntnistheorie und Philosophie an der Universität Bonn.
"Bevor ich geboren war, fanden bestimmte Ereignisse statt. Zum Beispiel der Urknall. Der Urknall in Konjunktion mit den Naturgesetzen ist so, dass das, was gerade geschieht, geschehen muss. Aber warum macht mich das unfrei? Das ist doch nur die folgende These: 'Wenn A, dann B'. Aber aus 'Wenn A, dann B' folgt gar nichts, außer: 'wenn das, dann das'.
Am Ende des Tages sagt der Determinismus etwas völlig Triviales, nämlich: Ich kann die Vergangenheit nicht ändern. Daraus schließt er, ich hätte nicht anders gekonnt. Das stimmt, weil das, was ich getan habe, ist das, was ich getan habe. Ich kann, nachdem ich es getan habe, das, was ich getan habe, nicht ändern. Ich hab's ja getan. Da ist keine Bedrohung, da ist nichts, was uns durch die Ereignisse schiebt.
Der Determinismus ist ja nur deswegen etwas, was uns beunruhigt, wenn wir über den freien Willen reden, weil wir das Gefühl haben, dass es irgendetwas gibt – die Naturgesetze, der liebe Gott, unser Gehirn, was für uns handelt. Dafür aber haben wir keine Indizien.
Interessanter ist die These, ich musste das tun, ich hatte keine Wahl, aber meine Wahl bestand ja darin, dass ich zum Beispiel über die Menükarte geschaut habe, und da stand Wasser und Wein. Dann habe ich nachgedacht und das Wasser gewählt. Das war ja meine Wahl. Hätte ich anderes wählen können? Nein, natürlich nicht, denn ich hab ja das gewählt. Das ist so, als würde man sagen: Hätte ich auch sieben Finger haben können? Natürlich nicht."
Es gibt einen freien Unwillen
Die Experimente von John-Dylan Haynes erklären den freien Willen des Menschen immerhin zum Teil. Sie zeigen, dass wir vorbewusst angebahnte Entscheidungen zumindest aufhalten können. Insofern verfügen wir, wenn nicht über einen freien Willen, in jedem Fall doch über einen freien Unwillen.
Um mehr über die Bedingungen der Freiheit des Menschen in Erfahrung zu bringen, müsste man realitätsnähere Entscheidungen als das Drücken eines Knopfes untersuchen können. Denn dass man sich irgendwann dazu entschließen wird, im Labor den Knopf zu drücken, ist bereits in dem Moment klar, wo man seine Bereitschaft erklärt, an den Versuchen teilzunehmen.
Aber wie sieht es aus, wenn es um die Anbahnung einer Ehe oder den Entschluss sich scheiden zu lassen geht? Oder um den Arbeitsplatzwechsel? Oder die Entscheidung, Vegetarier zu werden? Oder auf den Genuss von Alkohol zu verzichten? In all diesen Fällen zeigt sich der freie Wille des Menschen. Aber wie sollen derartige Prozesse jemals untersucht werden? Sicher scheint zumindest, dass es bei keiner dieser Entscheidungen mit einem Vorlauf von sieben Sekunden getan ist.
John-Dylan Haynes: "Die Psychologie zeigt wiederholt, und auch die Hirnforschung, dass unsere Entscheidungen ganz anders passieren, als wir denken. Es gibt viele Beispiele dafür, dass wir uns darin täuschen, wie wir unsere Entscheidungen fällen.
Ich kann Ihnen ein schönes Beispiel nennen. Es gab mal eine Studie, die haben zwei Probandengruppen untersucht, die einen Film gesehen haben. Und bei der einen Probandengruppe war der Projektor manipuliert. Der war ganz laut. Hinterher hat man die Probanden gefragt, wie gut sie den Film fanden.
Nun kann man zwei Fragen stellen. Die zweite ist nämlich: Glauben Sie, dass die Lautstärke des Projektors einen Einfluss auf Ihr Urteil hatte? Da haben die Probanden zuerst gesagt: Ja, die Lautstärke hat mein Urteil beeinflusst.
Als man dann aber geschaut hat, haben sich die beiden Gruppen gar nicht unterschieden darin, wie sie den Film bewertet haben. Das heißt, offensichtlich hat die Lautstärke keinen Einfluss gehabt. Wir glauben manchmal, dass Dinge einen Effekt haben auf unsere Entscheidungen, die keinen Effekt haben, und umgekehrt glauben wir manchmal, dass andere Dinge keinen Effekt haben, die aber in Wirklichkeit einen Effekt haben. Wir sind also relativ schlecht darin, zu wissen, warum und wie wir entscheiden."