Neue Gentherapien

Was Lebensrettung kosten darf

28:12 Minuten
Emily Whitehead, fünf Jahre nach der ersten gentherapeutischen Behandlung ihrer Leukämie-Erkrankung, aufgenommen im Jahr 2017
Sie hat überlebt: Emily Whitehead, fünf Jahre nach der ersten gentherapeutischen Behandlung ihrer Leukämie-Erkrankung. © Childrens Hospital of Philadelphia/picture alliance/AP Photo
Von Dagmar Röhrlich |
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Was ist ein menschliches Lebensjahr wert? Neue Gentherapien befeuern diese schwierige Frage und werden zu einer ethischen und finanziellen Herausforderung für die Gesundheitssysteme. Was ist gerechtfertigt – und was ist die Gesellschaft bereit, mitzutragen?
"Emily wurde am 2. Mai 2005 vollkommen gesund geboren. Am 28. Mai 2010, kurz nach ihrem fünften Geburtstag – sie war bis dahin noch nie wirklich krank gewesen –, bekam sie über Nacht sehr starke Knieschmerzen, und sie hatte überall blaue Flecken. An dem Tag wurde bei ihr Akute Lymphatische Leukämie diagnostiziert."
Emily hat gerade die Vorschule abgeschlossen, soll in den Kindergarten gehen, erinnert sich Tom Whitehead.
"Sie schien am Tag vor der Diagnose noch vollkommen gesund gewesen zu sein. Die einzigen Warnzeichen waren Prellungen, Zahnfleischbluten beim Zähneputzen und ein bisschen getrocknetes Blut an ihrer Nasenspitze."
Die Ärzte beruhigen die Eltern: Emily leide an einer – wie sie es ausdrückten – "ganz gewöhnlichen Leukämie": einfach zu heilen, ihre Tochter werde gesund, ihr Leben genießen, eines Tages Großmutter sein. Doch es treten Komplikationen auf, sie muss operiert werden, liegt auf der Intensivstation.
Dann verschwinden die Symptome, 16 Monate lang sieht es so aus: Emily hat die Krankheit bezwungen.
Children's Hospital of Philadelphia (CHOP) Roberts Center for Pediatric Research in Philadelphia, Thursday, May 16, 2019. (AP Photo/Matt Rourke) |
Anstatt an ein Hospiz, wendeten sich die Eltern von Emily Whitehead an das Children's Hospital of Philadelphia.© AP
"Im Oktober 2011 stellten die Ärzte bei einem Standard-Bluttest ihren ersten Rückfall fest. Sie erklärten uns, dass Emilys Überlebensrate von rund 85 auf unter 30 Prozent gefallen sei – und dass wir einen Knochenmarksspender finden müssten."
Ein Spender findet sich auch, doch ehe es so weit ist, geht es Emily zu schlecht für eine Transplantation. Anstatt an ein Hospiz, wenden sich die Eltern an das Children's Hospital of Philadelphia. Dort ist am Tag zuvor eine neue Gentherapie gestartet: Der klinische Test von CAR-T-Zellen. Emily ist die erste Patientin.
"Es war sehr hart. Wir entschieden, dass es ihre beste Überlebenschance wäre, und die Therapie begann am 1. März 2012. Sie extrahierten Emilys T-Zellen aus ihrem Blut, zerstörten dann ihr Immunsystem. Sie musste sechs Wochen auf einer Isolierstation leben, während sie ihre T-Zellen gentechnisch veränderten und züchteten. Sie bekam sie am 17., 18. und 19. April 2012 zurück.
"Schönen guten Morgen. Sehr geehrte Damen und Herren."
September 2019. Eine Pressekonferenz in Berlin. Das Thema: "Neue CAR-T-Zelltherapie als Modell zum Umgang mit neuen hochpreisigen Arzneimitteln in der Medizin."
Ulrike Elsner vom Verband der Ersatzkassen spricht.

Hochwirksame Therapien mit hohem Risiko

"Wir möchten Ihnen Vorschläge vorstellen, wie neue, einerseits hochwirksame Therapien, aber andererseits eben Therapien, die mit einem hohen Risiko an Nebenwirkungen behaftet sind, wie solche Therapien sinnvoll in die Versorgung kommen sollten."
Bei der CAR-T-Zelltherapie werden die Immunzellen eines Patienten im Labor gentechnisch so aufgerüstet, dass sie Blutkrebszellen erkennen und im Körper abtöten.
"Das Verfahren bietet für die Betroffenen eine hohe Chance…"
Seit Sommer vergangenen Jahres sind in Deutschland zwei CAR-T-Zelltherapien gegen aggressive Formen von Blutkrebs zugelassen – für austherapierte Patienten, deren letzte Chance sie sind. Patienten wie Emily Whitehead. Die Erfolge sind beeindruckend – ebenso die Preise.
"Das Verfahren – alleine die Arzneimittel, ohne jetzt auch ärztliche Behandlung – hat 320.000 Euro gekostet. Hat, sage ich, denn jetzt gibt's eine Verhandlung auf 275.000. Aber Sie sehen, wir bewegen uns natürlich trotzdem im sechsstelligen Bereich."
Ulrike Elsner, hauptamtliche Vorsitzende des Verbandes der Ersatzkassen (VDEK), aufgenommen im Januar 2018 in Berlin
Ulrike Elsner vom Verband der Ersatzkassen sieht in der CAR-T-Zelltherapie große Chancen für die Betroffenen.© imago/Jürgen Heinrich
Damit liegt die CAR-T-Zellbehandlung jedoch bei weitem nicht an der Spitze. Ein Gentherapeutikum gegen eine seltene Augenkrankheit kostet rund 450.000 Euro – pro Auge. Und eines gegen die Bluterkrankung Thalassämie mehr als 1,5 Millionen Euro.
"Das sind Produkte, die in Preisregionen sind jenseits dessen, was überhaupt bisher vorstellbar war."
Der Preis für das derzeit teuerste Therapeutikum beträgt sogar mehr als zwei Millionen
US-Dollar, erklärt Lili Grell vom MDK, vom Medizinischen Dienst der Krankenversicherung.
"Das ist in den USA zugelassen. Wir haben beim MDK erste Anträge auf Einzelimport aus den USA zur Begutachtung, und wir erwarten die europäische Zulassung."
Es geht um ein Mittel gegen eine andere seltene Erbkrankheit: Spinale Muskelatrophie Typ 1, die schwerste Form der Erkrankung. Weil ein fehlerhaftes Gen ein bestimmtes Protein nicht erzeugt, verkümmern im Rückenmark die Nervenzellen, die die Muskeln steuern. Pro Jahr kommen in Deutschland etwa 50 Kinder zur Welt, die daran leiden.
"Die Kinder können die Muskulatur nicht bewegen, und dann können sie die Atemmuskulatur nicht mehr bewegen, und dann versterben sie häufig an Infekten in der Beatmung."
Der Abbau der Skelettmuskeln beginnt mit der Geburt. Nach einem halben Jahr sind 95 Prozent der Muskelmasse nahezu funktionslos. Bald müssen die Kinder künstlich beatmet werden, sie sterben fast immer vor ihrem zweiten Geburtstag.
Die Gentherapie soll ihr Leben retten – mit einer einzigen Injektion: Ein umgebautes Virus schleust das funktionierende Gen in das Erbgut ein, um das defekte Gen zu reparieren. Falls es klappt, packt die Behandlung das Übel an der Wurzel.

Forschung muss sich für Pharmafirmen lohnen

Die Pharmaindustrie beziffert die Ausgaben für ein neues Medikament auf durchschnittlich zwei Milliarden US-Dollar – für ein klassisches Mittel, das Millionen Patienten verschrieben werden kann. Doch je mehr über genetische Faktoren bei Erkrankungen bekannt wird, desto spezifischer werden viele Therapien: Das verkleinert die Zielgruppe, ohne dass die Kosten sinken. Eher passiert das Gegenteil: Denn es geht – wie bei der CAR-T-Behandlung für Emily – um ein Individuum. Das Medikament muss deshalb in einem komplexen Verfahren für jeden Patienten individuell hergestellt werden.
Doch Pharmafirmen sind Wirtschaftsunternehmen. Sie müssen Gewinn machen, die Forschung muss sich für sie also auch lohnen.
Und so stand, seit in den 1980er-Jahren die Idee aufkam mit Gentherapien seltene schwere Erkrankungen zu heilen, immer eine Frage im Raum: Wie sollen die Gesundheitssysteme solche aufwendigen Therapien finanzieren, die Milliarden kosten - von denen aber nur wenige Patienten profitieren?
90 Prozent aller Versuche, ein neues Medikament zu entwickeln, schlagen fehl, sagt Ronenn Roubenoff, der bei Novartis für vorklinische Studien zuständig ist. Generell. Und die Geschichte der Gentherapien war zudem über lange Zeit von Rückschlägen geprägt. So starb 1999 der 18-jährige Jesse Gelsinger, weil sein Immunsystem überreagiert hat.
"Bei der Entwicklung der Gentherapie gibt es gleich mehrere Probleme. Zum einen muss man eine Möglichkeit finden, um das defekte Gen zu korrigieren. Zum anderen braucht man einen Weg, damit das korrigierte Gen im Körper des Patienten auch wirkt. Beides sind wissenschaftliche Rätsel."
Auf beiden Gebieten hat es große Fortschritte gegeben: sowohl bei der Entwicklung und Optimierung der therapeutischen Gene, als auch bei den Gentaxis. Diese umgebauten Viren schleusen das therapeutische Genmaterial sehr viel sicherer in die Zellen ein als früher.
"Außerdem sind wir besser darin geworden, die Krankheiten zu identifizieren, die behandelt werden können. Das beste Beispiel dafür ist die Spinale Muskelatrophie vom Typ 1: Es geht um ein kleines Gen, das sich vollständig in das Virus ‚verpacken‘ lässt. So etwas ist ideal. Bei einer anderen erblichen Muskelerkrankung hingegen ist das betroffene Gen riesig, viel zu groß, um in ein Virus zu passen."

Hype bei Gentherapien

Inzwischen gibt es einen Hype bei Gentherapien. Die meisten Studien laufen in China, die USA liegen auf Platz 2. Zwar wurde bislang nur eine Handvoll Gentherapien in Europa zugelassen, doch in den USA rechnet die zuständige Arzneimittelbehörde bis 2025 mit zehn bis zwanzig neuen Verfahren. Und sie alle dürften in die höchste Preisklasse fallen.
"In der Ökonomie und ganz besonders in der Gesundheitsökonomie ist eine der ältesten Fragen, mit denen wir uns beschäftigen, wie kann man den Wert eines menschlichen Lebens, wie kann man den Wert menschlicher Gesundheit, wie kann man dann abgeleitet den Wert einer menschlichen Lebenszeit, also zum Beispiel eines Lebensjahres, quantitativ erfassen?"
Michael Schlander ist Gesundheitsökonom am Deutschen Krebsforschungszentrum in Heidelberg. Wie man den Wert eines menschlichen Lebens bemisst ist eine Frage, die ganz essentiell ist, um eine andere beantworten zu können.
"Was darf ein neues Medikament kosten, wenn es eine ganz bestimmte Lebensverlängerung bewirkt? Und was sich daraus ergibt, ist die Frage nach Grenzwerten: Was ist die maximale Zahlungsbereitschaft für ein gewonnenes Lebensjahr."
Um das herauszufinden haben Michael Schlander und seine Mitarbeiter ökonomische Studien aus der ganzen Welt ausgewertet: Die Forscher fanden heraus, dass weltweit im Schnitt rund 164.000 Euro für ein Lebensjahr aufgewendet werden.
"Wir sind bei Werten in der Größenordnung etwas knapp über dem Fünffachen des Bruttoinlandsprodukts pro Kopf in Europa, bei den asiatischen Studien genauso, wenn auch mit größerer Heterogenität. Aber es bleiben die nordamerikanischen Studien, sowohl aus USA als auch aus Kanada, signifikant höher mit einem knapp siebenfachen."
Die Menschen sind also durchaus bereit, sechsstellige Beträge für neuartige Therapeutika zu bezahlen – falls sie denn wirken.

"Frühe Nutzenbewertung" von Wirkstoffen

Bis 2011 konnten Pharma-Unternehmen in Deutschland ihre Preise frei festlegen. Erst seitdem durchläuft jeder neue Wirkstoff eine "frühe Nutzenbewertung". Dabei prüft ein Gremium von Ärzten, Krankenkassen und Krankenhäusern, ob das Medikament wirklich einen Zusatznutzen bringt. Diese Bewertung wird schließlich zur Grundlage für die Entscheidung, wie viel die gesetzliche Krankenversicherung für einen neuen Wirkstoff zahlt. Doch dieses System funktioniert nur mit den entsprechenden Studien – die bei neuartigen Therapien fast immer fehlen.
Weil sie in hoffnungslosen Fällen helfen können, wurden die beiden CAR-T-Zelltherapien gegen Leukämie in den USA und in Europa beschleunigt zugelassen – ohne, dass alle klinischen Studien abgeschlossen worden sind. Unter anderem, weil bei den Medikamenten für seltene Krankheiten oft die Fallzahlen für diese ausgefeilten Untersuchungen fehlen.
Der Vorsitzende des Gemeinsamen Bundesausschusses, Josef Hecken, aufgenommen im Dezember 2017 in Berlin in seinem Büro
Josef Hecken, Vorsitzender des Gemeinsamen Bundesausschusses, der über die frühe Nutzenbewertung entscheidet.© picture alliance / Gregor Fischer/dpa
"Ich spreche in diesem Zusammenhang sehr häufig - ohne das abwertend zum meinen – von sogenannten ‚quick and dirty Zulassungen‘, wo man sagt, wenn es keine andere Therapieoption gibt, dann muss man auch im Zulassungsprozess eben bestimmte Risiken in Kauf nehmen, um den Patienten dann möglicherweise noch zielführende Behandlungsoption zu eröffnen."
Josef Hecken ist unparteiischer Vorsitzender des Gemeinsamen Bundesausschuss – jenes Gremiums, das über die frühe Nutzenbewertung entscheidet. Und damit darüber, welche neuen Arzneimittel und Therapien die gesetzliche Krankenversicherung bezahlt.
Bei der beschleunigten Zulassung ist weniger als im Standardfall bekannt, wie wirksam und wie sicher ein neues Medikament ist. Dabei können die Risiken gravierend sein, wie bei der CAR-T-Zelltherapie. Eine Nebenwirkung: der "Zytokinsturm" – eine lebensbedrohliche Überreaktion des Immunsystems.
Mit dieser Nebenwirkung kämpft auch Emily Whitehead, nachdem die Ärzte ihr die Infusionen mit ihren genveränderten T-Zellen gegeben haben.

23 Tage nach Behandlungsbeginn war Emily krebsfrei

"Es ging ihr noch schlechter, sie lag zwei Wochen im Koma. Doch an ihrem siebten Geburtstag, dem 2. Mai 2012, wachte Emily auf. 23 Tage nach Behandlungsbeginn war sie krebsfrei. Seit sieben Jahren hat sie keine Nacht mehr im Krankenhaus verbracht und ist geheilt."
Die ersten Statistiken zeigen: Von 79 jungen Patienten, die wie Emily nur noch wenige Wochen zu leben hatten, geht es 62 Prozent nach zwei Jahren noch gut. Sie haben keinen Rückfall.
DNA und T-Lymphozyten oder kurz T-Zellen, weiße Blutzellen, die der Immunabwehr dienen
DNA und T-Lymphozyten oder kurz T-Zellen: Die weißen Blutzellen dienen der Immunabwehr.© imago/Science Photo Library
Aber wie erfolgreich ist die Therapie über viele Jahre hinweg? Gibt es auf lange Sicht doch unerwartete Nebenwirkungen?
Um trotz geringer Patientenzahlen bessere Informationen über Nutzen und vor allem auch Risiken zu erhalten, müssen bei einer beschleunigten Zulassung die Daten gewonnen werden, während das Mittel bereits eingesetzt wird.
"Man muss hier klar sagen, dass in manchen Produkten scheinbar eine inverse Beziehung besteht zwischen Preis und Evidenzlage. Und die Datenlage ist ja auch eine Frage der Sicherheit und man kann nicht Heilsversprechungen machen, ohne dass man die Datenlage dazu auch wirklich vorlegt", sagt Lili Grell vom MDK.
Damit sich die Frage nach Wirksamkeit und Sicherheit der neuen Gentherapeutika möglichst schnell beantworten lässt, können die Hersteller seit kurzem verpflichtet werden, jeden Patienten in ein Register zu melden.
"Das müssen krankheitsbezogene Register sein, die Hersteller sind gewohnt produktbezogene Register zu machen. Aber aus produktbezogenen Registern können sie keine Vergleiche zu anderen Produkten letztlich ziehen."
Etwa bei einem Mittel gegen die Spinale Muskelatrophie, das seit 2016 auf dem Markt ist.
"Das ist das erste Mal sozusagen, dass wir hier eine Vergleichstherapie haben, zumindest für ein Teil der Patienten."
Das Konkurrenzprodukt soll das Fortschreiten stoppen und die Muskelfunktion verbessern. Es muss regelmäßig ins Rückenmark injiziert werden. Die Kosten: im ersten Jahr 750.000 Dollar, danach lebenslang jährlich 375.000 Dollar.
Das Gentherapeutikum wäre nach rund fünf Jahren billiger – falls es denn die Kinder wirklich heilt.

Diskussion um angemessen Preis ist schärfer geworden

"Wenn man sagt, es ist einmal im Leben und hält ein Leben lang an, ist das natürlich anders, als wenn man sagt, nein, wenn die Kinder größer werden, kann man eventuell nochmal die Gentherapie geben oder man muss wechseln."
Ehe sich das wirklich beurteilen lässt, werden Jahre vergehen – viele Jahre. Und bis dahin bleibt die Frage von Kosten und Nutzen offen.
Durch die neuartigen gentherapeutischen Medikamente ist die Diskussion um den angemessenen Preis schärfer geworden. Was ist gerechtfertigt? Was akzeptiert die Gesellschaft? Wann reicht das Geld dafür nicht mehr aus?
Dabei spielt die gesundheitsökonomische Gesamtrechnung eine zentrale Rolle.
Beispiel: Hepatitis C. In Deutschland sind rund 250.000 Menschen mit dem Virus infiziert – lange gab es keine Therapie. Seit 2014 Jahren gibt es einen medizinischen Wirkstoff, der in Kombination mit anderen Arzneimitteln bis zu 90 Prozent der Infizierten heilt. Der Preis lag zu Beginn bei fast 60.000 Euro pro Patient – und sorgte für einen öffentlichen Aufschrei. Von Mehrausgaben in Milliardenhöhe war die Rede.
"Wir haben diese Produkte trotz dieses öffentlichen Wehklagens mit einem beträchtlichen Zusatznutzen bewertet. Das Ergebnis ist, dass die Masse der Patienten nach zwölf oder 24 Wochen völlig nebenwirkungsfrei absolut unter der Nachweisgrenze mit den Hepatitis C Viren sind, mit der Folge, dass keine Leberzirrhose mehr eintritt, dass keine Organtransplantation mehr erforderlich ist."
Konstatiert Josef Hecken vom Gemeinsamen Bundesausschuss. Die Frage ist, ob und wie sehr die neuartigen Gentherapien die Kosten senken können. Die Hoffnungen sind jedenfalls hoch.
"Einige dieser Gentherapien sind ganz anders als die traditionellen Tabletten oder Spritzen: Sie bilden eine ganz andere Klasse. Diese Produkte sind oft revolutionäre Durchbrüche, werden einmal gegeben und nicht als Tabletten über viele, viele Jahre hinweg", sagt Stephen Moran, Strategiechef beim Pharmakonzern Novartis.

TK-Chef: Neue Therapien verfügbar machen

Und Jens Baas, der Chef der Techniker Krankenkasse urteilt: "Ich glaube, es wäre falsch, wenn man von vornherein sagt, das ist alles Unsinn, was da auf den Markt kommt, das ist nur irgendwie Geldschneiderei, aber gar keine neuen therapeutischen Ansätze. Sondern da sind durchaus auch Sachen dabei, die gute therapeutische Ansätze versprechen und wo man sich natürlich überlegen muss, wie kann man die dann bezahlen, wie schafft man es, dass man die den Menschen, die sie brauchen, auch wirklich verfügbar macht."
"Diese Produkte bieten bei schrecklichen Erkrankungen die Chance auf Heilung – etwa bei Krebs oder fürchterlichen Nervenkrankheiten. Sie funktionieren ganz anders, und das muss auch bezahlt werden", meint Stephen Moran.
Jens Baas, Vorstandsvorsitzender der TK Deutschland, aufgenommen 2018 bei einer Pressekonferenz in Berlin
Jens Baas, Vorstandsvorsitzender der TK Deutschland, hält nichts davon, Kosten bei Medikamenten einfach gegenzurechnen. © imago/Metodi Popow
Und wieder Jens Baas: "Wenn man diese Rechnung bei allen Medikamenten aufmacht, dann müsste ja auch Penicillin Millionen kosten. Diese Rechnung, Gegenzurechnen, was sonst die Kosten wären, ist natürlich gut, um zu begründen, warum die Kosten so hoch sind, ist aber eigentlich falsch."
Generell sind die Kosten für Arzneimittel in den vergangenen Jahren deutlich gestiegen. Derzeit geben die gesetzlichen Krankenkassen dafür rund 40 Milliarden Euro pro Jahr aus – das ist rund ein Sechstel ihrer Gesamtausgaben. Und dieser Posten wächst jährlich um die fünf Prozent – durchschnittlich. Wenn ein neues teures Medikament auf den Markt kommt, wie das gegen Hepatitis-C, können es auch schon einmal zehn Prozent sein. Im Moment ist die Zahl der neuartigen Gentherapien allerdings klein.
"Aber es gibt jetzt keinen logischen Grund zu sagen, das muss für alle Ewigkeiten so bleiben. Sondern es ist durchaus möglich, ich würde sogar sagen wahrscheinlich, dass es auch für Krankheiten, die große Gruppen der Bevölkerung treffen, Ansätze geben wird, die man im weitesten Sinne im Bereich der Gentherapie zuordnen wird können."

Therapeutika im Hunderttausend- oder Millionen-Euro-Bereich

Außerdem kann es sein, dass die neuen Therapien auch in früheren Krankheitsstadien eingesetzt werden. Und dass es gelingen wird, mit ihnen auch solide Tumore zu bekämpfen, so dass sich ihr Einsatzbereich massiv erweitern könnte. Doch mit jedem Therapeutikum im Hunderttausend- oder Millionen-Euro-Bereich wird die Frage dringlicher: Wie lässt sich das finanzieren?
"Der Kosten-Tsunami kommt nicht auf uns zu, sondern wir haben ihn bereits."
Es bedeutet aber nicht zwangsläufig, dass wir kurz davor stehen, den Rahmen zu sprengen. Denn im Gesundheitssektor lässt sich viel Geld einsparen: bei weniger tauglichen Behandlungen etwa und bei den Folgekosten – falls sich die Heilsversprechen der neuen Therapien erfüllen. Allerdings gibt es in dieser Rechnung viele Unbekannte.
Außerdem arbeiten Pharma-Unternehmen an alternativen Bezahlmodellen.
"Wir haben mit einem großen Anteil der Krankenkassen in Deutschland sogenannte ‚Pay for Outcome‘– also Ergebnis basierte Verträge geschlossen", beschreibt Novartis-Manager Markus Karmasin.
"Was wichtig ist, dass es sehr eindeutige Ergebnisse sind. In unserem Falle handelt es sich aufgrund der Situation, in der die Patienten sind, leider sozusagen um den Tod, also um die Frage überlebt der Patient oder nicht. Das heißt, es ist relativ eindeutig messbar."
Am Fraunhofer Institut für Zelltherapie und Immunologie (IZI) in Leipzig (Sachsen) arbeiten Forscher an neuer Zelltherapie gegen Krebs, der Chimären-Antigenrezeptor-Therapie (CAR-T).
Diese Forscher arbeiten an neuer Zelltherapie gegen Krebs, der Chimären-Antigenrezeptor-Therapie (CAR-T). © picture alliance / Waltraud Grubitzsch/dpa-Zentralbild/ZB
Bei den Leukämie-Erkrankungen, für die die CAR-T-Zelltherapie zugelassen ist, war die Einigung relativ einfach.
"Wenn die Patienten normalerweise bei der Prognose, die man in dieser Behandlung hat, nach sechs bis acht Wochen tot gewesen wären, hat man hier den Endpunkt ‚wer lebt noch nach einem Jahr‘ zugrunde gelegt."
Dann erstattet die Kasse den vollen Preis. Bei anderen Gentherapien gestaltet sich die Erfolgsmessung schwieriger: Etwa, weil die Patienten auch ohne Behandlung länger als ein Jahr überleben oder wenn auch die Verbesserung der Lebensqualität eine Rolle spielt.
"Da wird es dann natürlich komplizierter im Einzelfall, aber in diesen Bereichen wird sich kassenindividuelle ‚Pay-for-Performance‘ durchsetzen."
Außerdem gibt es Konzepte, die Ratenzahlungen vorsehen. Zum Bespiel bei dem Mittel gegen die Bluterkrankung Thalassämie: Die knapp 1,6 Millionen Euro zahlen die Kassen in fünf Jahresraten. Sollte die Wirkung des Mittels nicht so lange anhalten, bekommt der Hersteller kein Geld mehr.
Dennoch: Angesichts der Fortschritte in der Forschung prallen die Visionen der individuellen Gentherapien und die Zwänge der Finanzierbarkeit in Zukunft aufeinander. Die gesellschaftliche Debatte, was wichtig und notwendig ist und welchen Preis es kosten darf, muss jetzt beginnen...
Großbritannien geht schon seit langem einen anderen Weg: Dort wird im staatlichen Gesundheitssystem nach einer "globalökonomischen" Kosten-Nutzenbewertung entschieden, ob ein Patient eine Behandlung bekommt oder nicht. Ein gesundes Lebensjahr wird mit 27.000 Pfund veranschlagt. Und ist die Grundlage der Kalkulation.

Konkurrenz und technischer Fortschritt senkt die Preise

Die Folgen dieser Berechnung sind hart, sagt Josef Hecken. Etwa bei alten Menschen oder wenn es nach einer Krebstherapie einen Rückfall gibt.
"Wir sind bereit 27.000 Pfund für jedes gesunde Lebensjahr zu bezahlen. Der Wirkstoff kostet aber im Jahr 150.000 Euro, Sie bekommen dort keine Therapie mehr. Das hat man jetzt gesellschaftlich ein bisschen abgemildert, indem man für soziale Härtefälle noch so einen Onco-Fund aufgelegt hat. Bedeutet aber auch: Ab 75 gibt's keine Hüfte mehr, weil Schmerzmittel wesentlich billiger sind als die künstliche Hüfte, und weil sie sich gesamtökonomisch für den Menschen nicht mehr rechnet."
Diese rein ökonomische Herangehensweise ist im deutschen Gesundheitssystem keine Option: Anders als das britische ist es nicht steuerfinanziert, sondern basiert auf Beiträgen und dem Solidaritätsprinzip. Außerdem lehrt die Erfahrung, dass Konkurrenz und technischer Fortschritt dafür sorgen, dass Preise sinken. Und im deutschen System existiert ein gewaltiges Einsparpotential.
"Da müssen wir überlegen, wo geben wir zu viel Geld aus. Im Arzneimittelbereich bedeutet das, dass man Arzneimittel in der Tat Preisverhandeln darf. Wir dürfen ja seit einigen Jahren geheime Rabatte bei den Arzneimittelherstellern bekommen, und die genauen Zahlen sind, glaube ich, eines der bestgehüteten Geheimnisse im Gesundheitswesen überhaupt."

Digitalisierung birgt gewaltige Sparpotenziale

Und die Industrie mache immer noch Gewinn, bekräftigt Jens Baas. Auch an anderer Stelle erkennt der Chef der Techniker Krankenkasse gewaltige Sparpotentiale.
"Wir hinken im Thema Digitalisierung unglaublich hinterher. Dieses Unglaublich-Hinterherhinken in der Digitalisierung kostet Geld, weil es nämlich an vielen Ecken Verwaltungskosten erzeugt. Wir haben Verwaltungsprozesse, die unglaublich viel Geld kosten, obwohl sie digital viel einfacher funktionieren könnten. Das kostet Geld, weil es Behandlungsfehler fördert.
Es gibt eine Studie die McKinsey gemacht hat im letzten Jahr, die gesagt haben, allein die Digitalisierung hat ein Potenzial von etwa 30 Milliarden Euro Kosteneinsparung in der GKV – alleine nur die Einführung von vernünftiger Digitalisierung."
Noch müsse man sich deshalb keine Gedanken darüber machen, Therapien ab einem gewissen Alter nicht mehr zu bezahlen.
"Solange man solche Verschwendung noch im System hat, ist es unethisch, Leuten was vorzuenthalten, nur aus pekuniären Gründen."
"Aber das soll und darf und kann keine Einladung an pharmazeutische Unternehmen sein, in Bereichen in denen wirklich ein ‚medical need‘ besteht, in denen armen Patienten eben keine Therapieoption mehr haben, Preise zu fordern, die teilweise – ohne jetzt wegen Beleidigung verklagt werden zu wollen –, aber die teilweise in der Nähe dessen sind, was ich im privaten Rechtsverkehr als Wucher bezeichnen würde", sagt Josef Hecken vom Gemeinsamen Bundesausschuss. Man müsse auf die Evidenz achten, darauf, dass die Mittel wirklich halten, was sie versprechen – und die Preise immer wieder nachjustieren.
Gentherapien werden zu einer ethischen und finanziellen Herausforderung für die Gesundheitssysteme. Emily Whitehead steht für die Hoffnung, die sich mit ihnen verbindet. Inzwischen geht sie auf die Highschool. Man sieht ihr nicht mehr an, wie krank sie einmal gewesen ist, erzählt ihr Vater Tom.
"Emily interessiert sich sehr für Kunst und das Filmemachen, und wir versuchen sie zu fördern, wo immer es geht. Sie ist die beste Schülerin in ihrer Klasse, alles nur Einsen. Wir haben solch ein Glück gehabt, dass ihre Behandlung ihre Lernfähigkeit nicht beeinträchtigt hat."
Für Emily Whitehead bedeutete die neue Therapie die einzige Chance auf Leben.
"Sie ist ein normales, 14 Jahre altes Mädchen, das mit ihren Freunden zur Schule geht und ihr Leben genießt."
Vor sieben Jahren sah das noch ganz anders aus...

Autorin: Dagmar Röhrlich
Sprecherin und Sprecher: Ilka Teichmüller, Thomas Holländer, Olaf Ölstrom, Martin Mair
Regie: Frank Merfort
Ton: Thomas Monnerjahn
Redaktion: Martin Mair
Produktion: Deutschlandfunk Kultur 2019

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