Die richtige Entscheidung zum richtigen Zeitpunkt
Die Grünen lösen sich aus der Starre nach den geplatzten Jamaika-Sondierungen: Annalena Baerbock und Robert Habeck stehen für einen Generationswechsel, kommentiert Barbara Schmidt-Mattern. Die Partei führen erstmals zwei Realos, die grüne Kernthemen vorantreiben wollen.
Auf der Suche nach dem besten Parteilied rauchten den Grünen heute Morgen die Köpfe: "Karl der Käfer"? "Mein Freund, der Baum" oder doch Rockröhre Ina Deter und ihr Klassiker "Neue Männer braucht das Land?" Das jedenfalls haben die Delegierten auf diesem Parteitag wörtlich genommen. Die Wahl von Robert Habeck und von Annalena Baerbock ist die richtige Entscheidung zum richtigen Zeitpunkt.
Die beiden – 37 und 48 Jahre alt – stehen für einen Generationenwechsel bei den Grünen, sie haben starken Rückhalt in der Parteiführung und an der Basis. Sie wollen grüne Kernthemen – Klimaschutz, Europa, den Kampf gegen Kinderarmut – vorantreiben und für die gesamte Partei sprechen.
Große Mehrheit für die neuen Chefs
Was für ein Riesenschritt: Keine acht Wochen ist es her, dass die Grünen auf einem Parteitag direkt nach den geplatzten Jamaika-Sondierungen ihre Wunden leckten – jetzt aber haben sie die Schockstarre ein ganzes Stück weit überwunden und zetteln gleich mal parteiintern eine Mini-Revolution an: Der Wahlsieger und Jamaika-Brückenbauer Habeck darf in Schleswig-Holstein noch acht Monate Minister bleiben, auch wenn er jetzt Parteichef ist – das ist keine Tabubruch, sondern kluge Strategie. Die Abstimmung über diese Satzungsänderung glich am späten Freitagabend einem Mitternachts-Krimi, und doch fiel das Ergebnis am Ende deutlicher denn je aus. Mit weit mehr als der nötigen Zweidrittelmehrheit gewähren die Grünen ihrem neuen Chef nun die eingeforderte Beinfreiheit.
Und sie haben sich zum ersten Mal in der Geschichte der Partei für zwei Realos an der Parteispitze entschieden. Das wiederum ist ein Sieg vor allem für Annalena Baerbock. Denn während ihr Co-Vorsitzender schon länger im Blitzlichtgewitter der Medien badet, war Baerbocks Kandidatur im Dezember eine Überraschung, die nur Eingeweihte schon seit längerem erwartet hatten. Die 37-Jährige, die ihren Wahlkreis in Brandenburg hat, also im Osten, wo die Grünen traditionell schwach sind, kann ganze Passagen aus internationalen Klimaschutz-Abkommen in Sekundenschnelle zusammenfassen. Und sie legt sich derart mit der Kohlelobby an, dass die FDP alt aussieht.
Auf dem Weg zur Volkspartei?
Die Achillesferse der Grünen bleibt aber die Flüchtlingspolitik. Hier müssen wir endlich konkreter werden, heißt es. Und ehrlicher. Wie umgehen mit der Frage sicherer Herkunftsstaaten, mit umstrittenen Flüchtlingslagern in Nordafrika oder der Festung Europa im Mittelmeer? Die Antworten stehen aus. Immerhin ist Robert Habeck heute das Kunststück gelungen, den Bogen zwischen uns und denen zu schlagen: "Die Menschen verrecken im Mittelmeer und wir sind ein Teil davon," sagte er in seiner Bewerbungsrede.
Wie wahr und doch in diesen drastischen Worten selten gehört in der deutschen Politik. Mit Habeck und Baerbock steht jetzt eine neue alte Frage im Raum: Wollen die Grünen doch noch Volkspartei werden? Antworten gibt es ab Montag. Dann nimmt der neue Bundesvorstand seine Arbeit auf.