Neue Hüfte, neues Knie

Ein implantiertes Gelenk braucht Muskulatur

23:06 Minuten
Darstellung eines künstlichen Hüftgelenks im Becken eines Menschen: Durch sportliche Betätigung vor und nach der OP können Patienten den Heilungsprozess nach einer Operation unterstützen.
Künstliches Hüftgelenk: Früher sollte man nach der OP erst mal ruhen. Heute heißt es: Aufstehen, Bewegung! © picture alliance / Klaus Rose, dpa
Von Anke Petermann |
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Sport statt Bettruhe: Damit die Muskulatur nicht schrumpft, sollen sich Patienten nach Hüft- oder Knie-Operationen sofort wieder bewegen. Noch besser ist es, schon vor der OP zu trainieren, denn das nutzt dem späteren Heilungsprozess.
Patientenseminar an der Universitätsmedizin Mainz. Thomas Klonschinski, Oberarzt in der orthopädischen Chirurgie, kommt zügig zur Sache. Drei Tage ausruhen nach der Operation – das war einmal.
"Sie sollen am OP-Tag schon stehen. Wir erwarten das quasi von Ihnen. Und wir machen das auch mit Ihnen. Wir scheuchen Sie nicht aus dem Bett mit einem Feldwebel, sondern da kommt jemand, der Ihnen hilft."
Neue Hüfte, neues Knie - und keine Schonzeit. Damit aber auch kein Verlust von Muskelmasse durchs Liegen. Das ist die Botschaft an die sechs Zuhörer zwischen Ende 40 und Mitte 60. Sie alle leiden, teils unfall-, teils altersbedingt an Arthrose, also Gelenkverschleiß, samt unerträglichen Schmerzen beim Gehen. In den nächsten Tagen wird ihnen eine Prothese implantiert. Im Patientenseminar werden sie einen Vormittag lang darauf vorbereitet. Keine Bettruhe nach der OP – Nikolaus Falker schreckt diese Aussicht nicht.
"Ich bin grundsätzlich ein sehr mobiler Mensch. Und das belastet mich sehr, dass ich nicht mehr so kann, wie ich möchte. Und ich bin auch bereit, alles zu unternehmen, damit das Ganze wieder in die richtigen Bahnen gelenkt wird."

Risikofaktoren sind Übergewicht und exzessiver Sport

Zu den Kandidaten für implantierte Knie- und Hüft-Prothesen zählt Philipp Drees, Chefarzt Orthopädie an der Mainzer Universitätsmedizin, unter anderem Sportler, nämlich Fußballer, Tennisspieler und Skiläufer, die vor dreißig Jahren eine Kreuzband-Verletzung hatten, mit 20 – und heute 50 sind und sagen, "jetzt geht es nicht mehr".

Jungen Patienten setzt Professor Drees immer häufiger neue Gelenke ein.
"Es gibt einen Großteil, die einfach sehr früh übergewichtig sind und dadurch Verschleiß haben. Und es gibt viele, die Risiko-Sportarten machen – das Mountain-Biken, das viel exzessiver gemacht wird, wo es zu viel mehr Verletzungen kommt – die aufgrund ihrer Risiko-Sportarten Brüche im Bereich des Gelenks gehabt haben, die 20, 30 Jahre heilen, aber irgendwann dann zu Verschleiß, zu Arthrose führen. Und diese Gelenke werden dann eben relativ frühzeitig ersetzt."
Keine Bettruhe nach der OP: Den Patienten Nikolaus Falker - hier in der Universitätsmedizin Mainz -  schreckt diese Aussicht nicht.
Keine Bettruhe nach der OP: Nikolaus Falker - hier in der Universitätsmedizin Mainz - schreckt diese Aussicht nicht.© Deutschlandradio / Anke Petermann
Nikolaus Falker ist 66. Risiko-Sportarten hat er nicht betrieben. Aber Jahrzehnte lang hat der Heizungsbau- und Sanitärmeister schwere Rohre und Wannen geschleppt.
"Wenn man so ein ganzes Leben dann Revue passieren lässt, sind das einige Tonnen, die man bewegt hat in der Zeit. Und ich kann mir vorstellen, dass das auch irgendwo auf die Gelenke geht."
Zuletzt waren die Hüftschmerzen so stark, dass Falker aufs Radeln verzichtete, Treppen mied – und an Gewicht zulegte. Im Patienten-Seminar erfährt der Pensionär nacheinander vom Chirurgen, dem Anästhesisten und der Pflegechefin, warum er sich so bald nach dem Eingriff wieder bewegen kann: Schonende OP-Methoden, kleine Schnitte und der Verzicht auf Schläuche machen es möglich.
All das gehört zum fünf Millionen Euro schweren Modellprojekt mit dem Kürzel "Promise". Das Geld stammt aus dem Innovationsfonds, bewilligt vom gemeinsamen Bundesausschuss von Kassen, Ärzten, Krankenhäusern und Patienten.

"'Promise' verspricht: richtige Indikationsstellung", so der Mainzer Orthopädie-Chefarzt Drees: "Das heißt nicht anhand des Röntgenbildes, oder nicht allein anhand des Röntgenbildes, nach ausreichender Physiotherapie in Rücksprache mit dem Patienten, das verspricht 'Promise'".

Gelenk-Prothese als letzte Option

Soll heißen: Knie und Hüften werden nicht leichtfertig durch Endoprothesen, also implantierte künstliche Gelenke, ersetzt. Sondern erst wenn alle anderen Versuche gescheitert sind, Beweglichkeit und Lebensqualität zu erhalten.
Für die Krankenkassen liegt darin die Zusage, dass die Projekt-Beteiligten die Kosten im Blick haben. Ein Sparvorhaben soll "Promise" aber nicht in erster Linie sein. Ohne Patienten-Aufklärung könnte es jedoch so wirken. Deshalb findet Professor Drees das präoperative Seminar unverzichtbar:
"Weil sonst bei dem Patienten der Eindruck entsteht: Die haben kein Personal mehr, und deswegen muss ich alles alleine machen. Nein, es ist ganz anders. Es ist am Anfang aufwendiger für das Personal drumherum, für die Physiotherapie, für die Pflege, weil Sie eben nicht im Bett liegen und sie sagen, da hast du einen Katheter, da läuft der Urin ab, da hast du eine Bettpfanne, und hier hast du noch Schläuche im Knie, und damit kannst du sowieso nicht laufen. Es ist am Anfang aufwendiger, aber das Ergebnis ist viel besser."
Drainageschläuche, Bettpfanne und verordnete Bettruhe – warum gehörte all das überhaupt so lange zum Behandlungskonzept beim Implantieren neuer Gelenke?
"Früher war das Hauptrisiko ja, dass die Hüften herausgesprungen sind, dass die Gelenke nicht stabil waren", erinnert sich Johannes Schröter. Als Chefarzt Orthopädie an der Median-Reha-Klinik Aukammtal in Wiesbaden nimmt auch er an "Promise" teil. Lange dominierte die Furcht vor der Luxation, der Ausrenkung des Gelenks, die Nachsorge:
"Das hatte zwei wesentliche Gründe. Das eine waren die OP-Verfahren: Man hatte noch sehr große Schnitte gemacht, die Muskulatur abgelöst und damit die auch geschwächt. Und das zweite war: Man hat die Patienten sehr lange immobilisiert und dann nur sehr vorsichtig wieder mobilisiert. Das hat dazu geführt, dass die Patienten viel Muskulatur an Masse verloren haben, durch die lange Ruhigstellung. Und auch die Koordination war eingeschränkt."

Bewegung durchblutet das Gewebe

Heute trainieren Patienten schon vor der Gelenk-OP. Bewegung vorher kurbelt den Stoffwechsel an und durchblutet das Gewebe um die Knochen, das nutzt dem Heilungsprozess danach. Bei Übergewicht hilft jedes Kilo weniger. Die Seminar-Teilnehmer an der Uni Mainz haben schon beim ersten Arztgespräch Ordner mit Übungs-Tipps bekommen. Nikolaus Falker hat seine Hausaufgaben gemacht.
"Ich hab' mir das alles schon angeguckt und hab' auch einen Home-Trainer zuhause, den nutze ich auch, sofern das eben die Schmerzbelastung zulässt."
Gisela Falker begleitet ihren Mann zum Patientenseminar. Muss sie ihn zum Üben drängen?
"Nee, ich brauch' da keinen Druck zu machen, den macht er sich selber genug. Ich bleib da ganz entspannt. Ich unterstütze ihn halt."
Ihr Mann bekommt soeben die Gehhilfen, im Volksmund Krücken genannt.
"Ein paar blaue? Die stelle ich Ihnen jetzt auch ein."
Blaue oder rote Griffe - die Teilnehmer des Patientenseminars dürfen wählen. Bodo Nietzel vom Mainzer Sanitätshaus Conradt Scherer passt die Unterarm-Stützen individuell an.
"So Clip rausziehen, auf vier stellen."
Der Bandagist mustert Nikolaus Falker.
"Das müsste eigentlich schon von der Höhe gut sein. So, probieren Sie mal bitte."
Passt, aber der letzte Spaziergang mit Krücken ist bei Falker eine Weile her. Bodo Nietzel nickt.
"Ist schon wieder 'ne Zeitlang her, da kriegen Sie jetzt gerade noch mal die Einweisung von dem Physiotherapeuten - der sitzt da schon bereit."
Der Mann vom Sanitätshaus weist zu Adam Ptak, Physiotherapeut an der Uniklinik Mainz.
"Gut - lassen Sie uns das mal kurz üben."
Ptak übernimmt und deutet auf den Klinikflur vorm Seminarraum.
"Wir gehen jetzt nach draußen, und anschließend machen wir auch die Treppe."
Auf dem langen Korridor leitet der Physiotherapeut Falker und die anderen Seminarteilnehmer an: nicht humpeln, sondern natürlich gehen wie beim Nordic Walking - und die Gehhilfen nutzen, um nicht zu fallen.
"Achtung Gegenverkehr!"

Patienten sollen sich als handelnd verstehen

Das Coaching hilft den künftigen Orthopädie-Patienten, sich die ersten Schritte nach der OP vorzustellen. Sich nicht als Leidende zu sehen, sondern als Handelnde.
Schmerzfrei werden sie nach dem Eingriff nicht sein. Aber der Schmerz rührt nicht von der Prothese. Da ist sich Ulrich Betz sicher. Der Leiter der Physikalischen Therapie an der Mainzer Uniklinik weiß: Die OP-Wunde schmerzt, aber sie wird ja bestens versorgt.
"Von daher haben wir kein schlechtes Gewissen, den Schmerz zu dämpfen auf ein Maß, das der Patient sehr gut ertragen kann, und dem Patienten auch zu sagen: 'Das, was an Schmerz übrig ist, ist nicht gefährlich für dich. Der Körper wird lernen, dass das heilen wird, dass alles gut ist'."
"Das rechte Bein mal vor, nicht so große Schritte."
Das Gehen mit Krücken klappt, sogar die Treppe ist zu bewältigen - bei Nikolaus Falker wachsen Motivation und Zuversicht, bei seiner Frau auch.
"Man weiß so im Großen und Ganzen, was auf einen zukommt, das beruhigt schon im Großen und Ganzen, ja."
"Das klappt auf jeden Fall sehr schnell, da bin ich ganz sicher."
Früher blieben Patienten mit Gelenk-Prothesen durchschnittlich elf Tage im Krankenhaus, heute sieben.
"Ok, jetzt bewegen Sie mal das operierte Bein. Indem Sie einen Schritt nach vorn machen, und einen Schritt nach hinten."
Wer die schützende Muskulatur ums neue Gelenk so konsequent trainiert wie Renate Ulrichs, kann schon nach vier Tagen wieder draußen sein. Allerdings nicht zuhause, sondern in der Reha. In der Wiesbadener Median-Klinik Aukammtal macht die pensionierte Lehrerin beim Ganzkörpertraining mit.
"Füße gerade, Rücken gerade."
Der Physiotherapeut Domenico Pirulli bringt Bewegung in die operierten Gelenke und Entspannung in den Schultergürtel. Schultern und Arme sind bei vielen Operierten vom Gehen an Krücken strapaziert.
"Das sind alles Übungen, die man selbst machen kann und selbst machen sollte, vor allem am Wochenende, wenn nicht ganz so viel los ist."
Drei Tage Bettruhe nach der ersten Hüft-OP vor neun Jahren hatten sie Kraft und Fitness gekostet: Jetzt trainiert Renate Ulrichs, weil es sie voranbringt.
Drei Tage Bettruhe nach der ersten Hüft-OP vor neun Jahren hatten sie Kraft und Fitness gekostet: Jetzt trainiert Renate Ulrichs, weil es sie voranbringt.© Deutschlandradio / Anke Petermann
Renate Ulrichs beherzigt den Rat und trainiert auch auf dem Zimmer weiter. Einfach, weil sie merkt, dass es sie voranbringt.
"Nach ein paar Tagen bin ich aus dem Zimmer rausgegangen und habe mich gewundert – irgendwas fehlte – ooch, ich hab' meine Krücken vergessen. Weil es schon so gut ging."
Weil die projektbeteiligten Krankenhäuser jetzt früher fittere Patienten entlassen, intensiviert sich auch die Rehabilitation. Renate Ulrichs hat den Vergleich. Drei Tage Bettruhe nach der ersten Hüft-OP vor neun Jahren hatten sie erstmal Kraft und Fitness gekostet.
"Damals war ich auch schon in der Aukamm-Klinik zur Reha. Und es waren so drei verschiedene Anwendungen am Tag, maximal vier. Und jetzt ist man gut zu Fuß, das heißt sechs- bis siebenmal am Tag, und es bringt unheimlich viel."
Ullrichs litt an einer Hüftdysplasie, eine Fehlstellung des Gelenks, die bei ihr als Kind nicht behandelt wurde. Dass sie dennoch erst mit Anfang 60 die erste Endoprothese brauchte und mit 70 die zweite, wertet die frühere Sport-Lehrerin als Erfolg langjährigen Trainings:
"Ich habe sehr früh angefangen, Ballett zu machen, das hat mir geholfen, dass ich nicht operiert werden musste in den Anfängen. Weil - die Muskulatur ist halt so gestärkt. Aber im Lauf der Jahre habe ich gemerkt, das ziept."

Bewegung heilt und beugt vor

Um ihr Hobby zu behalten, entschloss sich Ulrichs zur OP. Die pensionierte Pädagogin hält an ihrer Erfahrung fest, dass Bewegung heilt und vorbeugt. Lässt der Chefarzt Orthopädie in der Reha sie mal warten, funktioniert sie das gleich in eine Übungseinheit um. Johannes Schröter war soeben mit Therapieleiterin Theresa Liebenthal zu Ulrichs unterwegs, beide loben die aktive Patientin:
"Wie Sie schon mal probiert haben, ohne Stöcke zu gehen, wir haben Sie ja nur so als Schatten gesehen. Das war einfach schön, das hat uns total gefreut, wie sie so ein bisschen schon üben, so 'n bisschen ohne zu gehen. Man merkt, dass sie eine Ballett-Ausbildung haben."
Das Pendant zu den präoperativen Patientenseminaren an der Mainzer Unimedizin sind an der Wiesbadener Reha-Klink die Chefarzt-Vorträge. Mit echten Prothesen aus Titan und Kunststoff zeigt Johannes Schröter, wie sich die raue Oberfläche des Prothesenschafts mit dem umgebenden Knochengewebe elastisch und dennoch stabil verbindet: Knochenbälkchen wachsen in die raue Prothesenoberfläche ein.
Bei 90 Prozent der Patienten sind mittlerweile sogenannte zementfreie Prothesen implantiert. Diese setzen auf die Heilungsreaktion des Knochengewebes. Ausdrücklich rät der Orthopäde seinen rund 20 Zuhörern davon ab, die Gehstützen zu früh in die Ecke zu stellen.
"Wenn Sie in den ersten vier Wochen nach der OP nochmal stolpern und einen Ausfallschritt machen und so richtig stockvoll drauf treten, dann reißen Sie diese kleinen frischen Knochenbälkchen los. Und deswegen bitten wir Sie, einfach in den ersten Wochen die Stöcke noch mit sich zu führen."
Schröters Chefarzt-Vortrag – für Operierte die Gelegenheit, Fragen loszuwerden. Schon am Anfang der Reha interessiert viele brennend, ob und wann sie ihren Lieblings-Sport wieder treiben dürfen.

Patientin: "Eine Frage: Wie steht es denn mit Joggen?"
Schröter: "Joggen hat folgenden Nachteil, das ist ja der Galopp, man hat ja für einen kurzen Zeitpunkt beide Beine in der Luft. Wenn Sie natürlich sagen, das ist die Sportart, die ich liebe – machen Sie es gern. Mir ist es lieber, dass Sie aktiv sind. Ein künstliches Gelenk hat natürlich eine begrenzte Lebensdauer. Die ist mittlerweile aber gigantisch gut. Also, die neuesten Zahlen, die wir haben, zeigen, dass 90 % der Implantate, die wir vor 15 Jahren eingebaut haben, heute noch ihren Dienst tun."

Langlauf, Nordic Walking, Schwimmen

Pauschalverbote gibt es nicht, die Therapieleiterin der Rehaklinik rät, sich auf Geübtes zu verlassen und keine neue Sportart anzufangen. Kontaktsportarten wie Kampfsport oder Volleyball – eher ungünstig, findet Theresa Liebenthal. Zu unkalkulierbar die Einwirkung des Gegners und die Sturzgefahr. Aber:
"Ich kenne auch Menschen im Kampfsport, die sind 82, die sagen, ich mache das, mir geht’s gut, ich hab' zwar auch ein neues Knie, ich kann nicht mehr so mit ganz schweren Gegnern arbeiten, aber mit Maß und Gefühl tut's mir gut. Dann ist das für mich als Therapeutin vollkommen in Ordnung, weil ich als Therapeutin sage, ich möchte ja, dass der Mensch sich bewegt."
Philipp Drees, Chefarzt Orthopädie an der Mainzer Uniklinik, sagt den Sportbegeisterten unter seinen Patienten:
"Es gibt ideale Sportarten hinterher, zum Beispiel Langlauf, Nordic Walking – gleichmäßige Bewegungen – Schwimmen. Wenn Sie aber einen passionierten Skifahrer oder Tennisspieler haben, dann gehört zu seiner Lebensqualität, dass er das auch wieder machen möchte. Und dann ist es so: Die Dosis macht das Gift. Nicht jede schwarze Piste ist ideal, vielleicht die roten und die blauen nehmen. Vielleicht beim Tennis eben nicht drei Stunden, sondern eine Stunde Doppel – macht auch Spaß."
"So – jetzt machen wir noch eine Übung, die jeder von Ihnen kennt …"
Doch vor Tennis, Ski und Joggen kommt gelenkschonender Reha-Sport – kann auch im Sitzen sein, weit vorn auf der Stuhlkante. Domenico Pirulli macht es in einem der Gymnastikräume der Wiesbadener Reha-Klinik vor - Beine mit aufgesetzter Ferse nach vorn gestreckt.
"Fußzehen hochziehen, Kniekehlen runterdrücken, und jetzt die Beine im Wechsel aus dem Becken rausschieben."
"Schon anstrengend", stöhnt Renate Ulrichs.
"Ohne Fleiß keinen Preis", gibt Physiotherapeut Pirulli ungerührt zurück. Renate Ulrichs hat in der Woche vor der Entlassung ein straffes Programm. Allein an diesem Nachmittag gehören nach der Stunde Ganzkörper-Training noch 20 Minuten Radeln auf dem Stand-Fahrrad und eine Stunde Wassergymnastik dazu. Dazwischen mit Gehhilfen treppauf und treppab sowie über lange Flure laufen.
Das bewegte Krankenhaus entlässt Patienten, die sofort trainieren können. Das macht aus der Reha zunehmend eine sportliche Veranstaltung. Patienten, die sich ungern bewegen, begeistert das weniger. Die frühere Hobby-Tänzerin Renate Ulrichs dagegen sehr. In ihrem Zimmer hat sie sich den Bademantel übergeworfen, strebt jetzt zum Schwimmbad. Gemeinsam mit einem halben Dutzend Reha-Teilnehmer lässt sie sich kurze Zeit später ins Trainingsbecken sinken.
"So, dann jetzt mal Fersen zum Gesäß 'ranziehen. Und die Arme immer mit bewegen."

Im Wasser wiegt man nur Einzwanzigstel

Wassergymnastik fordert und schont zugleich, weiß Physiotherapeut Domenico Pirulli.
"Die Gelenke werden nicht belastet. Wenn man bis zum Hals ungefähr im Wasser steht, wiegt man so in etwa ein Zwanzigstel von seinem Körpergewicht, also so gut wie keine Belastung auf den Gelenken. Aber die Muskulatur wird dabei trainiert, weil die Extremitäten gegen den Wasserwiderstand bewegt werden. Macht auch den meisten Patientensehr viel Spaß, weil es schmerzfrei ist im Waser, und die Bewegungen gehen dann leichter. Das ist halt sehr, sehr beliebt."
Kommando an die Sportler:
"So. Dann jetzt mal die Arme seitlich weg strecken, auf ein Bein stellen und mit dem anderen Bein einfach mal Fahrrad fahren. Versuchen, das Gleichgewicht zu halten."
Rumpf stabilisieren, Balance halten, das neue Gelenk schonend beugen - all das übt Renate Ulrichs. Nach der Entlassung kommende Woche wird die 70-Jährige frei gehen und Auto fahren können. "Wir führen die Patienten schneller ins Leben zurück", sagt Johannes Schröter, Chefarzt Orthopädie an der Reha-Klinik in Wiesbaden.
Sabine Meyer hat soeben den Chefarzt-Vortrag verfolgt. Die Knie-Patientin nimmt in der Wiesbadener Reha alle Angebote wahr, die ihr später im Job helfen können.
"Was die Haltung am Arbeitsplatz angeht. Also, ich nehm' hier mit, was ich kriegen kann. Richtig zu sitzen – wenn man das hier anbietet, warum nicht. Ich war schon auf einem Vortrag dazu, da wird man auch praktisch einen Stuhl … - wie das eingestellt werden muss – das finde ich richtig gut."
"Und das ist ja eines der Studienziele, die wir mit 'Promise' untersuchen wollen", so Doktor Schröter, Chefarzt Orthopädie:
"Gerade bei den berufstätigen Menschen, fangen die früher an, wieder zu arbeiten? Entstehen weniger Kosten? Denn wenn jemand schmerzfrei ist und frei laufen kann, braucht er weniger Medikamente und Therapien im Nachgang, und so glauben wir, dass wir das Gesundheitssystem deutlich entlasten können."
Also am Ende doch sparen, aber eher als Nebeneffekt. "Wenn die Projektbeteiligten es nicht übertreiben und die Aufenthaltsdauer in Krankenhaus und Reha nicht immer weiter kürzen, ist es ein hilfreiches Konzept." Auch solche Stimmen sind zu hören. Man müsse die Patienten mitnehmen auf dem Weg der beschleunigten Gesundung. Genau das ist der Kern des Modellprojekts "Promise".
"So, legen wir den Oberkörper erstmal ein bisschen flach, damit der Oberkörper nicht so im Weg ist"
"Okay."
Claudia Link, Physiotherapeutin an der Mainzer Uniklinik, bewegt das Oberteil des Krankenbetts nach unten. Nikolaus Falker hat seine Hüft-Operation soeben überstanden. Unmittelbar nach dem Eingriff: die erste Trainingseinheit, wie im Patientenseminar kurz vor der OP angekündigt. Die Physiotherapeutin beugt sich vorsichtig über den liegenden Patienten, bewegt sein rechtes Bein auf der gerade operierten Seite.
"Ich nehme Ihnen das Gewicht vom rechten Bein ab, und Sie machen noch gar nichts. Entspannen Sie sich."
Nikolaus Falker verzieht das Gesicht. Claudia Link hebt sein rechtes Bein ein bisschen weiter, beugt es.
"Ganz locker bleiben."
Im Wechsel bewegt die Physiotherapeutin die Beine des Liegenden, kommentiert dabei:
"Das linke Bein, das nicht operierte Bein, kann dem operierten Bein auch zeigen, wie es geht. Wie weit komme ich, was ist mein Ziel. Denn mein Ziel ist ja, dahin zu kommen, wo ein gutes Bein jetzt schon ist."
Claudia Link wendet sich an den Patienten. "Gut, Herr Falker, dann geht’s jetzt mal an die Bettkante."
Falker: "Schau mer mal."
Die resolute Physiotherapeutin weist Falker detailliert an, wie er sich zum Sitzen auf der Bettkante aufrichten soll:
"Sie positionieren sich erstmal ein Stück zu mir rüber, einmal das linke Bein aufstellen, den Popo anheben und zu mir an die Bettkante kommen."
Der Operierte rückt nach vorn.
"Lockerlassen, Hand geben und komm hoch."
Geschafft – aufrecht sitzt Falker an der Bettkante, die frisch operierte Hüfte gebeugt.
"Okay. So."
Link gönnt dem Patienten eine Pause.
"Erstmal sitzen und schnaufen. So, dann dürfen Sie mal Ihr Poloshirt anziehen."

Nach der OP wird das Sportzeug angezogen

Der Pensionär streift ein leuchtend blaues Shirt über, er trägt schwarze Sporthose. Nach dem Eingriff das OP-Hemd abzulegen und eigene bewegungsfreundliche Kleidung anzuziehen, gehört zum Modellprojekt "Promise", erklärt die Physiotherapeutin.
"Dass man einfach direkt einen Alltag nach der OP hat. Nicht dass man denkt: Uhuhu, ich hab' noch dieses tolle Nachthemd und brauche nichts zu machen, alle machen für mich. Sondern: sportliche Kleidung, bequeme Kleidung, dass man sich einfach so wie im Alltag fühlt. Und dann auch erst abends einen Schlafanzug."
Denn: die "Promise"-Teilnehmer mit den Knie- und Hüft-Prothesen gelten nicht als krank und schonungsbedürftig. Sie sind nur operiert. Und in der Lage, sich zu bewegen. Genau das steht jetzt an: das erste Aufstehen aus dem Bett mit frisch implantierter künstlicher Hüfte. Mit dem Schuhlöffel zieht Falker seine Sportschuhe an. Claudia Link stellt ihm den Gehbock hin. Auf den kann er sich erstmal stützen. Los geht’s.
"So, einmal hinstellen. Sie dürfen alles, was Sie können. Bock nach vorn und Schritt und Schritt. Jawohl."
Falkners Kreislauf ist stabil, keine Schmerzen im neuen Hüftgelenk – das Projekt "Promise" hat gehalten, was es versprach. Nach ein paar Schritten am Gehbock darf der 66-Jährige schon auf die Krücken wechseln. Gut, dass er das sichere Gehen mit Unterarm-Stützen ein paar Tage zuvor im Patientenseminar üben konnte.
"Stützen rechts und links. So ist es super, jawohl!"
Die Premiere gelingt – das Konzept geht auf – wieder einmal, freut sich die Physiotherapeutin an der Mainzer Uniklinik.
"Die Patienten müssen halt Bock haben."
Nikolaus Falker hat Bock, sofort mobil zu sein.
"Ich will mei' Enkelsche wieder schuckele!"
"Ja – und jetzt rückwärts einparken, bitte."
Vorsichtig lässt sich der Patient zurück aufs Bett sinken, bedankt sich bei der Physiotherapeutin.
Bewegtes Krankenhaus, intensivierte Reha, aktivierte Patienten – diese Grundidee taugt nicht nur für die Orthopädie – davon sind Philipp Drees und Johannes Schröter, die kooperierenden Chefärzte in Mainz und Wiesbaden, überzeugt – noch bevor die Forschungen im Rahmen von "Promise" abgeschlossen sind. Und, so Johannes Schröter:
"Die Lebensfreude, die wir den Menschen geben, die ist unbezahlbar."
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