Gesellschaftlicher Wandel

Neue Impulse für die Demokratie

55:03 Minuten
Illustration: Diverse protestierende Bürger mit einem übergroßen Megafon.
Mehr Mitsprache: Politik und Kultur suchen nach neuen Wegen demokratischer Beteiligung. © imago / fStop Images / Malte Mueller
Moderation: Vladimir Balzer |
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Viele Menschen fühlen sich von der Parteiendemokratie, wie wir sie kennen, nicht mehr repräsentiert. Abhilfe könnten moderne Beteiligungsformen schaffen, die mehrere europäische Länder bereits eingeführt haben – eine hat mit dem Zufall zu tun.
Die Landtagswahl in Nordrhein-Westfalen hat es gezeigt: Bei 55,5 Prozent Wahlbeteiligung war die größte "Partei" die der Nichtwähler. Politikverdrossenheit und Resignation sind weit verbreitet, viele Menschen scheinen sich durch die repräsentative Demokratie nicht mehr vertreten zu fühlen. Um das Interesse an unserer Gesellschaftsform zu stärken, müssen wir sie verändern.
"Die Kunst der Demokratie" war das Motto des 11. Kulturpolitischen Bundeskongresses in Berlin. Bei der Podiumsdiskussion "Demokratie in der Krise?" debattierten Gäste über die Lage der demokratischen Kultur und Wege aus der Demokratiemüdigkeit.

Wie es der Zufall will

Ein Schlüssel dazu ist Teilhabe. Doch mit der Partizipation tut sich Deutschland schwer. Dabei gibt es viele innovative Konzepte. Etwa die Bürgerbeteiligung per Los, meint die Politikwissenschaftlerin Brigitte Geißel: das Zufallsprinzip als Garant für eine vielfältige demokratische Beteiligung.
"Ostbelgien hat das eingeführt. Die haben jetzt ein sehr schönes System mit Bürgerräten", sagt Geißel: "Das sind Zufalls-ausgewählte Bürger, die zu unterschiedlichen Themen diskutieren, ganz ähnlich wie normalerweise die sogenannten Interessenverbände – aber hier ist es eine normale Bürgerschaft, die sagt: Unsere Position zu dem Thema ist so und so."
Auch in Deutschland gibt es per Los ausgewählte Bürgerräte. Doch sie agieren meist auf regionaler und kommunaler Ebene – wenn es um die Umgehungsstraße oder das neue Schwimmbad geht. Bei nationalen Entscheidungen dürfen sie nicht mitbestimmen. Anderswo ist man da experimentierfreudiger. In Island gestalten Bürgerinnen und Bürger sogar Gesetze mit. Und auch die Iren, sagt Brigitte Geißel, hätten keine Grenze nach oben:
"Als sie ihre neue Verfassung geschrieben haben, hat das Parlament gesagt: Wir wollen auch hören, was die Bürger dazu zu sagen haben, nicht nur das Parlament. Und dann haben sie eine Zufalls-ausgewählte Bürgerschaft einberufen, 'citizens‘ assembly' heißt das auf Englisch. Und das hat super geklappt.“

Die ganze Gesellschaft beteiligen

Unsere Kulturorte sind auch demokratische Orte, denn sie ermöglichen lebendige Auseinandersetzung. Während der Pandemie versuchten die Theater, über digitale Wege bei ihrem Publikum zu bleiben. Doch Streaming von Aufführungen kann echte Begegnung nicht ersetzen.
Nun sei es die große Aufgabe, wieder Öffentlichkeit und Austausch herzustellen, sagt die Intendantin des Hamburger Kulturzentrums Kampnagel, Amelie Deuflhard. Zahlreiche Menschen hätten immer noch Angst, in geschlossene Räume zu gehen, doch langsam füllten sich die Theater. Sie hoffe auf neue Besucherinnen und Besucher:
"Die Publika in allen unseren Häusern sind viel zu homogen. Jetzt ist die Chance, auf Diversität zu setzen. Auch in Bezug auf Menschen mit Einwanderungshintergrund. Partizipation plus soziale Medien plus digitale Medien – das sind die wichtigsten Mittel. Und warum auf dieses homogene, repräsentative Publikum setzen, wie es bei der Kunst in unserem Land immer war? Nein, wir müssen die ganze Gesellschaft beteiligen! Dafür sind wir da."

Mehr Demokratie durch Digitalisierung?

In der Pandemie dominierte das Digitale alle Sparten der Kultur und unser soziales Überleben. Deutschland machte quasi über Nacht einen beachtlichen Sprung hin zur Technologie des 21. Jahrhunderts. Doch wie beeinflusst die schnell wachsende Digitalisierung das demokratische Miteinander? Zu den Stärken digitaler Infrastruktur gehöre, dass man Beteiligung sehr gut sichtbar machen und Verbindungen herstellen könne, sagt der Politikwissenschaftler Thorsten Thiel:
"Wir brauchen diese neuen Formate, weil aufgrund der gesellschaftlichen Veränderungen mehr Leute aktiviert sind und jetzt nach Beteiligungswegen suchen. Und da reicht dann tatsächlich die repräsentative Demokratie, wie sie gerade gebaut ist, an manchen Stellen nicht mehr hin."
Allerdings fände der größte Teil unserer öffentlichen Diskussion über politische Themen heute auf digitalen Plattformen statt, die "bestimmten Konzernen" gehörten, gibt Thiel zu bedenken:
"Und deren Interesse ist zumindest immer doppelt: Sie wollen viel Diskurs und Engagement, aber in einer ganz bestimmten Form. Nämlich zum Beispiel in dieser emotionalen Erregtheit – was dann eher in Phänomene führen kann, die Radikalisierungsprozesse befördern."

Auf der Suche nach Digital-Kompetenz

Dirk Neubauer, der als Bürgermeister der Stadt Augustusburg in Sachsen auf konsequente Bürgerpartizipation setzt, sieht in den digitalen Netzwerken unverzichtbare Hilfsmittel für demokratischen Austausch und Teilhabe. Die Bezeichnung "digitale Revolution" hält er für falsch:
"Es ist eine Evolution. Revolution könnte ich verhindern, aber eine Evolution kann ich nicht aufhalten. Und das können wir nicht mehr aufhalten, also muss ich mich dem doch stellen. Wir müssten längst in den Schulen Kompetenz vermitteln. Dann würden wir mit der Hälfte der Fake-News-Diskussion nichts mehr zu tun haben."
Oft aber werde viel zu spät und viel zu zögerlich reagiert, sagt Neubauer. Dadurch bestünde die Gefahr, ganze Generationen zu verlieren:
"Weil wir erstmals in der Menschheitsgeschichte die Situation haben, dass die nachfolgende Generation mit etwas schneller klarkommt als die Elternschaft. Normalerweise lernen wir von unseren Eltern – und das ist jetzt umgedreht."
(tif)
Es diskutierten:
Amelie Deuflhard, Künstlerische Leiterin und Intendantin von Kampnagel in Hamburg
Brigitte Geißel, Professorin für Politikwissenschaft und Leiterin der Forschungsstelle "Demokratische Innovationen" an der Goethe-Universität Frankfurt am Main
Dirk Neubauer, Bürgermeister der Stadt Augustusburg/Sachsen
Thorsten Thiel, Leiter der Forschungsgruppe "Demokratie und Digitalisierung" am Weizenbaum-Institut
Die Aufzeichnung fand am 09. Juni 2022 beim 11. Kulturpolitischen Bundeskongress in Berlin statt. Eine Veranstaltung in Kooperation mit Deutschlandfunk Kultur.
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