Neue japanische Krimis

Mord und Ritual

Ein Buchladen in Tokio bietet das neue Buch von Haruki Murakami an.
Aus Japan kommen viele neue spannende Krimis. © imago/AFLO
Ulrich Noller im Gespräch mit Joachim Scholl |
Die japanische Kriminalliteratur ist vielfältig. Und mit ihrer speziellen Sicht auf eine stark ritualisierte und strukturierte Gesellschaft spielen die Nippon-Krimis auf internationalem Niveau. Wir haben die Wichtigsten zusammengestellt.
Joachim Scholl: Es ist ein so riesiger Markt geworden: das Segment der Kriminalliteratur. Ganze Abteilungen sind mittlerweile in den großen Buchhandlungen dafür reserviert und zu den mittlerweile kaum noch überschaubaren englischen-amerikanischen-skandinavischen und ja auch deutschen enorm erfolgreichen Krimis treten jetzt Bücher aus Japan – eine ganze Reihe an Nippon-Neuerscheinungen gibt es im Moment, und für uns hat Ulrich Noller mal sortiert. Kommt die Rede auf japanische Literatur, fällt sofort der Name Haruki Murakami, doch außer ihm fällt einem nicht mehr so viel ein – jetzt tut sich anscheinend was hinter ihm, mit japanischen Krimis – und das ordentlich?
Ulrich Noller: Momentan gibt es eine große Blüte an Neuerscheinungen. Krimis aus den letzten 15, 20 Jahren werden ins Deutsche übertragen. Das zeigt ja, wie groß das Interesse der Verlage ist, wenn auch die etwas älteren Romane für marktfähig gehalten werden. Auffällig ist eine große kreative Vielfalt zwischen Thriller, Ermittlerkrimi, Gangster- und Polizeiroman. Es ist gewissermaßen alles da, was man kennt und erwartet, konkurrenzfähig auf internationalem Niveau – und oft zudem mit einer speziellen japanischen Note.
Scholl: Ja, wie sieht diese Note aus, gib es so etwas wie eine typisch japanische Art und Weise, Krimi zu schreiben?
Noller: Es gibt nicht "den" typisch japanischen Krimi wie den englischen Landhausroman oder den hartgesottenen US-Krimi oder den skandinavischen Schlechtwetterermittlerkrimi. Mein Eindruck ist, dass die japanischen Kriminalschriftsteller formal ohne Fußfessel irgendeiner Tradition aus dem Vollen schöpfen. Die zeitgenössische Literatur Japans ist ja sehr international ausgerichtet, korrespondiert in sehr vielerlei Hinsicht mit den internationalen Literaturen, speziell aus den USA und Europa. Bestes Beispiel: Murakami, der beide Pole verschmelzen lässt. Das ist auch mein Eindruck vom japanischen Krimi: offen, international – das typisch Japanische fließt eher über die Themen ein.

Zentrales Thema: Wieviel Freiheit ist möglich?

Scholl: Was sind denn typisch japanische Krimithemen?
Noller: Bei allen Romanen wird zentral das Verhältnis Individuum-Gesellschaft verhandelt. In einer extrem ritualisierten, strukturierten Gesellschaft, die von einer Vielzahl an Verhaltenskodici geprägt ist. Wie kann man da seinen Weg machen, wie kann man überhaupt Individuum sein? Letztlich: Wieviel Freiheit ist möglich? Zudem werden grundlegende Themen von Schuld und Sühne mit japanischem Drall verhandelt. Ganz interessant: der Blick auf die Opfer von Verbrechen – ein entscheidender Teil der Strafzumessung ist immer Reue, eine rituelle Entschuldigung - das gibt es nur in der japanischen Kriminalliteratur.
Scholl: Ganz wichtig im Krimi: die Polizeiarbeit. Wie stellen sie die japanischen Kriminalschriftsteller dar?
Noller: Die Polizei ist ganz klar ein Spiegel der Gesellschaft. Sehr hierarchisch, sehr gruppendynamisch, überhaupt: sehr dynamisch. Alle arbeiten mit Hochdruck an der Aufklärung eines Verbrechens – und ein Misserfolg ist auch ein persönliches Scheitern. So etwas wie der Typus Schimanski ist undenkbar – so einer würde sofort in die hinterste Grenzstadt versetzt werden. Polizeiarbeit, so kommt es in der Quintessenz rüber, ist so etwas wie eine Frage der Ehre.
Scholl: Wie wichtig ist Gesellschaftskritik?
Noller: Ganz zentral. Es werden alle Themen verhandelt, die sich in einer modernen kapitalistischen Gesellschaft stellen. Also: Korruption, Gentrifizierung, Macht und Einfluss des organisierten Verbrechens. Gier nach Reichtum.

Spirituelle und mythische Aspekte spielen oft eine Rolle

Scholl: Welche Bedeutung haben spirituelle/religiöse Themen? "Magischer Realismus", wie findet sich das im japanischen Krimi?
Noller: Das ist auch so eine Eigenheit des japanischen Krimis: Spirituelle und mythische Aspekte spielen eine Rolle, häufig sogar ganz zentral. Aber es ist jetzt nicht so, dass da eine irgendwie religiös motivierte Polizei ermittelt. Das läuft alles ganz "wissenschaftlich" und modern. Die spirituellen Aspekte kommen auf einer anderen Ebene ins Spiel – als gesellschaftliche Kodici, die eine Rolle spielen im Leben und damit auch in der Ermittlungsarbeit.
Scholl: Was auffällt: Nur Kriminalromane von Männern, die Sie im Gepäck haben. Wie sieht es denn mit der Rolle von Frauen im japanischen Krimi aus?
Noller: Es gibt durchaus einige Japanerinnen, die Krimis schreiben (Masako Togawa zum Beispiel). Aktuell sind aber keine dabei, nur Männer. Frauen in der Polizei, in der Gesellschaft, das ist aber ein zentrales Thema in den Polizeiromanen von Tetsuya Honda – mit seiner Ermittlerin Reiko Himekawa, einer Frau unter Männern in einer Führungsrolle, die sich immer extra bewähren und beweisen muss.

"Die Maske" von Fuminori Nakamura ist spektakulär

Scholl: Zum Schluss ein kleiner Blick in die Zukunft. Was erwarten Sie in Sachen Krimi aus Japan in der nächsten Buchsaison im Herbst?
Noller: Da wird im September der Roman "In Liebe, dein Vaterland" erscheinen – von Ryo Murakami. Ein spektakulärer Politthriller, in dem Nordkorea sich wieder mit den USA verträgt, dafür aber heimlich Japan überfällt. Ich habe mit Ursula Gräfe gesprochen, die ja auch die Murakami-Übersetzerin ist – sie verspricht einen herausragenden und sehr besonderen Roman.
Scholl: Und jetzt, Herr Noller, wünsche ich mir persönlich den ultimativen Tipp für meinen Ferienkoffer. Welches Buch würden Sie mir einpacken, welcher Roman hat Sie ganz besonders beeindruckt?
Noller: Beeindruckt hat mich die Vielfalt auf hohem Niveau. Wenn ich doch wählen müsste: "64" von Hideo Yokoyama ist gravierend. Und "Die Maske" von Fuminori Nakamura ist spektakulär.

Literaturliste:

Iori Fujiwara: Der Sonnenschirm des Terroristen
Cass Verlag. Aus dem Japanischen von Katja Busson. 352 Seiten. 19,95 Euro

Keigo Higashino: Unter der Mitternachtssonne
Tropen Verlag. Aus dem Japanischen von Ursula Gräfe. 720 Seiten. 25 Euro

Tetsuya Honda: Stahlblaue Nacht
Fischer Taschenbuch. Aus dem Englischen von Irmengard Gabler. 432 Seiten. 10 Euro

Ryū Murakami: In Liebe, dein Vaterland
Septime Verlag. Aus dem Japanischen von Ursula Gräfe. 504 Seiten. 26 Euro (erscheint im September 2018)

Fuminori Nakamura: Die Maske
Diogenes Verlag. Aus dem Japanischen von Thomas Eggenberg. 352 Seiten. 24 Euro

Kazuaki Takano: 13 Stufen
Penguin Verlag. Aus dem Japanischen von Sabine Mangold. 400 Seiten. 10 Euro

Hideo Yokohama: 64
Atrium Verlag. Aus dem Englischen von Sabine Roth. 768 Seiten. 28 Euro

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