Neue Kleinbürgerlichkeit
Der Begriff der Reue hat heute offenbar keinen großen Stellenwert mehr. Für viele Menschen scheint das "Nachvorneschauen" wichtiger zu sein, als Fehler einzugestehen.
Erinnern Sie sich noch? Über Jahrzehnte wurde in den Feuilletons die Frage diskutiert, ob es eine neue Bürgerlichkeit gäbe. Als es ihm zu bunt wurde, klärte der für seine Definitionsschärfe bekannte Historiker Jürgen Kocka die Diskussion.
Er gab einerseits denen Recht, die den Niedergang des alten kulturbewussten Bürgertums beklagten, andererseits jenen, die ein neues bürgerliches Interesse für Ehrenämter, Stiftungen etcetera entdeckten. Bloß, dass dieses Interesse inzwischen von Milieus getragen wird, die weit über das ehemals bürgerliche hinausreichen und etwa Kirchen und Gewerkschaften umfassen. Deshalb plädierte er dafür, statt von "bürgerlichem Engagement" und "Bürgergesellschaft" lieber von "bürgerschaftlichem Engagement" und "Zivilgesellschaft" zu sprechen.
Angesichts jüngster Erfahrungen fragt man sich, ob es nicht wenigstens eine neue Kleinbürgerlichkeit gibt. Anders als der Bürger, gar der kulturbewusste, kommt der Kleinbürger aus einfachen Verhältnissen, ob finanziell oder geistigen. Das will nichts heißen. Wenn er nur eisern über seine kleine korrekte Welt hinaus will und genügend leistungsbewusst ist, kann er es in der großen Welt zu etwas bringen. Jedenfalls in einer Leistungsgesellschaft wie der unseren, die, ihren auffälligen Mängeln zum Trotz, Leistung in aller Regel belohnt.
Wenn er zudem nach Macht strebt, wird er vielleicht zu einer einflussreichen Person, die über andere bestimmen kann. Dann ist er auf der Sonnenseite des Lebens angekommen. Achtung vor so viel Durchsetzungsvermögen wird dieser Person gewiss sein. Ebenso gewiss Neid, zumindest von denen, die an sich selbst den Willen, hoch hinaus zu gelangen, vermissen lassen.
Jetzt wäre die Definitionsmacht Kockas vonnöten, um zu wissen, ob es sich wirklich um einen neuen Typus handelt, oder ob mit der Bürgerlichkeit nicht auch die Kleinbürgerlichkeit im Schwinden begriffen ist und wir es schlicht mit Aufsteigern zu tun haben.
Eins scheint sicher: Der Typus ist verbreiteter als je zuvor – dort jedenfalls, wo Aufstieg und Karriere winken. Man entdeckt ihn vornehmlich in Banken und Unternehmen. Und in politischen Parteien. Solange alles gut geht, genießt er den Respekt, doch kritisch wird es, wenn er sich in den Machtspielen verfängt und sie ihn so sehr korrumpieren, dass er sogar dem Leistungsprinzip Hohn spricht. Wir können es seit den Jahren der Krise immer wieder beobachten, fast egal in welchem Bereich. Der Finanzsektor ist nur der auffälligste. Er offenbart der inzwischen kaum noch erstaunten Öffentlichkeit die dem Typus eigene psychische Struktur: das starrsinnige, oft genug unverschämte Festhalten am einmal Erreichten; am Genuss von Privilegien, die Macht und Einfluss mit sich bringen; am Umgang mit den Schönen und Neureichen.
Dabei geht der Blick immer nach vorn, nie zurück. Das Nachvorneschauen ist geradezu zum Lebensmotto des Typs Aufsteiger geworden. Nur des Aufsteigers? Neulich gestand ein Nicht-Aufsteiger zu meiner Überraschung, er lehne Reue über vergangene Fehler ab. Das führe nur zu Hader mit sich selbst. Daher richte er den Blick klar in die Zukunft. Nur frisch ans Werk, und der ganze Zirkus beginnt wieder von vorn. Das ‚Auf die Zukunft setzen’ und ‚Die Vergangenheit außer Acht lassen’ scheint so sehr zum Lebenselixier weitester Kreise geworden, dass man umgekehrt analog zu Jürgen Kockas Definition der zivilen Bürgerlichkeit von einem das Kleinbürgertum längst übergreifenden Milieu reueloser Subjekte sprechen müsste. Wer eigene Fehler eingesteht, selbst wenn er sie zuvor an anderen gegeißelt hat, geht in die Kirche oder lässt es bleiben.
Natürlich spielt seicht gewordenes Christentum hier eine Rolle. Reue als unabdingbares Moment persönlicher Reifung gehört zu den verlorenen Gütern unserer nachchristlichen Zivilisation. Daher das geringe Erbarmen mit den Gestrauchelten. Was zurückbleibt, sind erbärmliche Existenzen, ob unter Bankern, Managern oder Politikern. So machen sie schließlich die große Welt, in die sie aufbrachen, zur kleinen, aus der sie kamen.
Erik von Grawert-May, aus der Lausitz gebürtiger Publizist und Unternehmer. Der Unternehmensethiker lebt in Berlin. Zuletzt veröffentlichte er "Die Hi-Society" (2010) und "Roma Amor - Preussens Arkadien" (2011). Website von Erik von Grawert-May
Er gab einerseits denen Recht, die den Niedergang des alten kulturbewussten Bürgertums beklagten, andererseits jenen, die ein neues bürgerliches Interesse für Ehrenämter, Stiftungen etcetera entdeckten. Bloß, dass dieses Interesse inzwischen von Milieus getragen wird, die weit über das ehemals bürgerliche hinausreichen und etwa Kirchen und Gewerkschaften umfassen. Deshalb plädierte er dafür, statt von "bürgerlichem Engagement" und "Bürgergesellschaft" lieber von "bürgerschaftlichem Engagement" und "Zivilgesellschaft" zu sprechen.
Angesichts jüngster Erfahrungen fragt man sich, ob es nicht wenigstens eine neue Kleinbürgerlichkeit gibt. Anders als der Bürger, gar der kulturbewusste, kommt der Kleinbürger aus einfachen Verhältnissen, ob finanziell oder geistigen. Das will nichts heißen. Wenn er nur eisern über seine kleine korrekte Welt hinaus will und genügend leistungsbewusst ist, kann er es in der großen Welt zu etwas bringen. Jedenfalls in einer Leistungsgesellschaft wie der unseren, die, ihren auffälligen Mängeln zum Trotz, Leistung in aller Regel belohnt.
Wenn er zudem nach Macht strebt, wird er vielleicht zu einer einflussreichen Person, die über andere bestimmen kann. Dann ist er auf der Sonnenseite des Lebens angekommen. Achtung vor so viel Durchsetzungsvermögen wird dieser Person gewiss sein. Ebenso gewiss Neid, zumindest von denen, die an sich selbst den Willen, hoch hinaus zu gelangen, vermissen lassen.
Jetzt wäre die Definitionsmacht Kockas vonnöten, um zu wissen, ob es sich wirklich um einen neuen Typus handelt, oder ob mit der Bürgerlichkeit nicht auch die Kleinbürgerlichkeit im Schwinden begriffen ist und wir es schlicht mit Aufsteigern zu tun haben.
Eins scheint sicher: Der Typus ist verbreiteter als je zuvor – dort jedenfalls, wo Aufstieg und Karriere winken. Man entdeckt ihn vornehmlich in Banken und Unternehmen. Und in politischen Parteien. Solange alles gut geht, genießt er den Respekt, doch kritisch wird es, wenn er sich in den Machtspielen verfängt und sie ihn so sehr korrumpieren, dass er sogar dem Leistungsprinzip Hohn spricht. Wir können es seit den Jahren der Krise immer wieder beobachten, fast egal in welchem Bereich. Der Finanzsektor ist nur der auffälligste. Er offenbart der inzwischen kaum noch erstaunten Öffentlichkeit die dem Typus eigene psychische Struktur: das starrsinnige, oft genug unverschämte Festhalten am einmal Erreichten; am Genuss von Privilegien, die Macht und Einfluss mit sich bringen; am Umgang mit den Schönen und Neureichen.
Dabei geht der Blick immer nach vorn, nie zurück. Das Nachvorneschauen ist geradezu zum Lebensmotto des Typs Aufsteiger geworden. Nur des Aufsteigers? Neulich gestand ein Nicht-Aufsteiger zu meiner Überraschung, er lehne Reue über vergangene Fehler ab. Das führe nur zu Hader mit sich selbst. Daher richte er den Blick klar in die Zukunft. Nur frisch ans Werk, und der ganze Zirkus beginnt wieder von vorn. Das ‚Auf die Zukunft setzen’ und ‚Die Vergangenheit außer Acht lassen’ scheint so sehr zum Lebenselixier weitester Kreise geworden, dass man umgekehrt analog zu Jürgen Kockas Definition der zivilen Bürgerlichkeit von einem das Kleinbürgertum längst übergreifenden Milieu reueloser Subjekte sprechen müsste. Wer eigene Fehler eingesteht, selbst wenn er sie zuvor an anderen gegeißelt hat, geht in die Kirche oder lässt es bleiben.
Natürlich spielt seicht gewordenes Christentum hier eine Rolle. Reue als unabdingbares Moment persönlicher Reifung gehört zu den verlorenen Gütern unserer nachchristlichen Zivilisation. Daher das geringe Erbarmen mit den Gestrauchelten. Was zurückbleibt, sind erbärmliche Existenzen, ob unter Bankern, Managern oder Politikern. So machen sie schließlich die große Welt, in die sie aufbrachen, zur kleinen, aus der sie kamen.
Erik von Grawert-May, aus der Lausitz gebürtiger Publizist und Unternehmer. Der Unternehmensethiker lebt in Berlin. Zuletzt veröffentlichte er "Die Hi-Society" (2010) und "Roma Amor - Preussens Arkadien" (2011). Website von Erik von Grawert-May

Erik von Grawert-May© privat