Wie man das Rad neu drehen kann
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Wie ihr Vorgänger stellt auch Julia Wissert, die neue Leiterin am Dortmunder Schauspielhaus, die Frage, an wen sich Theater heute richtet. Die Herausforderung der Coronakrise will sie mit Ihrer Surf-Erfahrung meistern.
Julia Wissert ist 36, of colour und die neue Intendantin des Dortmunder Schauspielhauses. Sie ist die Nachfolgerin von Kay Voges, der mit seiner unbändigen Experimentierlust das Theater Dortmund oft ins Zentrum der Aufmerksamkeit gerückt hat.
Nun sitzt sie mit ihrer Dramaturgie auf der Bühne, hinter dem eisernen Vorhang. Um sie herum, mit genügend Sicherheitsabstand, Journalistinnen und Journalisten auf Sesseln und Sofas. Hier wird in den nächsten zwei Monaten Theater gespielt, für bis zu 50 Leute. Kleine Formate, ein musikalischer Abend, Gespräche, ein partizipatives Vorleseprojekt:
"Ich glaube, dass wir einfach akzeptieren müssen, dass die Unsicherheit kein Moment mehr ist, sondern dass die Unsicherheit und das langsame Zerfallen von dem, was wir als Wirklichkeit angenommen haben, der Zustand ist, in dem wir uns befinden."
Wie man aus einer Strömung rauskommt
Der Zuschauerraum des Dortmunder Schauspielhauses bleibt geschlossen. Zwar dürfen in Nordrhein-Westfalen Veranstaltungen mit bis zu 300 Menschen ohne Hygienekonzept durchgeführt werden. Doch das ist der neuen Leitung zu unsicher. Julia Wissert plädiert dafür, sich offener und tiefer mit den Veränderungen durch die Pandemie zu beschäftigen.
"Ich habe in Australien gelernt zu surfen. Einer der Schritte war, zu lernen, wie man aus einer Strömung rauskommt. Das Problem bei Strömungen ist: Die Menschen ertrinken nicht, weil sie von der Strömung weggezogen werden, sondern sie ertrinken, weil sie versuchen, dagegen anzuschwimmen. Die einzige Möglichkeit, aus der Strömung rauszukommen, ist, sich treiben zu lassen. Und ich glaube, das ist der Moment jetzt.
Natürlich haben wir eine Sehnsucht danach, dass alles wieder so wird, wie es vorher war. Dann wüssten wir, wie wir uns bewegen müssen. Wir wüssten, wie wir uns verhalten müssten. Aber das wird nicht funktionieren, und es wird unsere ganze Energie kosten, eine Wirklichkeit zu behaupten, die nicht mehr da ist."
Für wen ist ein Schauspielhaus da?
Eine große Produktion gibt es, aber die findet draußen statt. Zum Einstand inszeniert Julia Wissert fünf kurze Texte, die Autorinnen und Autoren über konkrete Orte in Dortmund geschrieben haben. Blicke auf die Gegenwart und Geschichte aus der Zukunft heraus. "2170 – Was wird die Stadt gewesen sein, in der wir leben werden?" heißt diese Zeitreise.
Pro Abend können 75 Leute mitlaufen, verteilt in mehreren Gruppen. Später in der Spielzeit soll es auch "normale" Premieren geben. Doch das Programm der nächsten Monate klingt mehr nach einem Off-Festival als nach einem Schauspielhaus. Stellt Julia Wissert damit das "System Stadttheater" infrage?
"Ich glaube, nicht das System Stadttheater ist infrage gestellt. Sondern für mich ist die Fantasie, die viele Menschen über Stadttheater hatten, infrage gestellt. Es ist infrage gestellt, dass das Stadttheater für eine bestimmte Zielgruppe ist, dass das Stadttheater mehr weiß als die Gesellschaft der Stadt, in der das Stadttheater ist."
"Hier ist wahnsinnig viel Wissen"
Schon ihr Vorgänger Kay Voges hatte den Blick darauf verändert, was ein Schauspielhaus ist und kann. Doch wenn sich das Programm an Off-Bühnen orientiert und zunächst nur an ein kleines Publikum richtet, besteht da nicht die Gefahr, dass in der drohenden Finanzkrise das Stadttheater finanziell infrage gestellt wird?
Wissert ist unbesorgt: "Hier sind wahnsinnig viele Expertisen, hier ist wahnsinnig viel Wissen. Und diese Versuche des Treibenlassens, die funktionieren natürlich nur durch die Kompetenzen all der Menschen, die hier zusammenkommen. Das funktioniert nur, weil hier TechnikerInnen sind, BeleuchterInnen, SchauspielerInnen. Deshalb können wir langfristig die Verunsicherung planen."
Nebenan in Oberhausen hat Intendant Florian Fiedler mit einem ähnlich experimentierfreudigen und die Debatten der Zeit aufgreifenden Programm einen großen Teil des Publikums nicht erreicht. Deshalb wurde er nicht verlängert. Julia Wissert beginnt allerdings mit einer anderen Grundeinstellung. Sie hat viele Künstlerinnen und Künstler aus dem Ruhrgebiet im Team. Mizgin Bilmen, die einen feministischen "Faust" inszeniert, stammt aus Duisburg-Marxloh, einige Autorinnen und Autoren kommen ebenfalls aus der Region. Zwei neue Stadtdramaturginnen sollen sich verstärkt um die künstlerische Vernetzung kümmern. Julia Wissert:
"Es ist eine urbane Metropole. Und hier ist so viel los, es gibt so viele Initiativen, die gar nicht so wirklich sichtbar sind. Hier wird so viel gemacht. Und unser Wunsch ist natürlich, dass über die Möglichkeiten und über die Zugänge, die wir als Schauspiel Dortmund haben, wir uns vernetzen können mit diesen Initiativen und Menschen, die hier schon so aktiv sind. Wir sind nicht hier, um das Rad neu erfinden. Wir sind hier, um herauszufinden, wie man das Rad vielleicht neu drehen könnte oder wie man anders auf das Rad gucken könnte."