Wieso Lyrik in Zeiten der Krise floriert
"Je schlimmer die Krise, desto voller die Theater", sagt der griechische Autor Gerasimos Bekas. Die Wirtschaftskrise hat bei vielen Griechen das Interesse an Kunst und Literatur neu geweckt: "Das hat sehr viele Geschichten aufgewirbelt."
Frank Meyer: In Berlin startet heute eine lange Lesenacht mit Autoren aus dem Griechenland von heute. Und in der Einladung zu dieser griechischen Lesenacht liest man Erstaunliches, nämlich: Die griechische Schuldenkrise hat eine positive Auswirkung, die Literaturszene in Griechenland ist reicher geworden. Das wollen wir genauer wissen, und deshalb haben wir uns eingeladen hier ins Studio die Dichterin und Übersetzerin Maria Topali und den Autor Gerasimos Bekas. Seien Sie beide willkommen hier bei uns.
Sie leben beide zwischen Deutschland und Griechenland, und, Frau Topali, Sie haben letztens in einem Aufsatz geschrieben, im Griechenland der Krise sei die Edition von Lyrikbänden regelrecht explodiert. Also der Reichtum ist gerade bei Lyrik stark gewachsen?
Topali: Ja. Was eigentlich passiert ist, ist, dass das Auditorium, also die Leute, und vor allen Dingen auch jüngere Leute, die sich für Lyrik interessieren, ihr Interesse ist stark gewachsen. Wahrscheinlich hängt das dann auch damit zusammen, dass auch mehr veröffentlicht wird in der Richtung, während kurz vor der Krise genau das Gegenteil der Fall war. Die Lyrik war kein großes Thema, und sehr wenig Leute haben sich für Lyrik interessiert, in Griechenland wie wahrscheinlich auch überall.
"Je schlimmer die Krise, desto voller die Theater"
Meyer: Und Herr Bekas, haben Sie Ähnliches beobachtet in der Lyrik oder in anderen Bereichen der Literatur?
Bekas: Was mir vor allem aufgefallen ist, ist, wie stark die Leute in Athen ins Theater gegangen sind. Je schlimmer die Krise wurde, desto voller waren die Theater, desto mehr freie Theatergruppen haben sich gegründet und selbstverwaltet Stücke inszeniert. Und auch die verschiedenen Kunstformen, wenn es ums Lesen ging, wenn es darum ging, sich auszutauschen über das, was man erlebt, wurden so künstlerischer Schaffensformen immer wichtiger.
Meyer: Ist das vielleicht auch schon ein Teil der Erklärung, was Sie gerade gesagt haben, dass dieses Austauschbedürfnis so stark geworden ist, vielleicht gerade in Zeiten, wo die Lebensumstände schwieriger werden, dass dann Literatur eine besondere Rolle spielt?
Die Krise als kulturelle Wende
Topali: Da würde ich schon differenzieren. Im Fall der Lyrik ging es nicht um das Erfahrene, ging es nicht um das Erlebte. Lyrik ist ja auch ein Genre, wo man nicht so viel erzählt über das Aktuelle und Konkrete. Aber ich glaube, wichtig war, dass man sich erstens zusammenfindet, und zweitens, dass man ein bisschen auch an altmodische Werte denkt, die nicht so sehr mit dem Geld zu tun haben und mit diesem Lifestyle-Boom, der florierte, direkt kurz vor der Krise. Das ist eher so eine Art kulturelle Wende, wenn ich das so sagen darf.
Meyer: Also so eine Art Besinnung auch auf Traditionen, auf Werte, auf Dinge, die einem grundsätzlich wichtiger sind im Leben?
Topali: Ja, genau. Und Lyrik ist so eine Sache. Da ist man allein oder mit wenigen Freunden und hat auch einen direkten Kontakt, wie eben auch im Theater, mit dem Körper und der Sprache. Und das ist, glaube ich, ein wichtiges, ein existenzielles Bedürfnis, wenn man sich bedroht fühlt – wie das ja war.
Identitätskrise und Rückbesinnung auf die Kunst
Meyer: Und was würden Sie sagen, Herr Bekas, als Gründe vielleicht dafür, dass mehr Menschen sich zusammengefunden haben, sich mehr mit Kunst, gerade mit Literatur auseinandergesetzt haben?
Bekas: Ich glaube, das hat sehr stark mit einer Identitätskrise zu tun, die mit der ganzen wirtschaftlichen Umbruchsituation einhergegangen ist und mit der Frage, wer sind wir eigentlich als Gesellschaft, worauf können wir uns einigen, worauf können wir uns besinnen. Und da waren dann zum einen die klassischen Bezugsgrößen – die griechischen Künstler, die über Griechenland hinaus bekannt geworden sind aus der Literatur, kommen ja vor allem aus der Lyrik, mit Kavafis, mit Seferis, mit Elytis, mit Ritsos. Das waren ja alles – nicht nur, aber auch – Dichter. Und ich glaube, die Besinnung darauf, was ist der kulturelle Pool, an dem wir uns festhalten können, was sind irgendwie dann auch so die Errungenschaften, die uns ausmachen als Gesellschaft selbst, wenn irgendwie alles andere zu Grunde geht, das, glaube ich, war schon auch noch ein wichtiger Grund dabei.
Meyer: Und verstehe ich Sie da beide richtig – es ging jetzt gar nicht darum, dass man sich mit Literatur auseinandersetzt, die wiederum von der Krise erzählt oder die die Krise thematisiert, sondern es ging um andere Themen in der Literatur?
Als Sachbücher nicht mehr weiterhalfen
Bekas: Es gab eine Zeit lang so einen Boom mit Sachbüchern, die also auch ein bisschen populärwissenschaftlich versucht haben, zu erklären, was ist jetzt hier passiert. Das war so 2013, um die Zeit rum. Aber ich glaube, sehr schnell wurde dann klar, dass man damit auch nicht unbedingt weiterkommt, dass es dann viele Argumente gibt, mit denen man dann was anfangen kann oder nicht, aber dass man letztendlich nicht an seiner konkreten Lebenssituation irgendwas dadurch ändern kann.
!Meyer:!! Was sind es dann aber, wenn es nicht die Krise selbst sind, was sind es dann für Themen, die Menschen in solchen schwierigeren Lebensverhältnissen besonders ergriffen haben jetzt in diesen Jahren?
Topali: Die Themen sind, glaube ich, mehr oder weniger immer gleich. Und wenn Sie auch gucken in die Zeit zum Beispiel der Weltkriege, Sie sehen das auch damals. Interessanterweise florierte die Lyrik überall, hier wie in den USA. Und da ging es immer um die gleichen Themen. Sinn des Lebens, Liebe – das ist es. Da hat sich, glaube ich, nichts geändert und wird sich auch nichts ändern. Was sich ändert, das ist eben das Interesse der Leute für diese Art von Lyrik und von Kunst.
Meyer: Und wie muss man sich das dann, wenn es jetzt gerade um Lyrik geht, konkret vorstellen? In welcher Form finden sich die Leute dann zusammen und lesen Gedichte, lassen sich Gedichte vorlesen? Was haben Sie da erlebt?
"Die Szene ist plötzlich sehr lebendig geworden"
Topali: Da haben wir wirklich neue, ganz neue innovative Initiativen zu bemerken in Athen. Das ist auch, glaube ich, dem Theater sehr nahe. Plötzlich ist es sehr wichtig geworden, dass man auch richtig Performance macht aus der Lyrik, dass es wichtig ist, wie man Lyrik vorträgt, vorliest. Das ist – es gibt viele Initiativen, neue Gruppen, Zeitschriften, Kollektive, wenn ich das auch so sagen darf, obwohl ich das Wort nicht unbedingt gern mag. Aber das gibt es eindeutig, in Athen und nicht nur in Athen, auch auf dem Land, in Larissa, in Thessaloniki. Die Szene ist plötzlich sehr lebendig geworden.
Meyer: Herr Bekas, Sie haben einen Roman geschrieben in der letzten Zeit, er wird im November erscheinen im Rowohlt Verlag. "Alle Guten waren tot" heißt dieses Buch. Hat dieses Buch denn etwas zu tun mit den griechischen Erfahrungen der letzten Jahre?
"Alle anderen gehen weg, du kommst jetzt hierher"
Bekas: Sehr stark, also zumindest mit den zwei Jahren, die ich selbst in Athen gelebt habe, von Ende 2014 bis Ende 2016 war ich quasi nur dort. Seitdem bin ich eher so am Pendeln und so oft, wie ich kann, dort. Eine sehr einprägsame Erfahrung, die ich gleich am Anfang gemacht habe, war das Bedürfnis der Menschen, zu reden, und gerade auch mit mir zu reden, weil ich von außen kam. Ich kam aus Berlin, war aber trotzdem irgendwie einer von ihnen. Und dann war immer so dieser erste Moment die Frage, was machst du hier? Alle anderen gehen weg, du kommst jetzt hierher – was ist bei dir, was läuft bei dir nicht richtig?
Meyer: Was stimmt bei dir nicht …?
Die Krise wirbelte viele Geschichten auf
Bekas: Und dann gab es einfach so, wie ein Damm, der brach, ganz viele Geschichten flossen dann so auf mich ein, und das sind dann nicht unbedingt die Geschichten, die den Roman dann ausmachen, aber die für mich einfach so ein Setting geschaffen haben und eine Atmosphäre, die ich gern irgendwie festhalten wollte. Weil ich dann auch irgendwie gemerkt habe, wie vergänglich das alles ist. Mit der Wahl von Tsipras, mit dieser ganzen Hoffnung, die dort aufkam in Griechenland, und diese Vorstellung davon, dass die Schuldenkrise jetzt ein für alle Mal vorbei ist und dass es eine politisch Lösung gibt, die getragen wird von großen Teilen der griechischen Gesellschaft. All das hat auch irgendwie eine – es hat sehr viel aufgewirbelt einfach innerhalb der Gesellschaft, sehr viele Geschichten aufgewirbelt, sehr viel biografische, auch Wunden, die das aufgetan hat. Und das fand ich sehr spannend.
Meyer: Ich würde jetzt zum Ende unseres Gesprächs noch gern bitten, uns jeweils ein Buch zu empfehlen, das wir aus der neueren griechischen Literatur unbedingt kennenlernen sollten. Vielleicht fangen Sie an, Frau Topali?
Topali: Wenn ich auch mich auf ein quasi eigenes Buch beziehen darf – es erschien vor wenigen Monaten, im Juni, bei Editione Romiosini, und es ist eine Anthologie der griechischen Lyrik aus dem 21. Jahrhundert, also sehr frisch. Es ist eben die Lyrik, von der die Rede war.
Meyer: Von der wir gerade gesprochen haben …
Topali: Ja. Und das sind über 50 Lyriker und Lyrikerinnen und über hundert Gedichte, ins Deutsche übersetzt von Thorsten Israel. Und das gibt es, das ist frei online und Print-on-Demand.
Meyer: Griechische Lyrik aus dem 21. Jahrhundert, herausgegeben …
Topali: Der Titel ist "Dichtung mit Biss".
Meyer: "Dichtung mit Biss". Vielen Dank für diese Empfehlung. Und Herr Bekas, was würden Sie uns gern mit auf den Weg geben?
Bekas: Ich würde gern einen Band mit Kurzgeschichten empfehlen von Christos Ikonomou. Der heißt im Deutschen "Warte nur, es passiert schon was" und hat sehr atmosphärisch dichte Erzählungen aus dem Alltag der Menschen und sollte auch noch viel mehr übersetzt werden, bei der Gelegenheit.
Meyer: "Warte nur, es passiert schon was" ist der Titel, von Christos Ikonomou. Dann vielen Dank auch an Sie für diese Empfehlung. Gerasimos Bekas war bei uns und Maria Topali. Wir haben über die griechische Literatur der Gegenwart gesprochen. Ganz herzlichen Dank!
Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Deutschlandfunk Kultur macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.