Markus Grill leitet das Berliner Büro der Rechercheressorts von NDR und WDR in Kooperation mit der Süddeutschen Zeitung. Geboren 1968 in Aalen, studierte er Geschichte und Germanistik in Freiburg und Berlin. Nach Stationen beim "Stern", wo er unter anderem den Schmiergeld-Skandal bei Ratiopharm aufdeckte und den Lidl-Überwachungsskandal, und beim "Spiegel", wo er Titelgeschichten über Homöopathie, schädliche Vitaminpillen oder nutzlose Vorsorge-Untersuchungen schrieb, war er von 2015 bis 2017 Chefredakteur des Recherchezentrums "Correctiv". Zuletzt war er an den Internationalen ICIJ-Rechercheprojekten "Paradise Papers" und "Implant Files" beteiligt. Auf Twitter ist er als @m_grill aktiv.
Deutscher Forschung fehlt der Pragmatismus
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Die Erfinder des ersten westlichen Corona-Impfstoffs kommen aus Deutschland. Unterstützt wurden sie aber von einem amerikanischen Pharmakonzern. Den Journalisten Markus Grill wundert das nicht. Die deutsche Forschung sei zu kleinstaatlich aufgestellt.
Jens Spahn ist stolz auf die tollen Mediziner, die Deutschland hat, auf ihre Spitzenforschung. Immerhin kommen mit Ugur Sahin und seiner Frau Özlem Türeci, die Erfinder des ersten westlichen Impfstoffs gegen das Coronavirus aus Deutschland.
Aber sind wir in der medizinischen Forschung wirklich Weltklasse? Wurden am Standort Deutschland wirklich so viele nützliche Erkenntnisse geschaffen, die beim Kampf gegen das Virus helfen? Oder lenken die erwähnten Lichtgestalten nur davon ab, dass es vielerorts in der medizinischen Forschung in Deutschland doch eher düster aussieht und wirklich bahnbrechende Erkenntnisse aus dem Ausland kommen?
Große, unabhängige Studien fehlen
Als das Coronavirus Anfang dieses Jahres auftauchte, öffneten viele Pharmakonzerne ihre Schubladen und schauten nach, ob darin nicht noch etwas zu finden wäre, was gegen Sars-CoV-2 helfen könnte und was sich schnell zu Geld machen ließe? Heraus kam, um es kurz zu machen: nichts.
Und ehrlich gesagt konnte dabei auch gar nichts Sinnvolles herauskommen. Denn die typische deutsche Kleinstaaterei unter den Unikliniken sorgte dafür, dass keine unabhängigen Studien mit einer großen Anzahl von Patienten aufgelegt wurden. Die sind aber nötig, um die Wirksamkeit neuer Heilmittel zu untersuchen. Denn nur mit entsprechend vielen Versuchsteilnehmern sind überhaupt Ergebnisse erwartbar, die so robuste Erkenntnisse schaffen, dass sie in Leitlinien einfließen können.
Durchbruch in Großbritannien
Bundesforschungsministerin Anja Karliczek hatte im März diesen Jahres mehr als 150 Millionen Euro angekündigt, um ein Deutsches Forschungsnetzwerk zu Covid-19 zu gründen. Mittlerweile sind neun Monate vergangen. Etwas Nützliches für Patienten ist dabei aber nicht herausgekommen.
Woanders läuft es in dieser Hinsicht besser: In Großbritannien haben ebenfalls seit März unter Koordination des staatlichen Gesundheitssystems 175 Klinken eine Studie namens "Recovery" aufgelegt. An mehr als 11.000 Corona-Infizierten wurde Dexamethason getestet, ein Kortisonpräparat, und schon im Juni wussten die Briten, dass dieses Medikament die Sterblichkeit um 30 Prozent senkt. Ein echter Durchbruch.
Deutschland an WHO-Studie nicht beteiligt
Eine andere große Studie mit vielen tausend Teilnehmern organisierte die WHO unter dem Namen "Solidarity". Krankenhäuser aus allen Teilen der Welt nahmen daran teil und testeten an ihren Patienten unter anderem das Medikament Remdesivir. Im Oktober verkündete WHO-Direktor Tedros, dass Remdesivir "kaum etwas oder nichts dazu beiträgt, den Tod durch Covid-19 zu verhindern oder den Krankenhausaufenthalt zu verkürzen". Auch das war eine wichtige Erkenntnis für die Behandlung von Patienten.
Patienten aus 30 Staaten nahmen an dieser Studie teil. Deutschland war nicht dabei.
Hierzulande haben Universitäten lieber an kleineren, pharmafinanzierten Studien teilgenommen, die aber weit weniger zuverlässige Ergebnisse lieferten als die groß angelegte WHO-Studie.
Erforschung der kleinsten Dinge
Warum ist das so? Das liegt, für manche vielleicht überraschend, an einer typisch deutschen Tradition, die sich auch in der Medizin spiegelt. Deutsche Forscher wollen seit jeher erkennen, was die Welt im Innersten zusammenhält. Sie erforschen in ihrer romantischen Sehnsucht kleinste Dinge, um den tiefen Grund der Welt zu erfassen. Auch das hat seine Berechtigung.
Die angelsächsische Wissenschaftskultur ist dagegen viel pragmatischer. Sie probiert aus, testet und verwirft. Gerade in einer Notsituation wie einer Pandemie ist diese an Evidenz orientierte Medizin sehr viel nützlicher, weil sie zu Ergebnissen führt, die Patienten konkret helfen. Die 150 Millionen Euro, die die deutsche Forschungsministerin verteilt, werden irgendwann vielleicht auch zu Ergebnissen führen. Die Pandemie wird dann aber schon vorbei sein.