Schöpferin einer eigenen Tonsprache
Während andere mit Puppen spielten, hat sich Ursula Mamlok Musikstücke ausgedacht. Mit 16 musste sie vor den Nazis fliehen, mit 83 kehrte sie aus New York zurück nach Berlin. Da war sie schon eine anerkannte Größe der atonalen Musik. Jetzt kommt ein Dokumentarfilm über sie in die Kinos.
Stephan Karkowsky: Morgen feiert ein Dokumentarfilm in Berlin Premiere, der porträtiert eine ungewöhnliche Frau. "Ursula Mamlok Movements", so heißt das Werk von Anne Berrini über eine Berliner Komponistin und ihre Musik. Als junges Mädchen musste Ursula Mamlok vor den Nazis aus Deutschland fliehen. Mit 83 Jahren zog sie 2006 noch einmal um, diesmal von New York nach Berlin – und komponiert bis heute. Ich traf sie zum Interview – und Sie werden staunen, wie jugendlich sie auch mit 91 Jahren noch klingt.
Und ich begrüße im Studio die Komponistin Ursula Mamlok – guten Morgen!
Ursula Mamlok: Guten Morgen!
Karkowsky: Einen wunderschönen guten Morgen! Geboren am 1. Februar 1923 in Berlin, 1939 von den Nazis ins Exil gezwungen nach Ecuador. Mit 17 sind Sie nach New York gekommen, und ganze 66 Jahre später nach Berlin gezogen – noch einmal nach Berlin gezogen. Das ist eine unglaubliche Geschichte – wo soll man da anfangen zu erzählen?
Mamlok: Ich war, wie gesagt, 16 Jahre, als ich von Berlin weg ging, und da gingen wir nach Ecuador. Und das war ganz schrecklich, das war ganz primitiv, wenn man in Berlin gewohnt hat, kann man sich gar nicht denken, wie diese Verhältnisse anders waren in Ecuador.
Karkowsky: Sie haben schon mit Musik gespielt, als andere ihre Puppen im Arm hatten. Das habe ich im Film gelernt. Können Sie sich erinnern, was das war, was Sie an Musik fasziniert hat?
"Die Lehrerin musste die Noten aufschreiben"
Mamlok: Ja, das ist das Komische, das war wohl mein Onkel, der spielte Klavier bei meinen Großeltern. Und da habe ich das gehört, und das hat mich fasziniert, da dachte ich, jeder kann das. Bin zum Klavier gegangen, und ich sah, der spielt mit zwei Händen, da habe ich das auch gesehen, und automatisch wusste ich, wie man diese Tasten findet, die die richtige Melodie einem gaben.
Karkowsky: Das war einfach in Ihnen?
Mamlok: Ja.
Karkowsky: Und das Komponieren? Auch das mochten Sie bereits als Kind. Was waren das denn für Stücke, die Sie da zusammengestellt haben.
Mamlok: Ja, das ist sehr eigenartig. Das waren so kleine Stücke, die ich gut spielen konnte, und die waren meistens in d-Moll, und da war ich – war ich denn da schon? – nein, da war ich noch gar nicht in der Schule. Aber später ging das so weiter, ich hab nicht gleich Klavierunterricht bekommen leider, denn da wäre ich vielleicht Pianistin geworden. Aber als ich mit elf oder so Klavierunterricht kriegte, war das eigentlich ein bisschen spät, um Pianistin zu werden.
Aber mit dem Komponieren, ich dachte, jeder macht sich die Stücke selbst, und hatte dann eben gedacht, dann werde ich das auch mal sehen. Bloß die Lehrerin musste die Noten aufschreiben, als Diktat sozusagen von mir. Und so kam es, dass ich eben das Komponieren auch als eine selbstverständliche Sache fand.
Karkowsky: In d-Moll ist ungewöhnlich für ein Kind – sie haben also keine Kinderlieder komponiert und keine Gassenhauer.
Mamlok: Nein. Ich hab so gehört, was die klassische Musik, wie das geht, und dann auf dem Klavier versucht, eben einem Gedankenfeld nachzufühlen, ja.
"Ich muss eine neue Sprache kennenlernen, die ich noch nicht kannte"
Karkowsky: Sie sind bekannt heute vor allem den Eingeweihten als Schöpferin einer ganz eigenen Tonsprache, einer neuen Musik, einer atonalen Musik. Wie ist diese Sprache entstanden? Warum haben sich Ihre Kompositionen in diese Richtung entwickelt?
Mamlok: Ich habe gemerkt natürlich, im 20. Jahrhundert kann ich nicht wieder nachkomponieren, wie es so viele gemacht haben, wie Brahms, wie eine klassische Komposition. Ich muss eine neue Sprache kennenlernen, die ich noch nicht kannte. Und das war erst mal die Zwölftonmusik. Ich musste mich aber daran sehr gewöhnen. Für mich war das auch eine fremde Sprache, die Zwölftonmusik.
Aber ich hab das studiert, ich hab also Schönberg-Noten mir vorgenommen und Webern, und da hab ich gesehen, wie das gemacht wird technisch, und dann hab ich versucht, solche Stücke zu komponieren. Und die klangen nicht mehr wie meine vorherigen Stücke, also atonal, nicht mehr in d-Moll und nicht mehr in Una. Das musste also so gemacht werden, und das habe ich dann auch gemacht, bis meine Stücke alle so atonal sozusagen, wie man sagt, wurden.
Karkowsky: Und Sie waren 40 Jahre lang auch Lehrerin, Professorin an der Manhattan School of Music, da haben Sie Komposition gelehrt. Das müssen Sie mir erklären. Wie gibt man etwas so Komplexes, Nichtlineares, etwas Dissonantes, so etwas Mehrdimensionales wie Ihre eigene Musiksprache, wie gibt man das weiter an Schüler?
Mamlok: Die Schüler müssen natürlich sich mit so einer Musik auch erst beschäftigen, und ich muss erst sagen, es soll meine Musik gemacht werden und die Schüler müssen auch eingeweiht sein erst mal in die neue Sprache. Aber ich hab nie gesagt, komponiert wie ich. Das hat der Hindemith ja gemacht. Also, wenn die tonal komponieren wollen oder, ich weiß nicht, den Debussy nachmachen wollen – die konnten bei mir machen, was sie wollten. Die Musik nur, die sie brachten, die Beispiele, die mussten richtig sein, da mussten keine fehlerhaften Dissonanzen, die nicht dazu passten, kommen, die Schüler müssen es so richtig lernen, wie ich das auch gelernt hab.
Karkowsky: Sie hören die Komponistin Ursula Mamlok. Ihr Film "Movements" kommt am Donnerstag in die Kinos. Man sieht im Film, Frau Mamlok, wie anstrengend das Komponieren für Sie ist. Sie nennen es an einer Stelle sogar eine Qual.
Mamlok: Ja!
Karkowsky: Was bringt Sie denn da jedes Mal zum Weitermachen, zum Nichtaufgeben?
Mamlok: Ja, da muss man eine wirkliche Stärke haben, bestimmt, denn jetzt habe ich den selben Fall wieder. Ich komponiere jetzt ein Quintett für die Spectrum-Konzerte, im April soll das erstaufgeführt werden. Also ich habe schon einen Anfang, da muss ich jetzt weitermachen. Das muss man jeden Tag machen wie das Klavierüben oder so, sonst wird es nichts, wenn man da sagt, jetzt mache ich das nicht mehr. Das muss erkämpft werden sozusagen, und das ist so vereinbar geworden, ja.
Karkowsky: Können Sie erklären, wo sie herkommen, diese Töne – aus Ihnen? Woher Sie wissen, was der nächste Ton sein wird?
Mamlok: Das kann man schwer sagen. Man muss am Klavier vielleicht improvisieren, und dann bringt das was, und dann sagt man, ach, das möchte ich gerne als Stück machen. Das muss in ein Shape, wie man sagt, gebracht werden, sodass es ein richtiges Stück ist und nicht nur improvisiert.
Karkowsky: Man ist ja automatisch versucht, manche Stimmungen in Ihrer Musik zu assoziieren mit Ihrer Geschichte, auch mit der großen Katastrophe, mit der Shoah, bei der Sie Ihre Großeltern verloren haben, in Auschwitz, mit Flucht und Verlust von Freunden und Heimat. Wäre das zu viel in Ihre Musik hineininterpretiert?
Mamlok: Nein, das habe ich nie gemacht. Nur einmal, also einmal ein Stück "Rückblick" für Saxofon und Klavier hat damit zu tun, mit dem 9. November –
Karkowsky: Der Reichspogromnacht.
Mamlok: Ja, Pogromnacht, so ist das. Sonst habe ich das nicht gemacht. Sonst habe ich eigentlich die Sache beiseite getan und dann komponiert, wie vielleicht andere Leute in anderen Ländern auch komponiert haben, ohne Sentimentalität wollte ich immer sein auf die Geschichte, die ich durchgemacht hatte, wirklich.
Karkowsky: Es geht im Film fast ausschließlich um Ihre Musik. Man erfährt zum Beispiel nichts darüber, wie Sie über Deutschland gedacht haben oder mit welchen Gefühlen Sie das erste Mal wieder deutschen Boden betreten haben. War Ihnen das lieber, nicht darüber zu reden, oder ... ?
Mamlok: Natürlich habe ich nicht sehr schön über Deutschland damals gedacht, das ist klar. Aber das kann nicht für Dauer sein. Da ist inzwischen 'ne neue Generationen geboren, und die haben ja damit gar nichts zu tun. Und mit den Leuten, die vielleicht jetzt schon zwei Generationen weg von der schlimmen Zeit, die Deutschland durch Hitler hatte, und die ja auch sehr gelitten haben mit dem Krieg. Das war ja ganz unnötig, dieser Krieg, aber dieser Hitler hat eben eine Macht haben wollen und die Welt zerstören damit.
Karkowsky: Sie waren damals in Berlin als Kind, als Mädchen, auf derselben Oberschule wie Inge Deutschkron, die den Holocaust versteckt in Berlin überlebte und dann auch im Buch "Ich trug den gelben Stern" Zeugnis davon ablegte. Haben Sie beide sich gekannt? Können Sie sich an Begegnungen erinnern?
Mamlok: Ja. Also sie war richtig in meiner Klasse, wir haben denselben Unterricht da gehabt, und sie war sehr klug, sie war immer die Beste. Wenn eine Frage gestellt wurde, sie wusste alles. Nachher aber hat der Vater rechtzeitig sie von der Schule genommen, ehe sie rausgeschmissen wird, wie ich. Das kam ja dann später. Mein Vater hat mich nicht in die jüdische Schule geschickt, die war nicht nahe bei unserer Wohnung. Ich hatte ja gar nicht zu leiden, als dass ich wusste, was da los ging. Manche Lehrer waren Nazis, und andere waren wieder dagegen und haben das nicht gezeigt.
Nachher bin ich schließlich – eines Tages hieß es "Juden raus aus der Schule!". Aber man durfte nicht nach Hause gehen und üben, wie ich dachte. Man musste in eine Berufsschule – das war eine richtige Strafe. Da musste man lernen, wie man Betten macht und wie man Wasser kocht und all so was. Gott sei Dank kam dann auch ein Mann und sagte "Juden raus hier!" – da "raus" meinte "geh nach Hause". Das habe ich dann auch gemacht, und das war eine ganz schöne Zeit für mich.
Karkowsky: Sie haben oft neu angefangen in Ihrem Leben. Sie sind zum Beispiel mit 17 allein nach New York gegangen, ohne Englisch zu sprechen und ohne Geld in der Tasche, und Sie haben es geschafft. Und ein Menschenleben später sind Sie, wieder allein, mit 83 nach Berlin gezogen. Was war denn schwerer – in New York allein anzufangen oder in Berlin?
Schwerer Start in New York
Mamlok: In New York eigentlich, weil ich ja gar nicht die Sprache konnte. Da kann ich ja auch eine Geschichte erzählen, dass ich zu meiner Kusine kam, und da sollte ich wohnen. Und ich konnte nun gar kein Wort sagen, und die wollte natürlich – da hat sie auf mich eingeredet. Und leider, wenn ich nicht sprechen kann, spiele ich ihr gerne ein Stück vor. Als ich fertig war mit dem Spielen, da sagte die Kusine: "I hate classical!" Das war nun nicht gerade sehr einladend für mich.
Karkowsky: Hätte vielleicht doch lieber Jazz gehört. Sie haben den Film schon gesehen?
Mamlok: Ja.
Karkowsky: Wie gefällt er Ihnen?
Mamlok: Der ist sehr gut, der Film, ja. Der ist wirklich sehr gut gemacht, die Musik, die Spieler waren alle sehr gut, die da mitgespielt haben. Und es hat mir sehr gut gefallen, ja.
Karkowsky: Dann wollen wir jetzt alle Leute reinschicken in "Ursula Mamlok Movements". So heißt der Dokumentarfilm über die Komponistin Ursula Mamlok – morgen ist Filmstart. Frau Mamlok, herzlichen Dank, dass Sie bei uns waren!
Mamlok: Danke Ihnen fürs schöne Interview!
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