Neue soziale Fragen

Von Reinhard Kreissl |
Hohe soziale Sicherheit gibt es nur, solange sie nicht wirklich benötigt wird, formuliert der Publizist und Soziologe Reinhard Kreissl rückblickend auf bessere Zeiten. Nun, wo der Ernstfall eingetreten sei, liefe alles darauf hinaus, dass ein jeder sehen möge, wo er bleibt.
Als die Unionsparteien bei der letzten Bundestagswahl schlechter abschnitten als erwartet, sah man einen Grund dafür in Angela Merkels mangelndem Engagement für die sozialen Belange der Bürger.

Sie habe im Wahlkampf zu viel von den bevorstehenden Einschnitten geredet und sei zuwenig auf die damit einhergehenden Ängste der Bevölkerung eingegangen. Sie habe die soziale Frage vernachlässigt. Vielleicht fehlte ihr einfach nur die Fähigkeit zur professionellen Heuchelei – sie sagte das, was sie dachte und für realistisch hielt, ohne es in die übliche Rhetorik zu verpacken.

Jetzt taucht das Thema in neuer Verkleidung wieder auf. Die neue soziale Frage sucht Antworten auf die Versprechungen der alten. Der wohlfahrtsstaatliche Konsens der Nachkriegszeit war das Ergebnis ausgeglichener Machtverhältnisse: starke Gewerkschaften mit hohem Drohpotential, stabiles Wirtschaftswachstum und die immer latente Drohung des Kommunismus im Hintergrund leisteten dem Ausbau eines sozialen Sicherungssystems Vorschub, das Vorbildcharakter hatte.

Allerdings war klar, dass die Ansprüche, die dieses System garantierte, nur solange Bestand haben konnten, wie sie nicht in nennenswertem Umfang in Anspruch genommen wurden. Paradox formuliert könnte man sagen: Hohe soziale Sicherheit gibt es nur, solange sie nicht wirklich benötigt wird.

Die Zeiten haben sich geändert. Arbeitskräfte sind nicht mehr knapp, die Ökonomie ist von nationalen Grenzen befreit, sie hat sich umgestellt auf den "jobless growth" – ein Wachstum ohne Beschäftigungseffekte und im Hinblick auf das soziale Sicherungssystem ist der Ernstfall eingetreten.

Jetzt ginge es eigentlich darum, die vom Arbeitsmarkt induzierten Lebensrisiken abzufedern, also den Betroffenen einen erträglichen Lebensstandard auch dann zu garantieren, wenn sie sich nicht über Lohnarbeit selbst finanzieren können. Das aber ist nicht möglich. Es gibt zu viele, die Anspruch auf Transferleistungen geltend machen können, die fiskalischen Spielräume des Staates sind enger geworden und die Unternehmen sehen sich nicht mehr genötigt, auf die Interessen ihrer Mitarbeiter Rücksicht zu nehmen.

Die neue soziale Frage reduziert sich auf das Problem der Verteilung von Nachteilen: nicht mehr, was einer zu Recht beanspruchen kann, sondern was man ihm mit Fug und Recht vorenthalten darf, nicht mehr die soziale Gerechtigkeit, sondern die unter den gegebenen Bedingungen mögliche Finanzierbarkeit stehen im Mittelpunkt der Diskussion.

Die Aufgabe der Politik besteht nun darin, den Menschen ihr vom Arbeitsmarkt diktiertes Lebensschicksal als notwendig und ihre Probleme als Chance zu verkaufen. Denjenigen, die dauerhaft Transferleistungen in Anspruch nehmen müssen – und dabei handelt es sich grob gesagt um die Mehrheit derer, die älter als fünfzig Jahre sind – gilt es zu vermitteln, dass ihr Beitrag zur Solidarität im Verzicht besteht.

Allen anderen legt man nahe, sich von morgens bis abends neu zu qualifizieren, flexibel und innovativ, mobil und anpassungsfähig zu sein. Das argumentative Repertoire ist mehr oder weniger ausgereizt: die Kassen sind leer und solange die Verteilungslogik so bleibt, wie sie ist, und das System auf der Idee dauerhafter lebenslanger Lohnarbeit basiert, wird sich nichts ändern. Bleibt die normative Kraft des Faktischen, die in diesem Fall darauf hinaus läuft, dass ein jeder sehen möge, wo er bleibt.

Dabei entbehrt es nicht einer gewissen Ironie, wenn gerade diejenigen an Solidarität appellieren und Verzicht einfordern, die selbst weder das eine praktizieren, noch das andere leisten. Der berühmte Satz von Norbert Blüm, dass die Renten sicher seien, trifft heute wohl nur mehr auf ihn selbst zu und das Haifischlächeln der neuen politischen Klasse beim Aufruf zum Sparen und Verzichten wirkt alles andere als glaubwürdig. Vergleicht man die politische Physiologie eines Herbert Wehner mit der eines Friedrich Merz oder einer Frau von der Leyen, so wird die Glaubwürdigkeitslücke mehr als sichtbar.

Es wäre durchaus ein sinnvoller Ansatz im Angesicht einer kollektiven Herausforderung an die Solidarität aller Betroffenen zu appellieren, und gesellschaftliche Probleme als solche zu begreifen, um sie gemeinsam anzugehen. Aber dazu bedürfte es einer stärkeren Verzahnung der beteiligten Gruppierungen, von Unternehmern, Politikern und Bevölkerung, von Jungen und Alten, Arbeitsplatzbesitzern und Arbeitslosen, Inländern und Ausländern.

Aber diese Haltung wird nicht gefördert in einem Klima, das die ökonomische Konkurrenz der Markgesellschaft zum gesellschaftlichen Prinzip erhebt. Solange gilt, dass mein Gewinn immer dein Verlust ist, solange unterschiedliche Gruppen gegeneinander ausgespielt und je nach praktischer Notwendigkeit zum Sündenbock gestempelt werden, kann eine solidarische Haltung sich nicht entwickeln.

Diejenigen, die dafür verantwortlich wären, dass sich diese empfindsame und anfällige politisch-kulturelle Ressource entwickeln kann, haben das Gefühl dafür verloren. Das allerdings ist nicht weiter verwunderlich, denn sie selbst erfahren die Probleme nicht am eigenen Leib und schon Marie Antoinette meinte im Angesicht der hungernden Bevölkerung, wenn der Pöbel kein Brot habe, solle er doch einfach Kuchen essen.

Solange die neue soziale Frage aber auf diesem Niveau verhandelt wird, besteht wenig Hoffnung auf Besserung. Solange die politisch Verantwortlichen sich weigern, die neuen Realitäten anzuerkennen oder wie Frau Merkel zwar bereit sind, die Diagnose zu stellen, aber keine Therapie vorschlagen, werden wir weiterhin auf Verhältnisse zusteuern, die sich keiner wünschen mag auch wenn der eine oder andere dabei ganz gut leben kann.

Dr. Reinhard Kreissl: geb. 1952, ist Soziologe und Publizist. Studium in München, Promotion in Frankfurt/Main. Habilitation an der Universität Wuppertal. Kreissl hat u.a. an den Universitäten San Diego, Berkeley und Melbourne gearbeitet. Er hat zahlreiche wissenschaftliche Publikationen verfasst und schrieb regelmäßig für das Feuilleton der "Süddeutschen Zeitung". Letzte Buchpublikation: "Die ewige Zweite. Warum die Macht den Frauen immer eine Nasenlänge voraus ist".