Friedrich Rückert, "Die Weisheit des Brahmanen"
Nie stille steht die Zeit,
der Augenblick entschwebt,
und den du nicht genutzt,
den hast du nicht gelebt.
Vergeht die Zeit und wenn ja, wohin?
Jetzt sitz ich hier und lese, was ich mir vor ein paar Tagen in Büchern über die Zeit angestrichen habe. Gleich schreibe ich, was ich morgen sprechen werde. Vergangenheit, Augenblick und Zukunft gehen beständig ineinander über – nichts scheint natürlicher.
Michael Esfeld: "Und dann ist die Frage, wie dieser Unterschied zustande kommt, zwischen Vergangenheit und Zukunft. Ob der auch in der Welt liegt oder nicht?"
Mal fließt die Zeit zäh dahin, dann zischt sie schnell vorbei. Doch der subjektive Augenblick passt schlecht zu den mathematischen Formeln. Wie auch die Formeln nicht zum persönlichen Erleben passen. Was also ist real?
Lee Smolin: "Unsere Ansichten zur Zeit beeinflussen, wie wir die über die Zukunft denken und damit auch, wie wir Probleme lösen, ob im Privatleben, in der Wirtschaft oder beim Klimawandel."
Dreifach ist der Schritt der Zeit: Zögernd kommt die Zukunft hergezogen, Pfeilschnell ist das Jetzt entflogen, Ewig still steht die Vergangenheit.
Rovelli: "Wir erleben ganz klar: Vergangenheit und Zukunft sind verschieden. Da gibt es keinen Zweifel. Dinge zerbrechen und setzen sich nicht selbst wieder zusammen. Wir erinnern uns an die Vergangenheit, aber nicht an die Zukunft. Da sollte man doch erwarten, dass die Gesetze der Physik zwischen Vergangenheit und Zukunft unterscheiden."
Im französischen Marseille erforscht Carlo Rovelli die Quantengravitation, versucht also die Relativitätstheorie mit der Quantentheorie zu vereinen. Der Gral der Physik sozusagen, an dem sich die Forscher seit Jahrzehnten die Zähne ausbeißen. Gerade hat der gebürtige Italiener ein Buch vorgelegt. "Die Ordnung der Zeit" heißt es. Darin zerlegt Rovelli erst naive Zeitvorstellungen, um sie dann auf elegante Weise wieder zu retten. Isaac Newton versuchte als erster, die Zeit festzuzurren in ein mathematisches Gerüst.
"Die Gesetze Newtons unterscheiden nicht zwischen der Vergangenheit und der Zukunft. Ein Mond, der die Sonne rückwärts umkreist, würde immer noch Newtons Gesetzen gehorchen. Das ist eine der großen Überraschungen bei der Zeit."
Die Unordnung im Universum steigt ständig
Muller: "Wir wissen so viel mehr über die Entropie als früher. Wir wissen zum Beispiel, dass die Entropie des Universums ziemlich konstant bleibt. Der Großteil steckt in der kosmischen Hintergrundstrahlung und die ändert sich nicht. Es entsteht Entropie im schwarzen Loch, im Zentrum der Milchstraße, aber die Vorstellung, dass diese Entropie über tausende von Lichtjahren die Zeit auf der Erde beeinfluss, ergibt wenig Sinn."
Richard Muller ist Experimentalphysiker im kalifornischen Berkeley. In seinem Buch "Jetzt. Die Physik der Zeit" macht er klar: Wenn sich die Entropie nicht wirklich ändert, verliert der Zeitpfeil des Universums seine so sicher geglaubte Orientierung.
Die Masse der Erde verformt Raum und Zeit. Das spüren wir als Erdanziehung, als Gravitation. Diese Verzerrung der Zeit sorgt aber auch dafür, dass Uhren in den Bergen schneller ticken. Im Vergleich zum Urlaub an der See hat man auf den Alpen mehr Zeit zum Spielen, zum Nachdenken, ist aber auch entsprechend älter geworden – all das kann man messen.
"Es gab also eine Reihe von Überraschungen, die belegen: unsere normalen Vorstellungen von der Zeit sind schlicht falsch, tatsächlich falsch. Das ist wie, an eine flache Erde zu glauben. Das ist ok, aber die Erde ist nun mal nicht flach."
Gibt es den gemeinsamen Augenblick eines "Jetzt"?
Rovelli: "Wir müssen unsere Vorstellung von der Realität erweitern auf die komplexe Zeitstruktur des Universums, in dem wir leben. Und das ist wunderschön."
Wilhelm Busch, "Julchen"
Einszweidrei, im Sauseschritt
Läuft die Zeit; wir laufen mit.
Quantenzeit. Bei all den Kuriositäten ist die Zeit der Elementarteilchen eigentlich recht konventionell. Zentral für die Quantentheorie ist die Wellenfunktion, die zum Beispiel angibt, wie wahrscheinlich es ist, an einem bestimmten Ort ein Teilchen anzutreffen. Diese Wellenfunktion entwickelt sich aber in der Zeit. Im Grunde steht neben den ganzen Quanten eine klassische Kaminuhr und gibt den Takt vor.
Die Relativitätstheorie mit ihrem verwirrenden Zeitkonzept
"Es war eine Überraschung, als in den 60ern die Väter der Quantengravitation Bryce DeWitt und John Wheeler ihre Gleichung aufstellten. Sie enthält überhaupt keine Zeit mehr! Das löste eine riesen Debatte aus. Wie kann man die Welt ohne Zeit beschreiben? Nun, es geht. Unsere normale Vorstellung der Zeit funktioniert im Alltag prima. Wir müssen aber akzeptieren, dass sie nur eine Annäherung ist. Eine Annäherung einer Annäherung. Zeit ist eine Struktur, die auf irgendeiner Ebene auftaucht, aber sie ist wenig hilfreich, wenn wir ganz grundsätzlich über die Welt nachdenken."
"Welt ohne Zeit" nennt Carlo Rovelli diese Realität. Der Schweizer Wissenschaftsphilosoph Michael Esfeld bleibt dieser Definition gegenüber kritisch.
Esfeld: "Es gibt noch keine physikalische Theorie der Quantengravitation. Es gibt etwas, ein Gesetz für eine Wellenfunktion des Universums, das ist die Wheeler de Witt Gleichung in der Quantengravitation. Jetzt müssen sie aber zunächst die Frage beantworten, was hat diese Wellenfunktion mit dem Universum zu tun?"
Aber die Physiker sind ja ganz selbstbewusst und sagen, ja, so ist das.
Esfeld: "Gut, und die Philosophen sind auch sehr selbstbewusst und sagen, halt langsam, wie sieht jetzt genau die Schlussfolgerungen aus? Also der Einwand ist erst einmal aus einem physikalischen Formalismus, aus einer Geometrie, aus einer Dynamik etc. folgt nicht ohne weitere Prämissen eine Aussage darüber, wie die Welt beschaffen ist. Philosophen wollen die Prämissen sehen, die weiteren und darüber kann man dann streiten."
Gottfried Keller, "Schein und Wirklichkeit"
"So werd ich manchmal irre an der Stunde, An Tag und Jahr, ach, an der ganzen Zeit! Sie gärt, sie tost, doch mitten auf dem Grunde Ist es so still, so kalt und zugeschneit!"
Vaccaro: "Mich hat erstaunt, wie wenig Beachtung die Leute dem Gesetz für den Mesonen-Zerfall schenken. Wir wissen, in einer rückwärts laufenden Zeit würden sie sich anders verhalten. Sie haben diese eingebaute Asymmetrie der Zeit und zwar als einzige Teilchen."
Das belegen inzwischen auch Experimente. Das Unschärfeprinzip besagt: Teilchen zittern sozusagen in der Zeit, mal Richtung Zukunft, mal Richtung Vergangenheit. Für Mesonen ist dieses Zittern nicht symmetrisch. Unterm Strich bewegen sie sich vorwärts in der Zeit, statt einfach stehen zu bleiben. Ein belangloses Detail könnte man meinen, aber Joan Vaccaro hat im Computer ein ganzes Universum ohne Zeitentwicklung simuliert. Dann steckte sie virtuelle Mesonen hinein.
"Ich nehme sie also in das Modell auf und die Galaxie kann einfach nicht mehr an dem Zeitpunkt bleiben, an den ich sie gesetzt hatte. Sie fliegt durch die Zeit, sie taucht an allen anderen Zeitpunkten auf und daraus entsteht dann eine Dynamik, aus der grundlegende physikalische Gesetzen folgen. Ein ziemlich gutes Ergebnis."
Die Zeit der Joan Vaccaro. Vergangenheit und Zukunft sind auch bei ihr gleich real, es gibt kein Jetzt. Das Neue ist die Bewegung. Die Mesonen zittern sich Richtung Zukunft, und obwohl es so wenige von ihnen gibt und sie nur so kurz existieren, reißen sie letztlich das ganze Universum mit sich. Beginnend beim Urknall wird jeder Punkt in der Raumzeit von Mesonen Richtung Zukunft gedrückt.
Und das wiederum passt zum menschlichen Zeitempfinden: Menschen sind träge Wesen, für uns braucht selbst ein Augenblick seine Zeit. Das Gehirn benötigt ein bis drei Sekunden allein, um die Wahrnehmung sinnvoll zu organisieren. Um etwa schnelle Lichtsignale mit langsamen Schallsignalen desselben Objektes zu kombinieren.
"Das ist genug, um das Verstreichen der Zeit zu fühlen. In unserem Augenblick sind viele physikalische Zustände von ein wenig früher zu ein bisschen später enthalten. Ich habe keine Vorstellung davon, wie wir das wahrnehmen können. Es ist einfach eine mathematische Struktur, die das möglich macht. Philosophen haben so etwas vermisst, das ist eine neue Art die Dinge zu beschreiben. "
Emanuel Geibel, "Sprüche"
Die Zeit ist wie ein Bild von Mosaik; Zu nah beschaut, verwirrt es nur den Blick; Willst du des Ganzen Art und Sinn verstehn, So musst du's, Freund, aus rechter Ferne sehn.
"Mehr Raum bedeutet auch mehr Zeit"
Muller: "Eine Sache, die wir von Einstein gelernt haben, ist die enge Verbindung von Raum und Zeit. Ich hatte einen aha-Moment: mehr Raum bedeutet auch mehr Zeit. Seit dem Urknall wird dem Universum immer weiter Zeit hinzugefügt. Und diese neue Zeit nennen wir Jetzt. Wir bekommen jede Sekunde eine neue Sekunde dazu, weil mehr Raum im Universum entsteht und damit mehr Zeit. Der neue Raum bildet sich zwischen den Galaxien und die neue Zeit ist unser Jetzt, Jetzt, Jetzt, Jetzt, Jetzt. Die Zeit nimmt also immer weiter zu."
Die Zeit des Richard Muller. Die meisten Modelle der Raumzeit betrachten alle Momente in der Zeit als gleichwertig, egal ob sie in der Vergangenheit oder in der Zukunft liegen. Richard Muller sagt aber: es gibt einen besonderen Moment, das Jetzt. Die Zukunft dahinter, ist noch nicht da, sie entsteht, Tick, Tack, Tick, Tack…mit jedem Jetzt-Moment neu. Weil der Urknall gar nicht anders kann, als immer weiter neuen Raum und damit neue Zeit zu produzieren. Im Grunde surfen wir auf dieser Welle frisch geprägter Zeit einer unbekannten Zukunft entgegen.
Eine schöne Theorie, doch sie überzeugt den Philosophen Michael Esfeld nicht.
"Also, Sie haben ein lokales Zeiterlebnis, für Sie kommt Zeit hinzu, für mich kommt Zeit hinzu, wenn wir uns beide begegnen, sollten wir uns darauf einigen können, auf eine gemeinsame Vergangenheit. Was für Sie vergangen ist, was für mich vergangen ist und wie das, was vergangen wurde sich zu dem, was gegenwärtig ist, verhält. Und diese Theorie des wachsenden Block Universums hat die Schwierigkeit, von der lokalen Zeit zu einer globalen Zeit zu kommen."
Christian Morgenstern, "Schicksals-Spruch"
Unhemmbar rinnt und reißt der Strom der Zeit, in dem wir gleich verstreuten Blumen schwimmen, unhemmbar braust und fegt der Sturm der Zeit, wir riefen kaum, verweht sind unsre Stimmen.
"In der Physik gibt es, anders als im gewöhnlichen Leben, die Vorstellung, dass das Erleben des Augenblicks oder des Fließens der Zeit Illusionen sind, das wir in einem zeitlosen Universum leben. Das bestreite ich."
Zeit ist ein zutiefest menschliches Phänomen
"Eine Theorie, die das komplette Universum beschreiben will, muss die Realität des Momentes und des Zeitflusses aufnehmen. Alles was real ist, ist real in einem Moment. Alles was wahr ist, ist wahr im Moment. Und dieser Moment ist Teil einer Abfolge von Momenten. Die Natur existiert von Moment zu Moment zu Moment. Wenn wir das Vergehen der Zeit spüren, ist das keine Illusion, keine Besonderheit unserer Psyche, sondern ein Privileg und eine der tiefsten Einsichten in die Natur."
Die Zeit des Lee Smolin. Sie ist schwer zu fassen. Einerseits setzt er die menschliche Zeiterfahrung in den Mittelpunkt. Die Welt entwickelt sich also tatsächlich von Moment zu Moment Richtung Zukunft weiter. Gleichzeitig akzeptiert er in weiten Teilen physikalische Gesetze, die eben dies bestreiten. Den Widerspruch will er über die Veränderung der Gesetze selbst auflösen, aber wie das funktioniert und was das alles mit dem Zeitempfinden zu tun hat, bleibt vorerst unklar.
Paul Fleming, "Gedanken über die Zeit"
Die Zeit, die stirbt in sich und zeugt sich auch aus sich. Dies kömmt aus mir und dir, von dem du bist und ich. Der Mensch ist in der Zeit; sie ist in ihm ingleichen, doch aber muss der Mensch, wenn sie noch bleibet, weichen.
Im Grunde interpretiert Carlo Rovelli den Zeitpfeil der Entropie neu. Der besagt, die Zeit fließt, weil im Universum die Unordnung tendenziell zunimmt. Das Glas, eine geordnete Struktur, zerbricht. Unordentliche Scherben setzen sich nicht spontan zusammen. Das klingt plausibel, aber nur solange man die Details ignoriert. Könnten wir den Scherbenhaufen Atom für Atom betrachten, dann wäre er genauso einzigartig und besonders, wie das heile Glas und damit genauso ordentlich. Auf der atomaren Ebene nimmt die Unordnung also nicht zu. Hier stellt der Physiker Rovelli noch einmal klar: die Unordnung alleine kann den Fluss der Zeit nicht in Bewegung halten. Der Mensch Rovelli kann aber gar nicht so genau hinsehen. Für ihn und für uns gleicht ein Scherbenhaufen dem anderen und alle sehen nach Unordnung aus. Und daran kann, ganz subjektiv, unser Zeitgefühl anknüpfen.
"Zeit ist Unwissen"
Die Zeit des Carlo Rovelli. Liegt vor allem im Auge des Betrachters. Unsere grobkörnigen Sinne nehmen die Welt nicht als eine Ansammlung von Atomen wahr. Deshalb sehen für uns alle Scherbenhaufen gleich aus und nur das heile Glas sticht heraus. In dieser Perspektive ist es wahrscheinlicher, dass das Glas zu Scherben zerspringt, als das sich Scherben sich zu einem Glas zusammenfügen. Genau dieser Unterschied aber bringt die Zeit zumindest aus menschlicher Sicht zum Fließen.
Michael Esfeld aber gibt zu bedenken.
"Die Dinosaurier, wenn sie existiert haben, haben existiert, gelebt unabhängig davon, was Sie oder ich darüber denken. Vielleicht ist der Zugang von Ihnen und von mir verschieden, aber es gibt Sachverhalte darüber, über die Zeitentwicklung von Dinosauriern, die unabhängig sind von der Perspektive von Beobachtern."
Gottfried Keller, "Die Zeit geht nicht"
Die Zeit geht nicht, sie stehet still, Wir ziehen durch sie hin; Sie ist ein’ Karawanserei, Wir sind die Pilger drin.
Für Lee Smolin ist das Wesen der Zeit keine rein abstrakte Frage. Die jeweiligen Antworten haben ganz praktische Konsequenzen für die Menschen, blockieren oder motivieren. Und es gibt einen ganzen Strauß von Angeboten. Lee Smolins Universum des ewigen Wandels klingt erstrebenswert. Aber es ist eine Illusion argumentiert Joan Vaccaro. In ihrer Theorie der Zeit gibt es zwar eine Bewegung Richtung Zukunft, aber die eröffnet keine Handlungsspielräume.
"Alles ist durch physikalische Gesetze vorgegeben, also haben wir keinen freien Willen. Die Zukunft ist festgelegt. Wir treiben durch eine Sequenz von Ereignissen, aber wir treffen auf unser Schicksal, ob es uns gefällt oder nicht."
Entscheidend ist der Moment des Jetzt
"Genau dann können wir den freien Willen nutzen. Die Vergangenheit existiert, sie lässt sich leider nicht ändern. Sorry, das ist die schlechte Nachricht an meiner Theorie, keine Zeitreisen. Aber die Zukunft können wir mit unserem Willen verändern. Deshalb ist das Jetzt so wichtig. Also die neue Zeit, die seit dem Urknall entsteht."
Und für Carlo Rovelli ist die Wahrnehmung der Zeit weniger eine Sache der Physik, als der Gefühle.
Andreas Gryphius, "Betrachtung der Zeit"
Mein sind die Jahre nicht, die mir die Zeit genommen, Mein sind die Jahre nicht, die etwa möchten kommen. Der Augenblick ist mein, und nehm' ich den in acht, So ist der mein, der Jahr und Ewigkeit gemacht.