Alben gegen den Herbstblues
Die türkische Sängerin Gaye Su Akyol zelebriert die ganz großen Gefühle in aufwühlenden Songs. Auch aus Russland und Schweden stammen neue Alben, die – mal mit zarter Stimme, mal mit pumpenden Bläsern – den Herbst etwas bunter machen.
Dobranotch: "20 Years Dobranotch"
So klingt bei Dobranotch ein jüdischer Nigun, eine oft improvisierte religiöse Melodie aus der Tradition der Lubawitscher Chassidim. Aufgenommen für das Album zum 20-jährigen Bandjubiläum. Dobranotch ist keine orthodoxe Hochzeitskapelle, obwohl sie auch das stemmen könnten, sondern ein folkloristisches Kollektiv mit Basis in Sankt Petersburg und einer Fangemeinde zwischen Berlin, Paris, Moskau und Sibirien. Dabei haben sie mit alten Zöpfen überhaupt nichts am Hut.
Dobranotch spielt diese Coverversion des Rammstein-Klassikers "Du Hast" mit einer diebischen Freude am oft schwer ironischen Liedgut der Band aus Berlin. Die Petersburger Anarchisten mischen aber auch jiddisches Liedgut, russische Gaunergesänge, sowjetische Estradenmusik, pumpende Bläser und klagende Klarinettensounds. Keiner falschen Nostalgie wird hier gefrönt, sondern dem überkonfessionellen Gott der Tanzmusik aus den verschwundenen Stetln Osteuropas gehuldigt, mit Stippvisiten in Kurdistan, Bulgarien oder der Hafenstadt Odessa. Bei ihren Konzerten mischen sich die Musiker gern unters Publikum, so wie es ihre Vorgänger auf Dorfhochzeiten gemacht haben. 16 Titel blanker Frohsinn, man muss ja nicht gleich Wodkagläser zerschlagen, aber wer hier nicht tanzt, ist selber schuld!
Lisa Lestander: "Sånger från norr II"
Ein ätherisches Herbstalbum hat Lisa Lestander vorgelegt. Manche kennen sie als eine der vier Stimmen des a-cappella Ensembles Kraja. "Sånger från Norr II" ist eine Reise in die Vergangenheit, dabei hebt die Schwedin, die auch Flügelhorn spielt, gemeinsam mit Jonas Knutsson am Saxophon und Mats Öberg an Harmonika und Synthesizer, wahre Schätze. Arrangiert um die zarte Stimme von Lisa Lestander sind diese Lieder aus Nordschweden, die hier nun wirklich niemand kannte, denn sie schlummerten bislang in Archiven. Alle drei Musiker stammen aus der historischen schwedischen Provinz Västerbotten, die hier auf die Landkarte der zeitgenössischen Folkmusik kommt. Wer jazzig angehauchte, hymnische Lieder aus dem Norden mag und sich auf den Minimalismus dieser Platte einlässt, liegt bei "Sånger från Norr II" genau richtig.
Gaye Su Akyol: "İstikrarlı Hayal Hakikattir"
"Steine in unserer Brust, niemand trocknet die Tränen. Das ganze Land ist ein Nargile Kafe, wir ersticken im Qualm." Wenn die Türkin Gaye Su Akyol solche Zeilen singt, hört man unweigerlich zu, denn sie verpackt ihre Texte in eine dunkel schillernde Musik. İstikrarlı Hayal Hakikattir – woran man fest glaubt, das wird Realität, so kann man den Titel ihres neuen Albums übersetzen.
Die in Electro-Saz Musik und dem Sound der 70er-Jahre fest verwurzelte Sängerin schrieb diesmal nicht nur alle Songs selbst, bis auf eine Ausnahme, sie fungiert auch als Produzentin. Eine, die Surfgitarren liebt, schwebende Trompeten oder Vintage-Keyboards. Nichts wird hier effekthaschend eingesetzt, alles steht im Dienste ihrer Songs. Die auch von unserer kaputten Welt erzählen. Dabei entstand ein Album großer Gefühle, orientalisch mäandernder Rhythmen und ungerader Grooves. Gaye Su Akyol singt vor allem Liebeslieder, eine Platte die aufwühlt und wärmt, wie ein loderndes Herbstfeuer.