Neuer Ausblick auf Marseille
Heute wird in Marseille das Musée des Civilisations de l’Europe et de la Méditerranée eingeweiht. Der Projektleiter Tilman Reichert sieht es als "Horizonterweiterung" für die Stadt, der Architekt Rudy Ricciotti will mit dem MUCEM gegen "die Gewissheit Nordeuropas" auftreten.
Tilman Reichert: Wir haben hier an einer ganz besonders exponierten Stelle, nämlich genau an der Hafeneinfahrt zwischen dem alten und dem ganz alten Hafen von Marseille, ein Museum bauen können, was im Rahmen eines städtebaulichen und Erneuerungsprojektes Zugang zur Stadt komplett neu konfiguriert, von wo aus die Marseiller von jetzt ab einen ganz neuen Ausblick auf die Wahrzeichen ihrer Stadt haben können – das Weststadtquartier können wir überblicken …
Susanne Führer: Wir blicken auf das weite Meer …
Reichert: Wir sehen das weite Meer, wir sehen den Horizont, wir sehen die Îles du Frioul, hinter uns haben wir das Fort Saint Jean, die alte Festung von Marseille.
Führer: Eine alte Festung – auch farblich ein schöner Kontrast, das MUCEM ist ja eher schwarz, die Festung ist so ockerfarben.
Reichert: Ocker, alter Stein hier aus den Steinbrüchen der Calanque. Das Fort Saint Jean ist eine Festung, die irrtümlicherweise so aussieht, als würde sie Marseille vor den Angreifern beschützen, in Wirklichkeit ist die Festung errichtet worden, um Marseille zu kontrollieren. Ludwig XIV. hat diese Festung so ausgebaut, dass die Schießscharten, wenn Sie genau schauen, sich auf die Stadt richten, nicht aufs Meer. Denn die Marseiller sind echte Meeranrainer und tun gerne, was ihnen gefällt, mit dem, was sie können.
Führer: Ein rebellisches Volk, ja.
Reichert: Genau. Das Besondere ist, dass die Festung jetzt öffentlich zugänglich wird, und von da aus allen Menschen einen ganz neuen Ausblick auf die Geografie der Stadt bringt. Sie sehen Notre-Dame de la Garde hinter uns …
Führer: Das Wahrzeichen Marseilles, die große Kirche mit der …
Reichert: Die große Beschützerin der Seefahrer.
Führer: Ja, ich sollte noch mal kurz sagen, mit dieser berühmten Statue, die Jungfrau Maria mit dem Jesuskind im Arm.
Reichert: Und sie haben genau hier, wo das Museum heute gebaut ist, mit der neuen Esplanade eine vollkommen neue Stadtwahrnehmung.
Führer: Ganz neue Blickachsen, die sich dadurch eröffnen. Und das Museum steht – das kann man vielleicht noch mal kurz erwähnen – wortwörtlich im Wasser, es ist ja umspült.
Reichert: Es steht im Wasser, genau, es steht im Wasser, es sind außen herum Hafenbecken gebaut worden vor 200 Jahren, andere sind erst letztes Jahr gebaut worden. Und dieser Ort ist natürlich geschichtlich sehr beladen, weil von hier aus der ganze Transport zwischen Nordafrika und Frankreich immer schon stattgefunden hat. In Deutschland ist es etwas bekannter dadurch, dass "Theo gegen den Rest der Welt" hier seinen Lastwagen verloren hat mit Marius Müller-Westernhagen.
Führer: Der Film, ja.
Reichert: Wir sehen auf einmal, dass diese Stadt sich wirklich in der Höhe entwickelt, was man, wenn man fußläufig in der Stadt dann unterwegs ist, spürt, aber diesen Blick hat man nie darauf. Und all das ist natürlich nicht nur eine Stadterneuerung, sondern eine Stadt- und eine Horizonterweiterung, und das ist eigentlich das, dass eben durch Neuigkeiten der Horizont nachhaltig erweitert wird.
Führer: Das sagt Tilman Reichert, er ist Projektleiter im Büro des Architekten Rudy Ricciotti. Vielen Dank, Herr Reichert, für das Gespräch!
Und nun haben wir auch den Architekten hier, Rudy Ricciotti. Bonsoir, Monsieur! Sie sagen immer über sich, sie arbeiteten an Ihren Projekten immer in der Angst, es schlecht zu machen. Nun ist ja der Tag der Einweihung des Museums gekommen. Ist die Angst jetzt endlich verflogen und Sie ein glücklicher Architekt?
Rudy Ricciotti: Ich bin nie ein glücklicher Architekt. Glücklich bin ich nur im Privatleben. Ich habe das Projekt elf Jahre lang immer wieder überarbeitet und überprüft. Ich mache einfach meine Arbeit. Ich komme ja aus dem Süden, einer der mediterranen Kulturen, die gerne als minderwertig betrachtet werden, daher habe ich schon lange dem Pathos abgeschworen. Es gab ja etwas vor dem MUCEM, es gibt etwas auch nach dem MUCEM, das ist ein bisschen wie bei der europäischen Kulturhauptstadt. Marseille musste nicht bis 2013 warten, um eine Kultur zu entwickeln, und sie wird auch 2014 noch eine haben.
Führer: Das Gebäude ist ein schlichter Kubus, der aber eingepackt, also man könnte sagen, angezogen ist mit einem Kleid aus Arabesken aus Beton, aus einem sehr speziellen Beton allerdings, der ganz leicht wirkt. Ist das der Grund, warum Sie gesagt haben, es handele sich um ein feminines Projekt?
Ricciotti: Zunächst einmal, es ist nicht eingepackt, sondern vor der Sonne geschützt. Außerdem sind ja nur zwei der vier Fassaden und das Dach mit dem Geflecht überzogen. Ich bin ein Architekt ohne besonderen Ehrgeiz, ich strebe keine internationale Karriere an. Ich bin ein Architekt aus der Provinz. Ich fühle mich wie ein Koch, der den Salat und das Gemüse aus dem Garten nebenan holt. Das, was man vielleicht als Schmuckwerk bezeichnen könnte, ist vom Leben unter Wasser inspiriert. Wir haben uns vorgenommen, den steinigen Meeresboden horizontal aufzuschneiden und dann vertikal aufzustellen, wie ein Korallenriff, und aus dem mikroskopischen Blick auf die Körnung haben wir einen Sonnenschutz für das Gesicht des Museums gemacht. Es ist eine Referenz auf Alfred Hitchcock, der sich geweigert hat, in seinen Filmen Frauen aus dem Mittelmeerraum zu zeigen, weil er meinte, diese Frauen tragen ihre Sexualität im Gesicht. Sonst noch Fragen?
Führer: Und deswegen ein feminines Projekt?
Ricciotti: Wenn Sie das Innere des Museums betrachten, dann sehen Sie ein Tragwerk wie Baumstämme oder wie die Muskeln eines hungernden Marathonläufers aus Kenia. Wenn man darüberstreicht, dann spüren Sie Muskeln, Knochen, Haut, aber in Wahrheit ist das Ganze ein Werk, das unter der Diktatur der Mathematik entstanden ist. Es ist das Produkt einer enormen mechanischen Anstrengung. Der Beton ist extrem druckfest, fünf Mal fester als normaler Beton. Und das Paradox der Weiblichkeit, das ich meine, besteht in dieser Akkumulation der Kraft.
Es ist ein Gebäude, das sich gegen den angelsächsischen Imperialismus zur Wehr setzt, gegen die Mythen und die Gewissheit Nordeuropas. Es wehrt sich gegen den Terror des Minimalismus, gegen die moralische Bleikappe, die uns die Moderne seit so vielen Jahren übergestülpt hat. Für mich hat die Moderne sehr viel gemeinsam mit dem Salafismus, seinem Tugenddiskurs, der im Verschwinden des weiblichen Angesichts gipfelt, das Verbot der Erzählung. Minimalisten und Salafisten, beide verabscheuen Gesicht und die Tugenden der Weiblichkeit.
Führer: "Die mediterrane Kultur ist eine der Angst, der Gewalt und des Lachens", das ist ein Zitat von Ihnen. Nach dem, was Sie gerade gesagt haben, würde man denken, das MUCEM ist sozusagen ein Symbol dafür, dass Sie dagegen opponieren wollen.
Ricciotti: Das Gebäude müssen Sie vor dem Hintergrund der Stadt betrachten. Marseille ist die Stadt der Einsamkeit, die Landschaft ist karg und streng. Sie haben hier eine Felsenküste, der Zugang zum Meer ist brutal. Die physische Gewalt ist überall spürbar. Das Mittelmeer markiert eine Kluft, eine Wunde, die nie heilt. Aber wie es der Filmemacher Jacques Audiard formuliert: "All die, die einen Filmriss im Kopf habe, die schicken uns durch diesen Riss das Licht."
Führer: Das Gebäude – obwohl es ein Würfel ist – wirkt sehr leicht, und zu diesem Eindruck der Leichtigkeit trägt wahrscheinlich auch der über 130 Meter lange Steg bei, der ja in luftiger Höhe vom MUCEM zur Festung Saint Jean geht, hier gleich nebenan. Und dieser Steg ermöglicht es auch denjenigen, die gar nicht in das Museum wollen, trotzdem hierher zu kommen zum Museum, und dann noch über weitere Stege auch an der Fassade entlang zu gehen. Wie wichtig war es Ihnen, dass das hier ein Ort wird, der allen offen steht, also nicht nur den Museumsbesuchern?
Ricciotti: Das Museum ist sehr genau in seine Umgebung eingefügt: im Norden der mächtige Hafen, im Westen das Panorama der Stadt mit ihren Steinhäusern, und im Osten die metaphysische Masse des Mittelmeers mit den Farben, die von Kobaltblau über Silberglänzend bis Schwarz bei Nacht changieren. Das Museum ist so etwas wie eine physische Erfahrung, in die man eintauchen kann. Man kann vom Meeresspiegel bis ganz nach oben auf die Terrasse wandern. Und oben kommt man dann weiter über das Fort Saint Jean in das alte Korbmacherviertel, das Panier – ein Durchschreiten des Naturraums und seiner sozialen Strukturen. Deshalb war meine Bedingung an den Kultusminister auch, dass alle Wege zum Museum und drum herum für alle immer öffentlich zugänglich sind.
Führer: Man könnte sagen, dies ist der Geburtstag des Museums. Was wünschen Sie ihm für die Zukunft?
Ricciotti: Das Museum soll seine politische Verantwortung ausüben. Ein Museum hat immer eine politische Aufgabe, es kann nicht darum gehen, etwas zu musealisieren, das Mittelmeer soll nicht als ein totes Meer, als ein Fossil präsentiert werden. Ich wünsche dem Museum, dass es in seinem kulturellen Ehrgeiz tyrannisch auftritt gegenüber der tyrannischen Leitkultur.
Führer: Rudy Ricciotti, der Architekt des neuen Museums für die Kulturen Europas und des Mittelmeerraums, des MUCEM. Merci beaucoup, Monsieur Ricciotti!
Ricciotti: Merci, danke schön!
Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Deutschlandradio macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.
Susanne Führer: Wir blicken auf das weite Meer …
Reichert: Wir sehen das weite Meer, wir sehen den Horizont, wir sehen die Îles du Frioul, hinter uns haben wir das Fort Saint Jean, die alte Festung von Marseille.
Führer: Eine alte Festung – auch farblich ein schöner Kontrast, das MUCEM ist ja eher schwarz, die Festung ist so ockerfarben.
Reichert: Ocker, alter Stein hier aus den Steinbrüchen der Calanque. Das Fort Saint Jean ist eine Festung, die irrtümlicherweise so aussieht, als würde sie Marseille vor den Angreifern beschützen, in Wirklichkeit ist die Festung errichtet worden, um Marseille zu kontrollieren. Ludwig XIV. hat diese Festung so ausgebaut, dass die Schießscharten, wenn Sie genau schauen, sich auf die Stadt richten, nicht aufs Meer. Denn die Marseiller sind echte Meeranrainer und tun gerne, was ihnen gefällt, mit dem, was sie können.
Führer: Ein rebellisches Volk, ja.
Reichert: Genau. Das Besondere ist, dass die Festung jetzt öffentlich zugänglich wird, und von da aus allen Menschen einen ganz neuen Ausblick auf die Geografie der Stadt bringt. Sie sehen Notre-Dame de la Garde hinter uns …
Führer: Das Wahrzeichen Marseilles, die große Kirche mit der …
Reichert: Die große Beschützerin der Seefahrer.
Führer: Ja, ich sollte noch mal kurz sagen, mit dieser berühmten Statue, die Jungfrau Maria mit dem Jesuskind im Arm.
Reichert: Und sie haben genau hier, wo das Museum heute gebaut ist, mit der neuen Esplanade eine vollkommen neue Stadtwahrnehmung.
Führer: Ganz neue Blickachsen, die sich dadurch eröffnen. Und das Museum steht – das kann man vielleicht noch mal kurz erwähnen – wortwörtlich im Wasser, es ist ja umspült.
Reichert: Es steht im Wasser, genau, es steht im Wasser, es sind außen herum Hafenbecken gebaut worden vor 200 Jahren, andere sind erst letztes Jahr gebaut worden. Und dieser Ort ist natürlich geschichtlich sehr beladen, weil von hier aus der ganze Transport zwischen Nordafrika und Frankreich immer schon stattgefunden hat. In Deutschland ist es etwas bekannter dadurch, dass "Theo gegen den Rest der Welt" hier seinen Lastwagen verloren hat mit Marius Müller-Westernhagen.
Führer: Der Film, ja.
Reichert: Wir sehen auf einmal, dass diese Stadt sich wirklich in der Höhe entwickelt, was man, wenn man fußläufig in der Stadt dann unterwegs ist, spürt, aber diesen Blick hat man nie darauf. Und all das ist natürlich nicht nur eine Stadterneuerung, sondern eine Stadt- und eine Horizonterweiterung, und das ist eigentlich das, dass eben durch Neuigkeiten der Horizont nachhaltig erweitert wird.
Führer: Das sagt Tilman Reichert, er ist Projektleiter im Büro des Architekten Rudy Ricciotti. Vielen Dank, Herr Reichert, für das Gespräch!
Und nun haben wir auch den Architekten hier, Rudy Ricciotti. Bonsoir, Monsieur! Sie sagen immer über sich, sie arbeiteten an Ihren Projekten immer in der Angst, es schlecht zu machen. Nun ist ja der Tag der Einweihung des Museums gekommen. Ist die Angst jetzt endlich verflogen und Sie ein glücklicher Architekt?
Rudy Ricciotti: Ich bin nie ein glücklicher Architekt. Glücklich bin ich nur im Privatleben. Ich habe das Projekt elf Jahre lang immer wieder überarbeitet und überprüft. Ich mache einfach meine Arbeit. Ich komme ja aus dem Süden, einer der mediterranen Kulturen, die gerne als minderwertig betrachtet werden, daher habe ich schon lange dem Pathos abgeschworen. Es gab ja etwas vor dem MUCEM, es gibt etwas auch nach dem MUCEM, das ist ein bisschen wie bei der europäischen Kulturhauptstadt. Marseille musste nicht bis 2013 warten, um eine Kultur zu entwickeln, und sie wird auch 2014 noch eine haben.
Führer: Das Gebäude ist ein schlichter Kubus, der aber eingepackt, also man könnte sagen, angezogen ist mit einem Kleid aus Arabesken aus Beton, aus einem sehr speziellen Beton allerdings, der ganz leicht wirkt. Ist das der Grund, warum Sie gesagt haben, es handele sich um ein feminines Projekt?
Ricciotti: Zunächst einmal, es ist nicht eingepackt, sondern vor der Sonne geschützt. Außerdem sind ja nur zwei der vier Fassaden und das Dach mit dem Geflecht überzogen. Ich bin ein Architekt ohne besonderen Ehrgeiz, ich strebe keine internationale Karriere an. Ich bin ein Architekt aus der Provinz. Ich fühle mich wie ein Koch, der den Salat und das Gemüse aus dem Garten nebenan holt. Das, was man vielleicht als Schmuckwerk bezeichnen könnte, ist vom Leben unter Wasser inspiriert. Wir haben uns vorgenommen, den steinigen Meeresboden horizontal aufzuschneiden und dann vertikal aufzustellen, wie ein Korallenriff, und aus dem mikroskopischen Blick auf die Körnung haben wir einen Sonnenschutz für das Gesicht des Museums gemacht. Es ist eine Referenz auf Alfred Hitchcock, der sich geweigert hat, in seinen Filmen Frauen aus dem Mittelmeerraum zu zeigen, weil er meinte, diese Frauen tragen ihre Sexualität im Gesicht. Sonst noch Fragen?
Führer: Und deswegen ein feminines Projekt?
Ricciotti: Wenn Sie das Innere des Museums betrachten, dann sehen Sie ein Tragwerk wie Baumstämme oder wie die Muskeln eines hungernden Marathonläufers aus Kenia. Wenn man darüberstreicht, dann spüren Sie Muskeln, Knochen, Haut, aber in Wahrheit ist das Ganze ein Werk, das unter der Diktatur der Mathematik entstanden ist. Es ist das Produkt einer enormen mechanischen Anstrengung. Der Beton ist extrem druckfest, fünf Mal fester als normaler Beton. Und das Paradox der Weiblichkeit, das ich meine, besteht in dieser Akkumulation der Kraft.
Es ist ein Gebäude, das sich gegen den angelsächsischen Imperialismus zur Wehr setzt, gegen die Mythen und die Gewissheit Nordeuropas. Es wehrt sich gegen den Terror des Minimalismus, gegen die moralische Bleikappe, die uns die Moderne seit so vielen Jahren übergestülpt hat. Für mich hat die Moderne sehr viel gemeinsam mit dem Salafismus, seinem Tugenddiskurs, der im Verschwinden des weiblichen Angesichts gipfelt, das Verbot der Erzählung. Minimalisten und Salafisten, beide verabscheuen Gesicht und die Tugenden der Weiblichkeit.
Führer: "Die mediterrane Kultur ist eine der Angst, der Gewalt und des Lachens", das ist ein Zitat von Ihnen. Nach dem, was Sie gerade gesagt haben, würde man denken, das MUCEM ist sozusagen ein Symbol dafür, dass Sie dagegen opponieren wollen.
Ricciotti: Das Gebäude müssen Sie vor dem Hintergrund der Stadt betrachten. Marseille ist die Stadt der Einsamkeit, die Landschaft ist karg und streng. Sie haben hier eine Felsenküste, der Zugang zum Meer ist brutal. Die physische Gewalt ist überall spürbar. Das Mittelmeer markiert eine Kluft, eine Wunde, die nie heilt. Aber wie es der Filmemacher Jacques Audiard formuliert: "All die, die einen Filmriss im Kopf habe, die schicken uns durch diesen Riss das Licht."
Führer: Das Gebäude – obwohl es ein Würfel ist – wirkt sehr leicht, und zu diesem Eindruck der Leichtigkeit trägt wahrscheinlich auch der über 130 Meter lange Steg bei, der ja in luftiger Höhe vom MUCEM zur Festung Saint Jean geht, hier gleich nebenan. Und dieser Steg ermöglicht es auch denjenigen, die gar nicht in das Museum wollen, trotzdem hierher zu kommen zum Museum, und dann noch über weitere Stege auch an der Fassade entlang zu gehen. Wie wichtig war es Ihnen, dass das hier ein Ort wird, der allen offen steht, also nicht nur den Museumsbesuchern?
Ricciotti: Das Museum ist sehr genau in seine Umgebung eingefügt: im Norden der mächtige Hafen, im Westen das Panorama der Stadt mit ihren Steinhäusern, und im Osten die metaphysische Masse des Mittelmeers mit den Farben, die von Kobaltblau über Silberglänzend bis Schwarz bei Nacht changieren. Das Museum ist so etwas wie eine physische Erfahrung, in die man eintauchen kann. Man kann vom Meeresspiegel bis ganz nach oben auf die Terrasse wandern. Und oben kommt man dann weiter über das Fort Saint Jean in das alte Korbmacherviertel, das Panier – ein Durchschreiten des Naturraums und seiner sozialen Strukturen. Deshalb war meine Bedingung an den Kultusminister auch, dass alle Wege zum Museum und drum herum für alle immer öffentlich zugänglich sind.
Führer: Man könnte sagen, dies ist der Geburtstag des Museums. Was wünschen Sie ihm für die Zukunft?
Ricciotti: Das Museum soll seine politische Verantwortung ausüben. Ein Museum hat immer eine politische Aufgabe, es kann nicht darum gehen, etwas zu musealisieren, das Mittelmeer soll nicht als ein totes Meer, als ein Fossil präsentiert werden. Ich wünsche dem Museum, dass es in seinem kulturellen Ehrgeiz tyrannisch auftritt gegenüber der tyrannischen Leitkultur.
Führer: Rudy Ricciotti, der Architekt des neuen Museums für die Kulturen Europas und des Mittelmeerraums, des MUCEM. Merci beaucoup, Monsieur Ricciotti!
Ricciotti: Merci, danke schön!
Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Deutschlandradio macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.