Neuer Blick auf die Epoche

Von Adolf Stock |
Biedermeier: Wir dachten, alles über eine Stilepoche zu wissen, die den Rückzug ins Private huldigt. Biedermeier, das war vor allem ein Synonym für verstaubte Langeweile. Und nun die Überraschung: Das Deutsche Historische Museum in Berlin wagt mit seiner Ausstellung "Biedermeier. Die Erfindung der Einfachheit" einen ganz neuen Blick auf die Epoche.
Hans Ottomeyer: "Ich kann für meinen Namen Ottomeyer nichts, genauso kann für den Namen Biedermeier die Stilwirklichkeit dieser Epoche nichts, das sind Namen. Namen haben prinzipiell nichts zu bedeuten, die Gotik ist nicht von den Goten und der Wachtelkönig ist nicht der König der Wachteln. Da hat eben die Kulturgeschichte zu einem falschen, ideologisch befrachteten Urteil gefunden, das heißt der Begriff der Epoche hat mit der Wirklichkeit mit dieser Zeit nichts, rein gar nichts zu tun."

Hans Ottomeyer, Generaldirektor des DHM, des Deutschen Historischen Museums Berlin, ist in seinem Element. Mit 450 Exponaten, die alle zwischen 1786 und 1835 entstanden sind, geht es der Kulturgeschichte an den Kragen. Unser schönes, muffiges Biedermeier gibt es nicht mehr.

Man lernt das Staunen: Teekannen aus Wien, die an das Bauhaus erinnern, Vasen aus Böhmen, die in ihrer geometrischen Gestalt wie Art Deco aussehen, oder Kontorschränke aus Wien und München, die glatt als Möbel einer amerikanischen Shaker-Werkstatt durchgehen könnten.
Hans Ottomeyer: "Glauben Sie nicht, dass das zufällig ist. In Kunstgewerbemuseen, in Sammlungen wurden eben diese Stücke vorgehalten, als Vorbilder. Dort hat man von ihnen gelernt und sie oft in direkter Kopie als eigene Erfindung ausgegeben. Der Alessi-Brotkorb geht direkt, ohne Abstriche auf eine Gestaltung in Kopenhagen 1813 zurück, nur dass Kopenhagen massiv Silber ist und Alessi versilbert oder Edelstahl."

Die Designindustrie verleugnet ihre wahre Tradition und datiert den Beginn des Designs auf den Beginn des letzten Jahrhunderts, als der Werkbund und später das Bauhaus auf den Plan getreten sind.

Hans Ottomeyer: "Tatsächlich entstanden im 18. Jahrhundert professionelle Designerschulen für Musterzeichner, für Entwerfer, die Handwerkern und Studenten der Zeichenkunst die Grundlagen vermittelten, und die werden dann eingestellt bei Manufakturen, arbeiten für Handwerksbetriebe, und dadurch haben wir diese große Professionalisierung der Entwurfskunst in dieser Epoche, auch ihre Verbindung mit ästhetischen Idealen und auch den großen Philosophien dieser Zeit."

Es waren die Ideen der Aufklärung. Sie führten zu einer ästhetischen Revolution, die zunächst mit dem Interesse an der Antike begann.

Ausstellungskurator Albrecht Pyritz: "Es gibt natürlich erst einmal die Erkenntnisse der Altertumsforschungen, Winckelmann voran. Die Prinzipien sind in Grundformen definiert worden, Kugel, Kreis, Kegel, und in der akademischen Lehre wurden die Studenten der Kunstakademien mit dieser Lehre vertraut gemacht, um sie dann später auf die neue, zum Beispiel Möbelproduktion anzuwenden."

Hinzu kam die Hinwendung zur Natur, der Wunsch nach schlichten funktionalen Formen, die ohne Ornament auskamen. Edles Material und kräftige Farben bestimmten den neuen Stil. Auch die Naturwissenschaften inspirierten die neue Ästhetik. Das gilt auch für die Zeichnungen und Bilder, die in der Ausstellung prominent vertreten sind. Man sieht Gletscher und Stadtansichten und blickt in die Wohnzimmer braver Mädchen. Bilder von Jakob Alt, Johann Erdmann Hummel oder Georg Friedrich Kersting, die auf ihre Weise die Einfachheit mit Schönheit verbinden.

Die Seele des Biedermeiers ist in der Ausstellung zu sehen und als Idee nachzuvollziehen. Allerdings lebt die Show von einem Trick, weil nur Exponate gezeigt werden, die formal etwas Neues bieten und am Beginn einer Entwicklung stehen, die ein Jahrhundert später im Design enden wird.

Nicht nur das Biedermeier prägte die Zeit. Die Staatsbauten kamen klassizistisch daher, neugotische Bahnhöfe und Villen wurden gebaut, und die Kaufleute und Kunstsammler hatten ein Faible für Neurenaissance oder Neubarock. Aber das schlichte Biedermeier blieb Leitwährung einer Epoche, an der sich alle orientierten. Erst Mitte des 19. Jahrhunderts bekam die Zeit ihren Namen. Das Wort Biedermeier wurde als Schimpfwort erfunden, von einer neuen Generation, die sich abgrenzen wollte. Später versuchte das Bürgertum, das Biedermeier für sich zu vereinnahmen. Eine kulturhistorische Lebenslüge, die Hans Ottomeier entlarvt.

Hans Ottomeyer: "Das wollten die Bürger um 1900, dass das Biedermeier bürgerlich ist, weil die Mitglieder des Adels hatten alle so wunderbare Ahnengalerien in ihren Zimmern hängen, aber die Bürger hatten gar nichts, also haben sie gesagt, das sind die Möbel unserer Urgroßeltern, aber sie stammten tatsächlich aus der Zeit ihrer Ur-Ur-Urgroßväter und standen vorher bei Graf Arco. Alles, was Ihnen die Kulturgeschichte versucht zu verklickern, ist grundsätzlich falsch. Und diese Kulturgeschichte ist in unseren Köpfen, sie verheert unsere Vorstellungen, sie beeinflusst uns falsch in täglichen Entscheidungen in unserer Orientierung in der Geschichte. Sie haben immer was Verkehrtes gelernt."

Schon deshalb wird die Herkunft für jedes Exponat genannt, soweit dies bei den 70 Leihgebern möglich ist. Die meisten Vasen, Stühle und Schränke hatten beim Adel ihr erstes Zuhause. Die Erfindung der Einfachheit ist kein Verdienst des Bürgertums oder gar der kleinen Leute. Auf den subtilen Geschmack der Reduktion ist zunächst der Adel gekommen, der mit dem barocken Prunk nichts mehr anfangen konnte. Mitteleuropa probte den ästhetischen Aufstand. In Kopenhagen, Prag oder Wien wurden die Paläste neu gestylt. So hat das damals angefangen.

Hans Ottomeyer: "Die Anfänge, die Impulse und die Initiative wird weitgehend von den Höfen der Aufklärung getragen, oder von der Eliten, die sich um diese Höfe herum versammeln. Natürlich kann man diesen Stil auch vom Ende her betrachten, so wie es die ‚Fliegenden Blätter’ taten von 1855, die in dieser Epoche die falsche Idylle konstatiert hat, einen vergeblichen Glaube an die Verbindung des Schönen mit dem Nützlichen, und eine Kritik entfesselt hat, die in ihren Konsequenzen zum Teil noch in den Köpfen ist."

So kannten wir das: Verblasene Idyllen mit strickenden Soldaten, die neben einer Kanone stehen. Brave Bilder aus einer allzu braven Zeit. Wer keine Lust hat, über das Biedermeier neu nachzudenken, braucht in Berlin nur ein paar Straßen weiter zu gehen. Das Berliner Stadtmuseum zeigt im Knoblauchhaus die Ausstellung "Bürgerliches Wohnen im Biedermeier". Da ist noch alles beim Alten. Das Stadtmuseum führt idealtypisch vor, was Spitzweg und Genossen seit Jahr und Tag zu sagen haben.