Mikael Ross: "Der Umfall"
Avant-Verlag, September 2018
128 Seiten, 28 Euro
Ein ganz normales Leben mit Behinderung
08:44 Minuten
Im niedersächsischen Wolfenbüttel gibt es einen ganz besonderen Ort: ein ganzes Dorf für Menschen mit geistiger Behinderung. Dieses Dorf heißt Neuerkerode und ist der Hauptschauplatz des Comics „Der Umfall“ des Berliner Zeichners und Autors Mikael Ross.
Eines Tages fällt Noels Mutter im Badezimmer um. Nach diesem "Umfall", einem Schlaganfall, ist nichts mehr wie es war für den Protagonisten der Geschichte. Noel, der eine geistige Behinderung hat, muss umziehen. Nach Neuerkerode.
Er sei ohne jegliches Vorwissen über den Ort nach Neuerkerode gefahren, einfach weil er mal raus wollte aus Berlin, erzählt Mikael Ross. Das Dorf habe er als einen Ort erlebt, an dem man willkommen geheißen werde. "Man wird gesehen, man wird begrüßt und man wird auch involviert. Es ist unmöglich, dort nicht in den Kontakt zu treten, weil die Menschen so offen sind."
Auch für Noel ist es unmöglich, nicht in Kontakt zu anderen Menschen zu kommen. In seinem Comic erzählt Mikael Ross viel von den Beziehungen der geistig behinderten Dorfbewohner zueinander. Das wirkt unterhaltsam und zugleich respektvoll.
"Ich muss einfach nur Zeit dort verbringen"
Zu Beginn sei Ross erst einmal überfordert gewesen und mit einer großen Ratlosigkeit an die Darstellung der Figuren gegangen. "Es hat eine Zeit lang gedauert, bis ich gemerkt habe, ich muss einfach nur an dem Ort sein, Zeit dort verbringen. Die meiste Zeit habe ich dort einfach rumgesessen und die Gespräche aufgeschnappt."
An der Figur von Noel zeigt Ross klar und unverschnörkelt, was es bedeutet, wenn Affekte nicht kontrolliert werden können. Wenn er Angst hat, rennt er weg. Dass er seine Mama liebt, zeigt er, indem er das durch den Supermarkt schreit.
"Noel ist vor allem ein herzensguter Typ", erzählt Mikael Ross. Er habe aber sehr viel Zeit mit seiner Mutter verbracht und sei deswegen noch sehr unbeholfen und neu in der Selbstständigkeit, die Neuerkerode für ihn bedeute. "Manchmal überwältigt ihn das, manchmal kommt er damit gut klar. Manchmal ist er mutig, manchmal ist er weniger mutig. Ich würde sagen: ein ziemlich normaler Typ." Das sei auch von Anfang an der Grundgedanke des Buches gewesen: "Dass es um eine Normalisierung, eine Normalität gehen sollte."
Ein Besuch in Neuerkerode verändert einen
An den Knotenpunkten der Geschichte, immer dann, wenn Noel unter großem Druck stehe, etwa nach dem Schlaganfall seiner Mutter, helfe ihm seine Fantasie beziehungsweise seine Träume, den nächsten Schritt zu tun, erläutert der Autor. "Man wird vor ein Problem gestellt, man weiß nicht, wie man weitermachen soll, und dann kommt von irgendwoher ein neues Element dazu, was dir einen winzigen Hinweis gibt, wie du weitermachen kannst."
Den Aufenthalt in Neuerkerode und die Arbeit an dem Comic habe Ross wie eine Art Transformation erlebt. "Weswegen ich auch jedem empfehlen würde, der Interesse hat, da mal hinzufahren. Weil wirklich etwas mit einem geschieht."
Gerade die Deutschen lebten in einem Kontext hoher Funktionalität: "Es muss alles glattgehen, wir sind auf einem wahnsinnigen Stresslevel. Die Seiten, die bei uns nicht so perfekt sind, müssen wir kaschieren. Es wird nur eine Zuckerseite von uns gezeigt." In Neuerkerode aber gelinge es, mit den eigenen Fehlbarkeiten geduldiger umzugehen.
(luc)