Warum junge Israelis nach Berlin kommen
Die deutsche Hauptstadt ist für Einwanderer aus aller Welt ein Ort mit großer Anziehungskraft geworden. Auch immer mehr junge Israelis gehen nach Berlin. Wer sind diese jungen Leute? Was treibt sie an? Wie reflektieren sie ihre eigene Geschichte?
"Wir wollten nach Berlin, weil hier das Herz der Musikwelt schlägt. Hier gibt’s die besten Partys."
Doron Eisenberg, 36 Jahre alt, DJ – seit 2 Jahren in Berlin.
"Wenn man in Berlin ankommt, geht man erst einmal aus, man amüsiert sich und hat Spaß. Aber dann kriecht diese Stadt in Dich hinein. Wenn man Jude ist, ist das jedenfalls so. Berlin hat mich meiner jüdischen Identität viel näher gebracht."
Ze’ev Avrahami, 44 Jahre alt, Hummuskoch seit 8 Jahren in Berlin.
"Wenn sich ein israelisches Unternehmen nach einem Hauptsitz in Europa umsieht, entscheidet es sich zwischen London, Paris und Berlin. Berlin ist die am wenigsten kostspielige Metropole, außerdem ist die Aufbruchstimmung hier sehr verführerisch. Die israelischen Startups, die ich kenne, wollen nach Berlin. Das ist eine gute Wahl."
Eli Ken-Dror, 39 Jahre alt, Jungunternehmer, Neuankömmling.
"Es gibt diesen Fluch der Vergangenheit, aber ich will mich darauf nicht konzentrieren. Denn wenn ich das tu, verfalle ich dem Glauben, dass es keinen Weg daraus gibt. Doch es gibt ihn."
Hadas Tabouchi, 32 Jahre alt, Künstlerin, seit zwei Jahren in Berlin.
"Wir sind mitten in den Vorbereitungen, Petersilie und Tomaten müssen geschnitten werden. Bevor es los geht."
Ze’ev Avrahami, ein bäriger Kerl Mitte 40, steht in der Küche seines kleinen Restaurants Sababa und hat nicht viel Zeit, gleich kommen die ersten Mittagsgäste, die Hummus essen wollen, diese klebrige Paste aus Kichererbsen, Sesamöl, Zitrone, Knoblauch und Salz, die ursprünglich gar nicht israelisch, sondern eine arabische Speise ist.
Seit fast acht Jahren lebt Zeev in der deutschen Hauptstadt. Geboren ist er auf dem Sinai, aufgewachsen in Tel Aviv. Die Liebe hat ihn in die deutsche Hauptstadt gelockt und lässt ihn nicht mehr los. Inzwischen hat er mit seiner deutschen Frau eine Familie gegründet. Eigentlich ist er Journalist, Berlin hat ihn zum Hummuskoch gemacht.
"Als Einwanderer denkt man oft an das, was man vermisst. Wenn Du also Immigrant aus Israel bist, was vermisst Du? Den Strand, die Sonne und Du vermisst die einheimische Küche. Sehr. Die Sonne und den Strand kann ich nicht nach Berlin bringen. Unsere Küche schon. Verstehst Du!"
Kochen gegen Heimweh. Hummus: Für Ze’ev eine Paste, die Vergangenheit und Gegenwart zusammenhält. Etwa 11.000 Israelis, vermutlich noch viel mehr, leben laut einer aktuellen Studie inzwischen in Berlin. Die meisten von Ihnen haben europäische Wurzeln, fast ein Viertel sind Nachfahren deutscher Juden.
Einmal quer durch die Stadt, im Süden Berlins, in Neukölln sortieren Doron Eisenberg und Nir Ivenitzky ihr Schallplattenangebot, gleich hinter dem Gastraum ihres Cafés Gordon. Das Café mit hebräischer Schrift im Schaufenster, gibt es erst ein paar Monate und ist eine Mischung aus Kaffee- und Plattenladen mitten im Schillerkiez. Doron und Nir sind DJs und Freunde aus der Jugendzeit. Vor zwei Jahren sind sie mit ihrem Label für elektronische Musik – Legotek – von Tel Aviv nach Berlin gezogen.
"Hier gilt ein Musiker als Künstler. In Israel ist das nicht so. Ich habe ein Künstlervisum erhalten."
Alles ist günstiger als in Israel
In Berlin kann man gut leben und ist für Auftritte schnell in anderen europäischen Metropolen. Sein Geschäftspartner im Coffeeshop, auf der Bühne und im Tonstudio Nir Ivenitzky nickt.
"Ich habe hier die Freiheit zu tun, was ich möchte. Unternehmerisch habe ich mehr Möglichkeiten, denn alles ist günstiger als in Israel. Ladenmieten, Lebensunterhalt. Viele Freunde folgen unserem Beispiel, sich hier in Berlin einen Traum zu erfüllen. Nicht daran zu denken, was Dich davon abhalten könnte. Es einfach zu tun."
Spanier, Griechen, Engländer, Amerikaner, Australier, Israelis – die deutsche Hauptstadt ist für Einwanderer aus aller Welt zum Sehnsuchtsort geworden. Hier wollen sie ihren Lebensunterhalt verdienen und hoffen fest auf eine Chance. Was noch für ihre Eltern unmöglich war, ist für die sogenannte Dritte Generation, Enkel der Generation der Holocaustüberlebenden, kein Problem: In der Großstadt, in der der Massenmord ihrer Vorfahren organisiert wurde, suchen sie Freiheit und Selbstverwirklichung.
"Für die ist es ok hier zu sein."
Sagt die Migrationsforscherin Dani Kranz.
"Die haben in der Feldforschung mit uns darüber gesprochen – über die Shoa und ihre Familiengeschichte aber in sehr reflektierter Form. Wir haben die Frage im Fragebogen, 'Finden sie es schwierig mit der Vergangenheit zu leben?' und das war die Antwort von 80 Prozent: Nicht schwierig. Vor allen Dingen dieses Sommermärchen 2006 hat eine Änderung ausgelöst. Dann wurde Deutschland anders wahrgenommen, die haben auch Spaß, die feiern auf der Straße, nicht dieser ernsthafte, böse Deutsche."
Dani Kranz hat für die Bertelsmann-Stiftung die Studie "Israelis in Berlin – wie viele sind es und was zieht sie nach Berlin" verfasst und dafür etwa 500 Zuwanderer befragt. Ergebnis: Die Motivation junger Zuwanderer aus Israel unterscheidet sich kaum von ihren europäischen oder amerikanischen Altersgenossen.
"Israelis muss man im Rahmen einer viel größeren Migrationsbewegung sehen. Berlin gilt als die coole Stadt, Berlin ist billig, in Berlin hat sich eine unglaublich internationale Szene etabliert und das ist eine Art Berlin der 20er-Jahre, eine Stadt im Um- und Aufbruch. Israelis kommen aus ähnlich gelagerten Gründen wie Spanier, wenn’s ökonomische Gründe sind oder Griechen. Oder auch amerikanische oder westeuropäische Künstler. Viele Israelis finden sich von der europäischen Kultur, nicht notwendigerweise der deutschen angezogen. Denn das Gros derjenigen, die immigrieren sind Aschkenasim, Israelis mit europäischen Vorfahren."
Wenn man sich die Auswanderung aus Israel weltweit ansieht, erkennt man allerdings schnell, dass Deutschland nicht das Hauptziel ist. Die überwiegende Mehrheit aller Emigranten lebt in den USA.
"Mein Großvater mochte meine Idee, nach Berlin zu ziehen, nicht, hat es aber akzeptiert. Es ist nicht gut, Leute aufzuhalten. Ich lebe in der Zukunft."
Doron Eisenbergs Großeltern gelang noch Anfang der 1940er-Jahre die Flucht aus Polen nach Palästina.
"In den ersten Monaten fühlte sich Berlin oft auch seltsam an. Wenn ich Freunde zu Hause besuchte, fragte ich mich oft, was wohl in diesen Häusern im Dritten Reich passiert war. Inzwischen ist das nicht mehr so. Ich denke nicht mehr darüber nach."
Im vergangenen Herbst sorgte die Auswanderung nach Berlin für besonders viel Aufregung in Israel. Auf höchster Ebene. Ein 25-Jähriger Neuberliner hatte eine Facebook-Seite und dort für den Umzug in die deutsche Hauptstadt geworben. Sein Argument: Schokopudding von Aldi für 19 Cent. So günstig könne man in Israel nirgends einkaufen. Schnell schlossen sich so viele Israelis der Facebook Seite an, dass sich Politiker zu öffentlichen Kommentaren hingerissen fühlten und den Aufruf, nach Berlin zu kommen, als antizionistisch und unpatriotisch geißelten.
"In Israel ist es ein Politikum, weil jede Auswanderung ist grundsätzlich negativ belegt",
erklärt die Migrationsforscherin Dani Kranz.
"Die Auswanderung nach Deutschland wird aus ideologischen Gründen tabuisiert. Das israelische Wort dafür ist XXX – und das heißt Abstieg."
Vorwurf fehlenden Patriotismus' aus der alten Heimat
Doron Eisenberg lässt den Vorwurf aus der alten Heimat nicht an sich heran.
"Wir sind doch nicht unpatriotisch. Es ist einfach wie wenn man in einer Firma arbeitet und das Management schlecht ist. Mitarbeiter kündigen und suchen sich was anderes. So ist es auch mit uns Auswanderern."
Die Lebenshaltungskosten in Israel sind sehr hoch, 20 Prozent der Einwohner leben unterhalb der Armutsgrenze. Hohe Mieten, niedrige Gehälter – all das treibt junge Israelis immer wieder zu Protesten auf die Straße
"Ich bin froh über die Aufregung, die sich an der Website entzündet hat. Obwohl das mit dem Pudding natürlich übertrieben war. So wurde die Debatte um die Lebensbedingungen in Israel angeheizt, vielleicht ändert sich ja was. Jedenfalls war es eine gute Idee."
Die Gründe für junge Israelis, ihre Heimat zu verlassen, sind komplex und lassen sich mit Sicherheit nicht auf die günstigen Lebensmittelpreise in deutschen Discountern reduzieren. Da ist zum einen die Magnetwirkung, die Berlin auf junge Leute in der ganzen Welt auslöst: die Internationalität der Stadt bietet Freiräume in jeder Form der Lebensführung. Gleichzeitig ist Berlin eine langsame Metropole, gut um in Ruhe Kinder großzuziehen, findet der Familienvater und Hummuskoch aus Prenzlauer Berg Ze’ev Avrahami.
"Man lebt in einer Metropole, in der es zuweilen fast dörflich zugeht. Es ist eine deutsche und zugleich auch internationale Stadt. Menschen haben es nicht schwer, ihre Nische zu finden."
Und Berlin hat gegenüber Israel einen weiteren ganz entscheidenden Vorteil, ergänzt Ze’ev: Es ist friedlich.
"In Israel lebt man in einer Wolke von Argwohn. Menschen verletzen sich gegenseitig. Auch wenn man ein guter Mensch ist, Frieden will, das ist irgendwie nicht möglich. Das ist so anstrengend. In Berlin ist das anders trotz dieser schrecklichen Vergangenheit. Wer Du bist, ist hier nicht so wichtig. Das macht den Charme aus."
"Wenn man in Berlin ankommt, geht man erst einmal aus, man amüsiert sich und hat Spaß. Aber dann kriecht diese Stadt in Dich hinein. Wenn man Jude ist, ist das jedenfalls so. Bislang habe ich Berlin immer mit den jüdischen Opfern in Verbindung gebracht, doch jetzt erkenne ich, wie viel jüdisches Leben es hier gegeben haben muss. Berlin hat mich meiner jüdischen Identität viel näher gebracht."
An einem Märzabend, an dem es trotz frühlingshafter Luft plötzlich heftig zu schneien anfängt, betritt Moshe, ein junger Thora-Student das israelische Restaurant von Ze’ev Avrahami in Berlin. Es ist Purim, ein hoher jüdischer Feiertag. Moshe trägt einen großen schwarzen Hut, den er auch im Gastraum nicht absetzt und wickelt eine Riesen-Schriftrolle aus.
Ze’ev begrüßt Moshe, blickt auf die hebräischen Schriftzeichen auf der Papierrolle, die der schmächtige Mann, 18 Jahre alt, inzwischen auf einem der Tische ausgebreitet hat. Dann muss Moshe sich ein bisschen strecken und setzt Ze’ev eine Kippa auf den Hinterkopf. Fertig. Moshe fängt an, aus dem Buch Ester zu rezitieren, eine der sieben Pflichten am Purimfest. Ze’evs sechsjährige Tochter Maya kennt die Geschichte genau.
"Mordechai hat den König gerettet und das ganze jüdische Volk und Esther hat auch dabei geholfen. Und der Böse hieß Haman."
Ohne Pause liest Moshe jetzt die Geschichte vor. Sprechgesang, der über eine halbe Stunde dem gleichen Rhythmus folgt. Immer beim gleichen Stichwort klappern Maya und ihr kleiner Bruder mit den kleinen Plastik-Rasseln, die der junge Thora-Student, zuvor verteilt hat. Die Erwachsenen, die zum Abendessen ins Sababa gekommen sind, klopfen auf die Tische oder trampeln mit den Füßen.
"Wenn der Böse vorkommt, der Haman heißt, machen das die Kinder in der Synagoge so, die haben so einen Rashan. Das ist das Wort xx und das bedeutet Lärm. Und das machen die immer wenn der Böse kommt. Weil das ist unangenehm den Namen zu hören."
Moshe kommt langsam zum Ende. Erleichtert beginnt er zu singen.
Die Restaurantgäste: Touristen und Berliner, die an diesem Abend eigentlich nur Hummus essen wollten, Juden, die auf Ze’evs Facebook-Seite von der Lesung erfahren haben, stimmen ein. Ein wohliges Gefühl kommt auf. Religiöse Praxis, unerwartete Abendunterhaltung für die einen, Besinnung auf die eigene Identität für die anderen. Zum Beispiel für Smadar, eine 59 Jahre alte Dame, die seit 25 Jahren in Deutschland lebt, aber neu in Berlin ist.
"Meine Kinder wohnen hier, deshalb habe ich Freiburg verlassen und bin nach Berlin. Meine Tochter wohnt in Neukölln und mein Sohn wohnt nicht weit von mir hier im Osten."
Als religiös bezeichnen sich die wenigsten
Moshe hat inzwischen die Schriftrolle wieder in ihre kostbare hölzerne Hülle gesteckt und ist mit dem Taxi auf dem Weg nach Hause in den Westen der Stadt. Im Restaurant wird weitergefeiert. Die Kinder sind auf den Schoß ihres Vaters geklettert und knabbern typische Purim-Süßigkeiten.
"Ich bin mit einer Deutschen verheiratet, in Israel würde man sagen mit einer Nicht-Jüdin. (lacht). Wir haben zwei Kinder, die streng genommen gar keine Juden sind, weil ihre Mutter keine Jüdin ist. Wir erziehen sie in einer Mischung aus jüdischer und christlicher Tradition.
Das war eigentlich immer ganz natürlich, nichts wo wir Meinungsverschiedenheiten gehabt haben. Wir fahren an Weihnachten und Ostern zu meinen Eltern, gehen Ostereier suchen. Und an Pessach feiern wir Pessach und an Rosh Hashanah fahren wir zu seiner Familie nach Israel und die Kinder finden es toll, dass sie doppelt so viele Feiertage haben.
Das ist sehr wichtig. So wird die Verbindung aufrechterhalten. Eine 2000 Jahre alte Geschichte. Und mein Bedürfnis nach dieser Verbindung ist hier viel größer als es in Israel war. Es ist auch mehr Aufwand, weil es nicht dazu gehört, diese Tradition, an Schabbat zu beten. Das gehört nicht zum Rhythmus der Stadt."
Die meisten Menschen, die die Migrationsforscherin Dani Kranz für ihre Studie über Israelis in Berlin befragt hat, gaben an, sich in erster Linie als Israelis zu fühlen und nicht als Juden. Das Judentum ist ihre Kultur, als religiös bezeichneten sich die wenigsten und so erklärt sich auch, dass kaum einer der jungen Zuwanderer Teil der jüdischen Gemeinde Berlins sein möchte.
Dani Kranz: "Israelis und lokale Juden haben ein problematisches Verhältnis im besten Fall. Das sind ganz unterschiedlich gelagerte Identitäten. Die religiöse Praxis von Israelis bezieht sich im Allgemeinen auf die Feiertage und auf die Familie. Und wir haben gefunden, dass 25 Prozent, dass sie es im weitesten Sinne wichtig finden, dass sie einen jüdischen Lifestyle aufrecht erhalten können."
Ze’ev Avrahami: "Es gibt nichts was uns verbindet außer, dass wir natürlich Juden sind. Ich brauche die Synagoge nicht um Schabbat zu feiern. Ich verbringe den Abend einfach mit der Familie, meine Kinder zünden Kerzen an und wir beten."
Wir sind Post-Israel-Juden, sagt Ze’ev. Für ihn steht fest, dass er in Berlin bleiben will. Für immer.
Während viele Israelis in der deutschen Hauptstadt vor allem für die Gegenwart, für ihre persönliche Gegenwart und Zukunft interessieren, beschäftigt sich die 32-Jährige Fotokünstlerin Hadas Tabouchi vor allem mit der Vergangenheit.
"Ich arbeite schon einige Zeit an diesem Projekt: Ich versuche alle Orte in Berlin, an denen im Dritten Reich Zwangsarbeit stattfand, aufzulisten und zu fotografieren. Etwa 3000 hat es gegeben, 500 habe ich schon gefunden."
In einer Galerie in Kreuzberg steht die 32-Jährige in Jeans und übergroßem Wollpulli vor einer Fotografie, die eine Häuserwand in Kreuzberg zeigt.
"Dieses Gebäude, hier haben italienische Zwangsarbeiter Munition hergestellt. Heute ist das ein Theater in Kreuzberg. Ist doch interessant, wie sich die Rolle dieses Hauses mit der Zeit verändert hat."
Mit ihrer Kamera zieht sie täglich durch die Straßen, streift durch entlegene Gebiete am Rand der Stadt, in die sich Expats für gewöhnlich nicht wagen.
"Durch dieses Projekt, sarkastischer Weise fühl ich mich dadurch hier mehr zu Hause. Ich lerne die Stadt kennen, bin nicht mehr fremd. Außerdem mag ich Berlin einfach sehr gern. Es fühlt sich gut an, die Stadt ist einladend."
Hadas lebt in Charlottenburg zur Untermiete. Sie ist allein nach Berlin gekommen, hat aber schnell Kontakte gefunden. Erstaunlich schnell, sagt sie. Das Israeli-Netzwerk in der Stadt funktioniert perfekt, sagt sie weiter und zeigt dann noch andere Fotos von ehemaligen Zwangsarbeiterwerkstätten, die sie bei ihren Streifzügen durch die Großstadt aufgenommen hat. Hadas Vorfahren kommen aus Polen, deshalb hat sie einen polnischen Pass und kann sich frei in Europa bewegen. In Berlin findet sie künstlerische Freiheit und macht das, was sie schon als Mädchen mehr als ihre Altersgenossen interessiert hat: Nachdenken über Geschichte. Betroffenheitskunst will die Künstlerin nicht machen, sagt sie entschieden, einfach zeigen, wie sich analog zu den Menschen in Berlin auch die Architektur, die Funktion von Gebäuden in den vergangenen 70 Jahren verändert hat.
"Es scheint quasi verpflichtend zu sein, Menschen bezeichnen meine Arbeit ganz automatisch als jüdische Kunst, als Holocaust-Kunst, das ist verrückt. Klar ich bewege mich auch in diesem Feld, es interessiert mich. Aber diese Arbeit beschäftigt sich doch mit – wenn man das so sagen kann – Normalisierung der Gesellschaft."
Nicht nur Kulturschaffende kommen nach Berlin
Normalität, Normalisierung, das ist es, was sich wohl auch so viele Deutsche in Bezug auf das deutsch-jüdische oder besser das deutsch-israelische Verhältnis wünschen. Ein Prozess, der vielleicht ganz natürlich im Lauf der Dinge liegt und den Politiker und Journalisten gar nicht beschwören müssen. Dass die Zahl der Israelis, die in Berlin wirklich ihren Lebensmittelpunkt haben, immer wieder so deutlich überschätzt wird, könnte Ausdruck dieses Wunsches nach Normalität sein. Zum Teil ist von 30.000 die Rede.
"Die Zahl der Israelis wird hauptsächlich so übertrieben, weil es so viele Touristen gibt. Und durch das Medienecho fremd klingende Hebräisch, das eben auffällt, wird die Anzahl höher angenommen als sie ist."
Erklärt die Migrationsforscherin Dani Kranz. Mit ihrer Studie will sie nicht nur belastbares Zahlenmaterial liefern, sondern auch den Mythos aus der Welt bringen, Israelis in Berlin seien vor allem Kulturschaffende.
"Künstler, Journalisten, Intellektuelle werden öffentlich anders wahrgenommen, weil sie einfach in der Öffentlichkeit stehen. Die ganzen ITs, die hier sind und davon gibt es eine Menge oder Ingenieure, die fallen gar nicht auf. Ein Siemens-Ingenieur, der wird nicht auffallen, weil der macht ja keine Kunstausstellung. Oder jemand schreibt einen Artikel, dann wird das ganz anders wahrgenommen. Darüber findet eine Verzerrung statt. Und dann denke ich auch, dass es eine mediale Verzerrung ist: weil man durch die Juden, die ermordet, die geflüchtet sind, hat man ja ganz viele Künstler, Intellektuelle verloren, dass das jetzt eine Projektion ist, dass das jetzt die Israelis sind, die zurückkommen."
Eli Ken-Dror zählt zu den Neuankömmlingen in Berlin, die mit Kunst und Kultur nichts zu tun haben. Er ist Ende 30 und Startup-Gründer aus Jerusalem. Seine Firma will Verlagen eine Technologie verkaufen, mit der man die Emotionen von Mediennutzern messen kann. Vicomi heißt sein junges Unternehmen.
"Wir sehen uns als globales Unternehmen. Wir haben eine Niederlassung in New York, die ganz neu ist, und eine in Berlin. Von hier aus kümmern wir uns um die Geschäfte in Europa, denn das ist ein großer Markt. Und nun haben wir nach einem guten Standort gesucht, um Kunden und Partner zu finden. In Berlin haben wir Geldgeber gefunden und nach und nach haben wir uns in die Stadt verliebt. Das ist die richtige Umgebung für uns."
Eli Ken-Dror Familie lebt in neunter Generation in Israel, den Holocaust begreift er als Teil des kollektiven Gedächtnis seines Landes, persönlich betroffen fühlt er sich nicht. Ausschließlich rationale Erwägungen haben ihn dazu gebracht, das Europa-Hauptquartier seiner Firma in Berlin anzusiedeln.
"Hier gibt es jede Menge Startups, so viele Menschen, die sich mit neuen Technologien beschäftigen. Gute Ingenieure, Leute, die etwas von Marketing verstehen, die Stimmung ist einfach sehr positiv. Internettechnologien werden sehr ernst genommen. Die Risikobereitschaft von Gründern und Geldgebern ist hoch. Das ist perfekt.
Wenn sich ein israelisches Unternehmen nach einem Hauptsitz in Europa umsieht, entscheidet es sich zwischen London, Paris und Berlin. Berlin ist die günstigste Metropole, außerdem ist die Aufbruchsstimmung hier sehr verführerisch. Die israelischen Startups, die ich kenne, wollen nach Berlin. Das ist eine gute Wahl"
Nicht zuletzt der Frieden lockt junge Israelis nach Berlin
Und trotzdem lasse sich die Vergangenheit nicht komplett verdrängen, wenn er durch Berlin-Mitte spaziert. Dafür sorgt seine Erziehung und die intensive Beschäftigung mit der Shoa in der Schule.
"Natürlich können wir die Vergangenheit nicht vergessen. Israelis, Juden werden sich immer auch damit auseinandersetzen müssen, sich erinnern. Aber wir müssen vorwärts denken, die Zeit ist eine andere, die Menschen sind anders. Ich verbringe jetzt so viel Zeit in Deutschland, mehr als in Israel und den USA und ich mache so gute Erfahrungen. Und deshalb finde ich es wichtig, da positiv zu denken."
Nir Ivenitzky’s, DJ aus Neukölln, stimmt zu und will vor allem vermitteln und deswegen ist sein Umzug nach Berlin auch nicht unpatriotisch. Im Gegenteil, bessere Botschafter als aufgeschlossene, neugierige Leute, könne sich der Staat Israel, der ja gemeinhin nicht das beste Image genießt, gar nicht wünschen.
"Ich habe Internationale Beziehungen studiert und weiß, wie man Dinge erklären muss. Ich finde, Menschen müssen was Geschichte angeht in unterschiedliche Richtungen schauen. Geschichte gehört der Geschichte. Ich habe hier ein anderes Bild von Deutschland kennen gelernt. Ein modernes Land, ein soziales Land, das Leben ist nicht schwer, offen, solidarisch. Ganz anders als das Bild, das ich in Israel vermittelt bekommen habe."
Fragt man junge Israelis danach, warum sie in Berlin und nicht mehr in Israel leben wollen, sprechen sie oft über den Frieden, den sie hier finden können. Ze’ev Avrahami zum Beispiel. Er ist Israeli und sagt von sich selbst, dass er bewusst und manchmal auch unbewusst den Kontakt zu Palästinensern und Arabern suche. Grenzen, die anderswo schwer zu überwinden sind, verschwimmen auf dem Hummusmarkt.
"Kichererbsen, Olivenöl und Tahini kaufe ich bei einem Palästinenser in Neukölln. Andere Zutaten schickt meine Mutter aus Israel. Aber das ist ein Geheimnis."
Der Name seines Restaurants – Sababa –ist übrigens arabischer Slang und heißt:
"Das Restaurant hat viel mit meiner Persönlichkeit zu tun, ist vielleicht auch Ausdruck des naiven Glaubens, das die Welt ein gerechter Ort sein kann.
Auf meiner Karte stehen Gerichte aus dem Iran, Libyen. Auf der Karte sind Speisen fast aller arabischer Länder zu finden, aus denen Juden nach Israel immigriert sind."
Andererseits gibt es in Berlin trotz aller Harmonie Anfeindungen. Das weiß Ze’ev aus eigener Erfahrung.
"Da ist dieser Falafel-Verkäufer auf dem Wochenmarkt am Kollwitzplatz. Sobald er Juden oder Israelis sieht, beginnt er mit wüsten Beschimpfungen. Die Leute, die den Markt betreiben, wissen Bescheid, aber sagen einfach nur: Das ist euer Problem. Das sei ein netter Typ, der nur Ärger macht, wenn ihr vorbeikommt. Das heißt also es ist unsere Schuld."
Auch die Demonstrationen gegen den Krieg in Gaza, die oft in wüsten Beschimpfungen gegen Juden und gegen Israelis endeten, haben für ihn aus der Berlinblase ein bisschen die Luft rausgelassen.
"Wenn ich an die Aggressionen gegen Juden während dieser Proteste vor knapp einem Jahr denke – keine drei Kilometer von meiner Wohnung entfernt. Da mach ich mir schon Sorgen.
Das ist wie ein Gewitter, dass sich langsam in diese Stadt hinein bewegt. Naja und dann das, was Paris passiert ist. Viele Israelis sind sehr vorsichtig geworden. Ich noch nicht so sehr. Ich spreche mit meinen Kindern hebräisch auf der Straße. Viele Familien machen das inzwischen nicht mehr."
Gleich 22 Uhr, Küchenschluss. Morgen können Ze’evs Gäste wieder "Iranian Love Bomb", "End of the Road" oder "Peace Salad" bestellen. Jetzt ist Feierabend. Bleibt die Frage, ob es sich der israelischen Zuwanderung nach Berlin um ein dauerhaftes oder temporäres Phänomen handelt? Menschen lassen sich nieder, das liegt in unserer Natur, sagt die Migrationsforscherin Dani Kranz. Andererseits leben wir in einer globalisierten Welt. Junge Menschen sind mobiler als je zuvor. Wie lange der Mythos Berlin noch seine Anziehungskraft bewahren kann, ist nicht ausgemacht.
Bis dahin wird der Exodus nach Berlin wohl weitergehen, in diese Stadt ohne Meer und Strand.