Die Sicherheit meiner Feinde
Die Wiederkehr der Politik der gegenseitigen Abschreckung zwischen dem Westen und Russland wird vielfach mit Sorge gesehen. Dabei wäre es besser, auf eine Einsicht aus dem Kalten Krieg zu setzen, meint die Theologin Gesine Palmer. Dann wird auch die christliche Tradition der Feindesliebe verständlicher.
Die Beziehungen des Westens zu Russland sind gegenwärtig ziemlich schlecht. Mancher beobachtet die Wiederkehr der Politik gegenseitiger Abschreckung mit Sorge. Der Kreml hat sich feindselig betragen. Das mag richtig sein, sagt der sogenannte Russland-Versteher, aber deswegen sei er nicht wieder wie ein Feind zu behandeln. Umsichtiger und klüger wäre es, ihn freundschaftlich zu umarmen und dadurch bewegungsunfähig zu machen.
Solche Argumentation versetzt mich in Erstaunen. Was ist da los?
Nun gehört ja von jeher die Feindesliebe zu den Glanzstücken der christlichen Tradition. Wann immer jemand die Überlegenheit der christlichen gegenüber der jüdischen, islamischen oder sonstigen Religion herauskehren will, zählt er auf: der eine Gott, Beten, Fasten, Barmherzigkeit, Nächstenliebe sei alles gut und schön, aber wir haben noch die Feindesliebe.
Mal ehrlich, möchten Sie ein geliebter Feind sein? Ich eher nicht. Ich möchte auch nicht der Feind sein, der umarmt wird, damit er sich nicht mehr bewegen kann. Feindesliebe ist weltfremd. Sie lässt sich nicht in praktische Politik umsetzen. Denn in einem ernsten Konflikt geht es um die Abwendung von Gefahr auch für die Lieben im Nahbereich. Wer da zu viel Gefühl für den Feind zeigt, verliert zuerst die Solidarität der Freunde, die sich verraten fühlen.
Menschlicher Drang nach dem Sieg ziemlich unbesiegbar
Aber nicht nur deswegen bleibt die Moral der Feindesliebe doppelbödig. Statt Gewalt und Waffen will sie die Macht der Liebe einsetzen, um den anderen zu unterwerfen und um selbst zu siegen. Christliche Sieger-Mentalität kommt auf sanften Pfoten missionarisch und aggressiv daher.
Sie würde politisch nur tiefer ins Dilemma führen, weil so den Russen – mehrheitlich Christen wie wir – nicht beizukommen ist. Im Gegenteil befremdet uns doch, dass die Moskauer Orthodoxie ihren alten religiösen Eifer wiederentdeckt hat und sich vehement der angeblichen Dekadenz des europäischen Westen entgegenwirft.
Tatsächlich scheint es an Liebe am allerwenigsten zu fehlen. Die Westler lesen russische Literatur, die Russen berufen sich auf europäische. Musik, Kunst, Riten und Glaubensweisen ähneln sich in allen Teilen des Kontinents – an alledem liegt es nicht.
Vermutlich ist es eher so, dass unser menschlicher Drang, den je anderen zu besiegen, selbst ziemlich unbesiegbar ist - auch da noch, wo angeblich von Liebe die Rede ist. Ehrlicher, eben nicht doppelbödig wäre es, Feinde und Nachbarn politisch ernst zu nehmen, ihre Interessen zu verstehen – und sie eng mit den eigenen zu verbinden.
Mit der Rolle der Weltpolizei übernommen
Die NATO-Strategie, die eigenen Grenzen glaubhaft zu schützen, ist unter allen Gesichtspunkten sinnvoll und einem Verteidigungsbündnis angemessen. Aber eine interessengeleitete Strategie muss der Westen auch Russland zu gestehen. Was für beide Seiten als "angemessen" ertragbar ist, müssen sie aushandeln, so wie es die berühmt gewordene Ostpolitik, die Entspannungspolitik seit den 70er-Jahren ausgelotet hat.
Ob sie gescheitert ist oder die Vorstufe zur Auflösung der Blockkonflikte war, ist umstritten. Deutlich aber zeichnet sich ab, dass die Westmächte sich nach dem Ende des Kalten Krieges mit der Rolle der Weltpolizei übernommen haben.
Die NATO tut gut daran, sich militärisch auf die Sicherung der eigenen Grenzen zu beschränken – und zugleich diplomatisch die Politik der Entspannung immer wieder an aktuelle Erfordernisse anzupassen. Dabei muss die Idee, aus Feinden Freunde zu machen, sich nicht auf orthodoxe Christen, die sich mit katholischen und evangelischen im Weltkirchenrat an einen Tisch setzen, beschränken.
Realpolitisch geht sie besser, als wir oft denken, mit der alten Einsicht aus dem Kalten Krieg zusammen: Betrachte die Sicherheit deines Feindes als eine Voraussetzung deiner eigenen Sicherheit.
Dr. Gesine Palmer, geb. 1960 in Schleswig-Holstein, studierte Pädagogik, evangelische Theologie, Judaistik und allgemeine Religionsgeschichte in Lüneburg, Hamburg, Jerusalem und Berlin. Nach mehrjähriger wissenschaftlicher Lehr- und Forschungstätigkeit gründete die Religionsphilosophin 2007 das "Büro für besondere Texte" und arbeitet seither als Autorin, aber auch als Redenschreiberin, Trauerrednerin und Beraterin. Ihr wiederkehrendes Thema sind "Religion, Psychologie und Ethik" – im Kleinklein der menschlichen Beziehungen wie im Großgroß der Politik.