"Man muss begreifen, dass man sterblich ist"
Nichts ist kostbarer als das Endliche. In Michael Kumpfmüllers "Tage mit Ora" fahren ein Mann und eine Frau im Auto durch die USA. Sie spüren der Freiheit nach, packen ihre Vergangenheit weg und verschwinden in der "reinen Gegenwart", fasst Kumpfmüller seinen Roman zusammen.
Andrea Gerk: "Tage mit Ora" heißt der neue Roman von Michael Kumpfmüller. Ein Mann und eine Frau, beide in mittleren Jahren, lernen sich darin auf einer Hochzeitsfeier kennen, beide haben so ihre Erfahrungen mit Beziehungen, und trotzdem lassen Sie sich irgendwie wieder auf etwas ein. Sie gehen zumindest erst mal gemeinsam auf eine Reise, 13 Kapitel, über 13 Tage entlang der amerikanischen Westküste. "June On The West Coast" von der amerikanischen Band Bright Eyes gibt die vier Stationen vor, die Michael Kumpfmüllers Erzähler mit Ora bereist.
Ein Auto, man hört Musik, die fahren da über den Highway, ein Mann und eine Frau, die sich näherkommen. Das ist ja fast schon so ein klassisches Filmsetting. Hatten Sie da auch Filme irgendwie im Hinterkopf dabei?
Michael Kumpfmüller: Na ja, die haben wir alle im Kopf, wie man durch die USA fährt. Muss man jetzt auch, glaube ich, gar nicht aufzählen. Ich meine, worum es geht, ist, in dem Buch, glaube ich, eine Frage, die uns ja alle beschäftigt, wenn wir zumindest älter werden, aber eigentlich von Anfang an: Inwieweit sind wir durch das, was hinter uns liegt an Erfahrungen, guten oder schlechten, also angefangen in der Familie meine ich jetzt, aber dann auch weiter, gebunden, und inwieweit bleibt uns irgendwann eigentlich noch die Möglichkeit, mit was anzufangen mit was Neuem? Sagen wir jetzt in diesem Fall mit einem Menschen, das kann aber auch beruflich sein. Und das lote ich so ein bisschen aus. Also die Reise ermöglicht den beiden quasi das abzuschneiden und wegzupacken und in so eine reine Gegenwart zu verschwinden. Das ist natürlich eine Illusion, weil das taucht ja natürlich alles wieder auf, aber trotzdem ist es so eine Inselerfahrung. Die Frage ist dann eben, was ist mit der Zukunft? Also die Zukunft ist eigentlich genauso in diesem Buch gebannt wie die Vergangenheit, und deswegen ist das Ende des Buches auch offen.
Gerk: Was sind Sie selbst denn für ein Reisender?
Kumpfmüller: Na ja, ich bin ein begeisterter und unglücklicher Reisender insofern, als ich über die Jahre eigentlich immer mehr ein Problem damit habe, sozusagen als Voyeur mich in irgendwelchen gesellschaftlichen oder landschaftlichen Räumen zu bewegen, weil ich mich immer frage, was mache ich da eigentlich. Ich habe nun allerdings das Glück, dass ich beruflich viel Reise. Also mit meinem Kafka-Roman, "Die Herrlichkeit des Lebens", war ich in vielen, vielen Ländern auch sehr weit weg, und da geht es mir dann gut, weil das heißt, ich bringe irgendwas da ein. Also ich meine, es ist wenig genug, das weiß ich schon, aber ich bringe mich ein, und dann bin ich anders neugierig. Also ich fühle mich dann sozusagen ein bisschen aufgehobener. Mein Sohn, mein zweiter, war jetzt in Indien drei Monate, der stieß auch auf das Problem und hatte auch das Bedürfnis, was zu tun, und das finde ich eigentlich richtig, wenn auch schwierig, denn normalerweise kommt man aus der Rolle nicht raus.
"Die Reise ist sozusagen ein extremistischer Übungsparcours"
Gerk: Wieso ist es eigentlich einfacher, sich, wenn man unterwegs ist, auf andere Leute, auf andere Menschen einzulassen?
Kumpfmüller: Na ja, es ist einerseits einfacher und andererseits viel gefährlicher natürlich, weil man ja dem anderen nicht ausweichen kann, aber das ist ja die Frage, was mit dem Thema der Liebe verbunden ist, dass man dem anderen als anderen nicht ausweichen kann. Darum geht es. Von daher ist die Reise sozusagen ein extremistischer Übungsparcours, und so habe ich das auch verstanden. Ich hatte großes Vergnügen beim Schreiben dieses Buches, weil –
Gerk: Ist auch sehr vergnüglich, muss man dazu sagen.
Kumpfmüller: – weil ich was Neues gelernt habe, nämlich die Leute sprechen zu lassen, das Komische zu versuchen, das ist nämlich gar nicht so einfach, und das hat mit Ihrer Frage insofern zu tun, als mir wichtig war an dem Buch, sozusagen das Hohe und das Tiefe, das Banale und dann die großen Fragen, wie ist es mit dem Leben und dem Tod und so weiter, wie ist es mit den Göttern, weil die Götter spielen eine große Rolle in dem Buch, und das Beten und so weiter.
Gerk: Die letzten Fragen.
Kumpfmüller: Genau, und das switcht immer so hin und her, und das ist sehr vergnüglich gewesen, das zu schreiben. Das war eine neue Erfahrung für mich.
Gerk: Aber Ihr Erzähler, der begegnet ja auch diesen ganzen letzten Fragen, den Stimmungsschwankungen seiner Reisegefährtin, da mit so einer großen Gelassenheit. Da habe ich mich gefragt, ob jetzt der Typus Mann aus Ihrem letzten Buch, "Die Erziehung des Mannes", hat der jetzt seine Depressionen überwunden oder sind das die Tabletten, die er und Ora einnehmen?
Kumpfmüller: Ich glaube, beides nicht. Ja, das wurde schon behauptet, es seien die Tabletten. Glaube ich nicht. Ich glaube, dass er besser erkennt als sie, dass er eine Chance hat, und für die tut er was. So würde ich sagen. Die Geduld, ich musste neulich einen Text über die Tugend der Geduld schreiben. Man denkt immer, man sei geduldig für den anderen. Die Wahrheit ist, dass man natürlich geduldig für sich ist, nämlich man bleibt frei oder wird frei, und so gesehen, in seiner Bezogenheit auf diese seltsame Ora, bleibt er auch frei. Der Roman thematisiert ja auch gegen Ende immer mehr, inwieweit das weitergeht und inwieweit das eigentlich reicht, diese Reise. Das ist ja die Frage, weil wir haben ja immer den Anspruch, dass alles immer weiter dauert. Das lässt der Roman alles, ich hoffe elegant, offen.
Gerk: Das zeigen Sie auch ganz schön, dass das gar nicht unbedingt sein muss.
Kumpfmüller: Genau.
Gerk: Das Glück kann ja auch in diesem Vorübergehenden liegen.
Kumpfmüller: Genau. Ja.
Gerk: Das sind ja auch beides keine – haben wir ja schon irgendwie angedeutet –, nicht gerade unbeschädigte Figuren. Die haben eine Vergangenheit, die taucht auch manchmal so schlaglichtartig auf, die hat sie auch geprägt, die Zukunft ist auch nicht mehr unendlich. Was muss dann passieren, dass trotzdem dann noch mal was möglich wird?
Kumpfmüller: Ich glaube, man muss begreifen, dass man sterblich ist. Das muss man, glaube ich, sowieso im Laufe des Lebens irgendwann begreifen und sich ansehen und verstehen, dass daraus der Wert von allem eigentlich entsteht. Also man könnte es jetzt auf die Reise selbst runterbrechen, die 13 Tage dauert, und also wissen die Protagonisten, dass sie genau so lange dauert. Also auch das ist ein kostbarer, weil begrenzter Zeitraum. Also ich finde den Gedanken der Sterblichkeit sehr wichtig.
"Eine dialektische oder trotzige Konstruktion"
Gerk: Sie haben ja auch schon das Komische angesprochen, und im Klappentext wird Woody Allen zum Vergleich herangezogen, der einem tatsächlich auch einfällt. Hatten Sie den auch so vor Augen, mögen Sie den gern?
Kumpfmüller: Na ja, das ist eine naheliegende Anspielung, weil bei Woody Allen ja auch dieses ganze Therapiethema und so weiter, wie wir alle –
Gerk: Das haben Ihre Figuren ja auch, die haben ja alle Therapien schon gemacht.
Kumpfmüller: – genau, an ihren Seelen werkeln und da fragwürdige Erfolge haben, es aber halt versuchen. Nein, Woody Allen ist für mich schon so meine Kategorie von Humor, die ich schätze, und zwar deswegen, weil – und das glaube ich auch – das ist der wahre Humor. Ich mag das Wort eigentlich gar nicht sehr. Der weiß immer, wo er herkommt, nämlich der kommt aus dem ganz Negativen, nämlich aus der Verzweiflung, heißt es einmal in dem Roman. Das ist also eine dialektische oder trotzige Konstruktion. Daher kommt der Witz. Also am Anfang heißt es auch, dass er ihr seine 26 größten Katastrophen des Lebens erzählt, und sie unterhält sich prächtig. Gleichzeitig ist das aber nicht nur einfach komisch, sondern in der Chance, die Dinge zu verlachen, das wissen wir ja auch alle, besteht auch die Chance, sie zu bewältigen oder sie zu ertragen. Also wenn ich über etwas –
Gerk: Die Katharsis.
Kumpfmüller: – Schreckliches lachen kann, habe ich es gebannt. Also davon handelt das Buch auch, ohne Zweifel.
Gerk: Und das Buch spielt ja auch nicht umsonst in Amerika. Das ist ja auch schon so ein Topos in der deutschsprachigen Literatur, diese Amerika-Reisen. Das kam mir jetzt bei Ihnen auch wieder, als ob das gar kein realer Ort unbedingt ist. Was denken Sie, warum das so eine starke Projektionsfläche ist, diese amerikanische Landschaft für Literaten?
Kumpfmüller: Na ja, das sind halt diese großen an die Natur, aber vielleicht auch an die Gesellschaft, früher jedenfalls, gebundenen Freiheitsmythen, wo man denkt, da sei irgendwie alles ganz anders als bei uns in diesem engen, wuseligen Europa, wo man sich dauernd streitet und so weiter. Ich glaube, dass dieser jetzt nicht wegen Trump, der im Roman auch zweimal vorkommt, dass dieser Mythos so gründlich ruiniert ist, einerseits, weil wir wissen, dass es nicht stimmt, andererseits, weil es unendliche Fluten von Bildern gibt, sodass wir eigentlich, also auch die beiden, auf dieser Reise wissen, dass sie sich einerseits in einem realen Raum, aber eigentlich in diesen ganzen Bilderwelten und Zitaten und was weiß ich …, deswegen hat das sowas Künstliches. Sie fragen sich auch immer, sind wir die Hunderttausendsten, die das sehen oder die ersten. Also das weiß der Text, dass das alles … Also insofern ist er postmodern, hätte man früher gesagt, weil er weiß, dass es vorbei ist.
Gerk: Das neue Buch von Michael Kumpfmüller ist unter dem Titel "Tage mit Ora" beim Verlag Kiepenheuer und Witsch erschienen, 192 Seiten hat es, und es kostet 19 Euro.
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