Neuer Streit um alte Skulpturen
Im neuen Akropolismuseum, das diese Woche in Athen eröffnet wird, ist für die antiken Parthenonskulpturen eine eigene Halle reserviert - doch die Kunstwerke fehlen. Seit 1801 befinden sie sich im Britischen Museum. Den neuen Besitzanspruch Griechenlands hält der Architekturkritiker Nikolaus Bernau jedoch für verfehlt - Kunstraub sei bis 1815 in Europa schließlich geduldet worden.
Joachim Scholl: Die Fachwelt kennt sie unter dem Begriff "The Elgin Marbles", die meisten kulturinteressierten Menschen sagen "Aha", wenn man vom Parthenonfries und den Skulpturen spricht. Es war Thomas Bruce, der siebte Earl of Elgin, der 1801 als Botschafter von England diesen Kunstschatz aus Athen nach London verschiffte. Heute lagern große Teile davon im Britischen Museum. Schon lange will Griechenland die Pracht zurückhaben und jetzt, im neuen Akropolismuseum, das in dieser Woche eröffnet wird, ist sogar eine eigene Halle dafür reserviert, also ist der Streit erneut entflammt. Wir wollen den Fall, die Hintergründe und die Argumente sichten mit Nikolaus Bernau, unserem Fachmann für Architektur. Guten Morgen, Herr Bernau!
Nikolaus Bernau: Guten Morgen!
Scholl: Um was, Herr Bernau, wird hier eigentlich genau gestritten, wie müssen wir uns den Umfang dieser Parthenonkunstwerke eigentlich vorstellen?
Bernau: Sehr umfangreich, das kann man in keiner Form anders beschreiben. Es ist nach dem Pergamonaltar, der ja in Berlin zu sehen ist, der umfangreichste Bestand an antiker Einzelskulptur, den es überhaupt gibt. Zum größten Teil befindet er sich seit 1801 in London, wobei eben ganz wichtig ist zu wissen: Thomas Bruce, Lord of Elgin, war nicht etwa Botschafter in Griechenland, sondern er war Botschafter am Osmanischen Hof, an der Hohen Pforte. Das heißt, die Hohe Pforte hatte ihm die Genehmigung gegeben, in Athen, das damals ein winzig kleines Dorf war in einer völlig unbedeutenden westlichen Provinz des Osmanischen Reiches – die vor allem durch intensive Seeräuberei aufgefallen ist –, also in diesem unbedeutenden, kleinen Dorf antike Skulpturen nach Belieben mitzunehmen. Das war damals gar nicht so unüblich um 1800, 1801, das war quasi eine Art Gratifikation dafür, dass man sich überhaupt aufgemacht hat, nach Griechenland zu fahren, dass man dort dann eben auch ein paar Souvenirs mitnehmen darf. Lord Elgin hat das in sehr umfangreichem Maße getan, das kann man anders nicht sagen.
Der Parthenon ist der klassische, griechische, dorische Tempel an sich – mit einer ganz großen Besonderheit: Er hat also diese berühmten, strengen Säulen. Und dann hat er als Schmuck, wie jeder dorische Tempel, oben die Metopen, das sind diese quadratischen Felder zwischen den kleinen Schlitzfeldern, die mit Reliefs ausgestattet sind. Die sind weitgehend zerstört, 15 dieser Metopen befinden sich aber – dank Lord Elgin oder wegen Lord Elgin, das ist der Streit – in London. Dann gibt es den Fries, das ist das sehr Besondere, ein dorischer Tempel hat eigentlich keinen Fries, der Parthenon als der Supertempel seiner Zeit, etwa 440 vor Christus fertiggestellt, der Parthenon hatte außerdem einen Fries. Von diesem Fries, der ursprünglich 115 Platten hatte, befinden sich 36 noch in Athen in einem teilweise erbärmlichen Zustand, das kann man anders nicht sagen. Sie wurden nämlich in Athen erst in den letzten zwei Jahrzehnten überhaupt abgenommen und befanden sich bis dahin im Smog der Großstadt. Seit der Antike die Erdbeben, das hat man alles gut überlebt, aber der Smog, der hat ihnen den Rest gegeben. Und in London befinden sich 56 Tafeln, die sind sehr, sehr gut erhalten größtenteils, leider allerdings in den 30er-Jahren einer recht, sagen wir, saftigen Reinigung unterzogen worden, weswegen dort auch die Oberfläche doch sehr stark beschädigt ist.
Scholl: Die wesentlichen Teile lagern also in London, kleinere Partien sind auch in Kopenhagen und Basel vorhanden und in weiteren Museen gibt es auch noch Einzelteile. Nun haben wir in den letzten Jahren, Herr Bernau, etliche weitgespannte Diskussionen über Raubkunst der Nazis, Kriegsbeuten gehabt und haben sie immer wieder, diese Diskussionen, und reflexartig schlägt das kulturelle Herz ja für den einstigen Besitzer. Sie haben jetzt schon ein wenig relativiert, dass es also Griechenland als Nation noch gar nicht gab, aber trotzdem: Muss man die Briten nicht so doch als die "Bösen" sehen, die geklaute Kunst nicht wieder herausrücken wollen?
Bernau: Man muss es historisch sehen. Das ist das Problem an der ganzen Debatte: Die Debatte wird ahistorisch geführt, wie überhaupt diese ganzen Rückgabedebatten völlig ahistorisch geführt werden, sondern aus einer moralisierenden Position heraus, nach dem System, es gibt die Guten und es gibt die Bösen. Es gibt auch im Falle der Elgin Marbles – wie auch übrigens im Fall der Nofretete beispielsweise –, es gibt nicht die Guten und die Bösen, sondern es gibt unterschiedliche historische Zustände. Beispielsweise ist der Fakt des Kunstraubes ein ganz moderner, den gibt es erst seit 1815, erst dann wurde im Wiener Kongress überhaupt festgelegt, dass Objekte zurückgegeben werden müssen, wenn sie von jemandem vorher entführt wurden. Der Vorlauf war der, dass Napoleon in absolut welthistorisch einzigartigem Maße, also, nur übertroffen durch das römische Weltreich,…
Scholl: …wie ein Rabe…
Bernau: …wie ein Rabe – und fast noch ein wenig schlimmer – einmal Europa ausgeräumt hatte, übrigens auch Ägypten kraftvoll abgeräumt hatte. Und diese Sammlungen… Diese Herrscher, die sich 1815 zusammengesetzt hatten in Wien, haben zum ersten Mal beschlossen, dass die Objekte zurückgegeben werden sollten an ihren ursprünglichen Besitzer. Davor gab es diesen Fakt gar nicht, das heißt, das, was Lord Elgin zum Beispiel gemacht hat, war das normale Recht eines Privatmannes oder eines Siegers: Ich nehme das mit, was mir gehört. Kein Mensch fordert – weil es eben lange vor 1815 geschehen ist – deswegen die Rückgabe der Objekte, die 1648 unmittelbar vor dem Abschluss des Westfälischen Friedens im Auftrag von Königin Christina aus Prag nach Stockholm entführt wurden. Das hat etwas damit zu tun, dass das rechtlich vollkommen legitim war. Ob es moralisch legitim war, ist eine andere Frage. Aber diese historische Relevanz, die muss man immer beachten, bei all diesen Debatten.
Scholl: Der Parthenonfries und die Skulpturen, jetzt wollen sie die Griechen endgültig zurück für das neue Akropolismuseum, im Studio ist der Architekturkritiker Nikolaus Bernau. Die Briten haben stets auch damit argumentiert, dass die Griechen keinen angemessenen Raum hätten, die Parthenonskulpturen und vor allem den Fries zu präsentieren. Jetzt – mit dem neuen Museum hat man extra eine Halle aufgerichtet – fällt das Argument ein bisschen weg. Und wenn wir diese historischen Argumente jetzt mal beiseite nehmen und doch ein bisschen die Moral – die doch in diesen Debatten, Herr Bernau halten zu Gnaden, dominiert – wieder in den Vordergrund rücken: Dieses Argument ist ja jetzt perdu, oder?
Bernau: Das Argument ist, mit großer Wahrscheinlichkeit zumindest, perdu. Archäologen und Architekturkritiker sind manchmal etwas skeptisch, was die Haltbarkeit des neuen Museumsneubaues angeht, der steht nämlich direkt über einer Ausgrabung auf Pfählen, abgesehen mal davon, dass diese Ausgrabung erheblich beschädigt wurde durch den Neubau, der darüber entstanden ist, worüber nicht so gerne geredet wird, auch gerade in Griechenland nicht so gerne geredet wird, weil sie nämlich große Probleme haben in der Verwaltung ihrer antiken Schätze. Und Griechenland ist – neben der Türkei und Italien – zweifellos in Europa das mit archäologischen Schätzen einzigartigst gesegnete Land. Aber sie haben dieses Argument zweifellos nicht mehr, es gibt jetzt sogar eine vollklimatisierte Halle, die Reste des Parthenon-Skulpturenschmuckes, die es gibt, könnten dort gut aufgebahrt werden, das ist nicht die große Frage.
Die große Frage ist, und da muss ich dann eben leider doch wieder zurückkommen von der Moral zur Geschichte in dem Sinne: Wo haben diese Objekte eigentlich tatsächlich ihre große Wirkung entfaltet? Diese Debatte wird auch relativ selten geführt. Die Objekte sind seit 1816 öffentlich zu sehen in London. Dass es Griechenland heute als unabhängigen Staat gibt, hat wesentlich etwas mit der philhellenischen Begeisterung des frühen 19. Jahrhunderts zu tun, und die hat sich an diesen Skulpturen aufgehängt. Mit diesen Skulpturen wusste man zum ersten Mal überhaupt, wo Athen genau liegt. Noch Winkelmann wollte da gerne hinreisen, Ende des 18. Jahrhunderts, aber es gab gar keine Reisemöglichkeiten. Das war irgendwie so ein Ort ganz fern, man hatte eine Vision davon – das ist wichtig – vor allem transportiert durch die Literatur.
Scholl: Aber hat die Renaissance nicht auch die Griechen schon entdeckt?
Bernau: Die Renaissance hat vor allem die Antike entdeckt, aber die Antike über die Römer gefiltert, ganz wichtig. Die Renaissance hat sich Rom angesehen, kannte aber Griechenland überhaupt gar nicht. Griechenland war im Wesentlichen ein mal von Venedig, mal von Genua, mal vom Osmanischen Reich ausgebeutetes, armes Provinzland. Die antiken Schätze hat man wenig gesehen, allerdings muss man sagen: Mitte des 18. Jahrhunderts ändert sich das militant mit der Publikation eines sehr, sehr bedeutenden Buches, "The Antiquities of Athens" genannt, von James Stuart und Nicholas Revett, in Englisch publiziert charakteristischerweise, deswegen sind die Engländer dann eben auch nach Athen gefahren. Und dieses Buch hat das Augenmerk Europas auf den Parthenon, auf die griechische, originale Baukunst gelenkt. Bis dahin war Griechenland immer nur durch den Filter von Rom gesehen worden.
Scholl: Es gibt ja nun unter Museumsdirektoren und Kritikern jenseits Griechenlands einen breiten Konsens, dass die Werke jetzt nicht zurückgegeben werden sollen. Auch das ist ja bemerkenswert. Nun könnte man natürlich sagen: Die werden sich hüten, wer weiß, was noch alles in deren Kellern ruht.
Bernau: Das ist genau das Entscheidende, das darf man gar nicht abstreiten. Museumsdirektoren, die freiwillig zugeben würden, dass sie Objekte herausgeben, die nicht einer ganz erheblichen moralischen Vorbelastung unterlegen sind – wie beispielsweise die Objekte, die durch die Nazis geraubt wurden, wie beispielsweise Objekte, die in Museen gekommen sind, obwohl sie einen hohen kulturellen oder religiösen Wert hatten wie beispielsweise viele Objekte, die sich im Völkerkundemuseum befinden von Indianern oder aus Schwarzafrika et cetera –, solche Direktoren hätten ein echtes Problem gegenüber ihren Kollegen, vor allem natürlich deswegen: Wo ziehen wir denn mal die Grenzlinie? Das ist das Entscheidende und die entscheidende Frage, die immer wieder gestellt wird.
Die Elgin Marbles haben im British Museum beispielsweise zweifellos eine größere Zuseherschaft, als sie jemals in Athen hätten. Deswegen möchte sie ja Athen ganz gerne zurückhaben unter anderem auch, das hat auch touristische Gründe, man darf das nicht ganz abstreiten, das sind nicht nur kulturelle Gründe. Man möchte gerne mit diesen Sachen Geld verdienen. Auch die Londoner verdienen damit Geld, aber sie haben einen sehr viel größeren Tourismus, als Athen jemals haben wird. Dort sehen die Elgin Marbles einfach mehr Menschen. Das ist ein Aspekt. Der zweite Aspekt ist selbstverständlich der, was ich gerade schon gesagt habe: Wo ziehen wir die Grenzlinie? Die Sixtinische Madonna von Raffael kommt aus einer Kirche, die in Italien bis heute steht, wunderschön ist, dort hängt übrigens eine Kopie der Sixtinischen Madonna. Wollen wir sie zurückgeben? Sie hängt in Dresden seit längerer Zeit, als sie jemals in Italien gehangen hat.
Die Elgin Marbles in London haben ihre gesamte moderne Rezeptionsgeschichte, das heißt, ihre Rezeptionsgeschichte, die für unsere Kultur heute wichtig ist, in London erfahren. Sie sind eben – wenn man es ganz überspitzt formuliert – als modernes Objekt betrachtet kein griechisches Objekt, sondern ein englisches. Charakteristisch dafür – nur so als Randbemerkung – ist: Sie wurden eben nicht gekauft durch das British Museum, was oft gesagt wird, sie wurden erworben durch das Britische Parlament. Sie gehören gar nicht dem British Museum, sie gehören dem britischen Volk. Das ist ein entscheidender Aspekt, der bei der Sache bedacht werden muss: Wem gehören die Sachen heute eigentlich? Oft gar nicht den Museen, sondern den neuen Völkern, in denen sie schon lange ansässig sind.
Scholl: Der Streit um die Parthenonskulpturen, das war unser Architekturkritiker Nikolaus Bernau. Danke für diese Einschätzung!
Nikolaus Bernau: Guten Morgen!
Scholl: Um was, Herr Bernau, wird hier eigentlich genau gestritten, wie müssen wir uns den Umfang dieser Parthenonkunstwerke eigentlich vorstellen?
Bernau: Sehr umfangreich, das kann man in keiner Form anders beschreiben. Es ist nach dem Pergamonaltar, der ja in Berlin zu sehen ist, der umfangreichste Bestand an antiker Einzelskulptur, den es überhaupt gibt. Zum größten Teil befindet er sich seit 1801 in London, wobei eben ganz wichtig ist zu wissen: Thomas Bruce, Lord of Elgin, war nicht etwa Botschafter in Griechenland, sondern er war Botschafter am Osmanischen Hof, an der Hohen Pforte. Das heißt, die Hohe Pforte hatte ihm die Genehmigung gegeben, in Athen, das damals ein winzig kleines Dorf war in einer völlig unbedeutenden westlichen Provinz des Osmanischen Reiches – die vor allem durch intensive Seeräuberei aufgefallen ist –, also in diesem unbedeutenden, kleinen Dorf antike Skulpturen nach Belieben mitzunehmen. Das war damals gar nicht so unüblich um 1800, 1801, das war quasi eine Art Gratifikation dafür, dass man sich überhaupt aufgemacht hat, nach Griechenland zu fahren, dass man dort dann eben auch ein paar Souvenirs mitnehmen darf. Lord Elgin hat das in sehr umfangreichem Maße getan, das kann man anders nicht sagen.
Der Parthenon ist der klassische, griechische, dorische Tempel an sich – mit einer ganz großen Besonderheit: Er hat also diese berühmten, strengen Säulen. Und dann hat er als Schmuck, wie jeder dorische Tempel, oben die Metopen, das sind diese quadratischen Felder zwischen den kleinen Schlitzfeldern, die mit Reliefs ausgestattet sind. Die sind weitgehend zerstört, 15 dieser Metopen befinden sich aber – dank Lord Elgin oder wegen Lord Elgin, das ist der Streit – in London. Dann gibt es den Fries, das ist das sehr Besondere, ein dorischer Tempel hat eigentlich keinen Fries, der Parthenon als der Supertempel seiner Zeit, etwa 440 vor Christus fertiggestellt, der Parthenon hatte außerdem einen Fries. Von diesem Fries, der ursprünglich 115 Platten hatte, befinden sich 36 noch in Athen in einem teilweise erbärmlichen Zustand, das kann man anders nicht sagen. Sie wurden nämlich in Athen erst in den letzten zwei Jahrzehnten überhaupt abgenommen und befanden sich bis dahin im Smog der Großstadt. Seit der Antike die Erdbeben, das hat man alles gut überlebt, aber der Smog, der hat ihnen den Rest gegeben. Und in London befinden sich 56 Tafeln, die sind sehr, sehr gut erhalten größtenteils, leider allerdings in den 30er-Jahren einer recht, sagen wir, saftigen Reinigung unterzogen worden, weswegen dort auch die Oberfläche doch sehr stark beschädigt ist.
Scholl: Die wesentlichen Teile lagern also in London, kleinere Partien sind auch in Kopenhagen und Basel vorhanden und in weiteren Museen gibt es auch noch Einzelteile. Nun haben wir in den letzten Jahren, Herr Bernau, etliche weitgespannte Diskussionen über Raubkunst der Nazis, Kriegsbeuten gehabt und haben sie immer wieder, diese Diskussionen, und reflexartig schlägt das kulturelle Herz ja für den einstigen Besitzer. Sie haben jetzt schon ein wenig relativiert, dass es also Griechenland als Nation noch gar nicht gab, aber trotzdem: Muss man die Briten nicht so doch als die "Bösen" sehen, die geklaute Kunst nicht wieder herausrücken wollen?
Bernau: Man muss es historisch sehen. Das ist das Problem an der ganzen Debatte: Die Debatte wird ahistorisch geführt, wie überhaupt diese ganzen Rückgabedebatten völlig ahistorisch geführt werden, sondern aus einer moralisierenden Position heraus, nach dem System, es gibt die Guten und es gibt die Bösen. Es gibt auch im Falle der Elgin Marbles – wie auch übrigens im Fall der Nofretete beispielsweise –, es gibt nicht die Guten und die Bösen, sondern es gibt unterschiedliche historische Zustände. Beispielsweise ist der Fakt des Kunstraubes ein ganz moderner, den gibt es erst seit 1815, erst dann wurde im Wiener Kongress überhaupt festgelegt, dass Objekte zurückgegeben werden müssen, wenn sie von jemandem vorher entführt wurden. Der Vorlauf war der, dass Napoleon in absolut welthistorisch einzigartigem Maße, also, nur übertroffen durch das römische Weltreich,…
Scholl: …wie ein Rabe…
Bernau: …wie ein Rabe – und fast noch ein wenig schlimmer – einmal Europa ausgeräumt hatte, übrigens auch Ägypten kraftvoll abgeräumt hatte. Und diese Sammlungen… Diese Herrscher, die sich 1815 zusammengesetzt hatten in Wien, haben zum ersten Mal beschlossen, dass die Objekte zurückgegeben werden sollten an ihren ursprünglichen Besitzer. Davor gab es diesen Fakt gar nicht, das heißt, das, was Lord Elgin zum Beispiel gemacht hat, war das normale Recht eines Privatmannes oder eines Siegers: Ich nehme das mit, was mir gehört. Kein Mensch fordert – weil es eben lange vor 1815 geschehen ist – deswegen die Rückgabe der Objekte, die 1648 unmittelbar vor dem Abschluss des Westfälischen Friedens im Auftrag von Königin Christina aus Prag nach Stockholm entführt wurden. Das hat etwas damit zu tun, dass das rechtlich vollkommen legitim war. Ob es moralisch legitim war, ist eine andere Frage. Aber diese historische Relevanz, die muss man immer beachten, bei all diesen Debatten.
Scholl: Der Parthenonfries und die Skulpturen, jetzt wollen sie die Griechen endgültig zurück für das neue Akropolismuseum, im Studio ist der Architekturkritiker Nikolaus Bernau. Die Briten haben stets auch damit argumentiert, dass die Griechen keinen angemessenen Raum hätten, die Parthenonskulpturen und vor allem den Fries zu präsentieren. Jetzt – mit dem neuen Museum hat man extra eine Halle aufgerichtet – fällt das Argument ein bisschen weg. Und wenn wir diese historischen Argumente jetzt mal beiseite nehmen und doch ein bisschen die Moral – die doch in diesen Debatten, Herr Bernau halten zu Gnaden, dominiert – wieder in den Vordergrund rücken: Dieses Argument ist ja jetzt perdu, oder?
Bernau: Das Argument ist, mit großer Wahrscheinlichkeit zumindest, perdu. Archäologen und Architekturkritiker sind manchmal etwas skeptisch, was die Haltbarkeit des neuen Museumsneubaues angeht, der steht nämlich direkt über einer Ausgrabung auf Pfählen, abgesehen mal davon, dass diese Ausgrabung erheblich beschädigt wurde durch den Neubau, der darüber entstanden ist, worüber nicht so gerne geredet wird, auch gerade in Griechenland nicht so gerne geredet wird, weil sie nämlich große Probleme haben in der Verwaltung ihrer antiken Schätze. Und Griechenland ist – neben der Türkei und Italien – zweifellos in Europa das mit archäologischen Schätzen einzigartigst gesegnete Land. Aber sie haben dieses Argument zweifellos nicht mehr, es gibt jetzt sogar eine vollklimatisierte Halle, die Reste des Parthenon-Skulpturenschmuckes, die es gibt, könnten dort gut aufgebahrt werden, das ist nicht die große Frage.
Die große Frage ist, und da muss ich dann eben leider doch wieder zurückkommen von der Moral zur Geschichte in dem Sinne: Wo haben diese Objekte eigentlich tatsächlich ihre große Wirkung entfaltet? Diese Debatte wird auch relativ selten geführt. Die Objekte sind seit 1816 öffentlich zu sehen in London. Dass es Griechenland heute als unabhängigen Staat gibt, hat wesentlich etwas mit der philhellenischen Begeisterung des frühen 19. Jahrhunderts zu tun, und die hat sich an diesen Skulpturen aufgehängt. Mit diesen Skulpturen wusste man zum ersten Mal überhaupt, wo Athen genau liegt. Noch Winkelmann wollte da gerne hinreisen, Ende des 18. Jahrhunderts, aber es gab gar keine Reisemöglichkeiten. Das war irgendwie so ein Ort ganz fern, man hatte eine Vision davon – das ist wichtig – vor allem transportiert durch die Literatur.
Scholl: Aber hat die Renaissance nicht auch die Griechen schon entdeckt?
Bernau: Die Renaissance hat vor allem die Antike entdeckt, aber die Antike über die Römer gefiltert, ganz wichtig. Die Renaissance hat sich Rom angesehen, kannte aber Griechenland überhaupt gar nicht. Griechenland war im Wesentlichen ein mal von Venedig, mal von Genua, mal vom Osmanischen Reich ausgebeutetes, armes Provinzland. Die antiken Schätze hat man wenig gesehen, allerdings muss man sagen: Mitte des 18. Jahrhunderts ändert sich das militant mit der Publikation eines sehr, sehr bedeutenden Buches, "The Antiquities of Athens" genannt, von James Stuart und Nicholas Revett, in Englisch publiziert charakteristischerweise, deswegen sind die Engländer dann eben auch nach Athen gefahren. Und dieses Buch hat das Augenmerk Europas auf den Parthenon, auf die griechische, originale Baukunst gelenkt. Bis dahin war Griechenland immer nur durch den Filter von Rom gesehen worden.
Scholl: Es gibt ja nun unter Museumsdirektoren und Kritikern jenseits Griechenlands einen breiten Konsens, dass die Werke jetzt nicht zurückgegeben werden sollen. Auch das ist ja bemerkenswert. Nun könnte man natürlich sagen: Die werden sich hüten, wer weiß, was noch alles in deren Kellern ruht.
Bernau: Das ist genau das Entscheidende, das darf man gar nicht abstreiten. Museumsdirektoren, die freiwillig zugeben würden, dass sie Objekte herausgeben, die nicht einer ganz erheblichen moralischen Vorbelastung unterlegen sind – wie beispielsweise die Objekte, die durch die Nazis geraubt wurden, wie beispielsweise Objekte, die in Museen gekommen sind, obwohl sie einen hohen kulturellen oder religiösen Wert hatten wie beispielsweise viele Objekte, die sich im Völkerkundemuseum befinden von Indianern oder aus Schwarzafrika et cetera –, solche Direktoren hätten ein echtes Problem gegenüber ihren Kollegen, vor allem natürlich deswegen: Wo ziehen wir denn mal die Grenzlinie? Das ist das Entscheidende und die entscheidende Frage, die immer wieder gestellt wird.
Die Elgin Marbles haben im British Museum beispielsweise zweifellos eine größere Zuseherschaft, als sie jemals in Athen hätten. Deswegen möchte sie ja Athen ganz gerne zurückhaben unter anderem auch, das hat auch touristische Gründe, man darf das nicht ganz abstreiten, das sind nicht nur kulturelle Gründe. Man möchte gerne mit diesen Sachen Geld verdienen. Auch die Londoner verdienen damit Geld, aber sie haben einen sehr viel größeren Tourismus, als Athen jemals haben wird. Dort sehen die Elgin Marbles einfach mehr Menschen. Das ist ein Aspekt. Der zweite Aspekt ist selbstverständlich der, was ich gerade schon gesagt habe: Wo ziehen wir die Grenzlinie? Die Sixtinische Madonna von Raffael kommt aus einer Kirche, die in Italien bis heute steht, wunderschön ist, dort hängt übrigens eine Kopie der Sixtinischen Madonna. Wollen wir sie zurückgeben? Sie hängt in Dresden seit längerer Zeit, als sie jemals in Italien gehangen hat.
Die Elgin Marbles in London haben ihre gesamte moderne Rezeptionsgeschichte, das heißt, ihre Rezeptionsgeschichte, die für unsere Kultur heute wichtig ist, in London erfahren. Sie sind eben – wenn man es ganz überspitzt formuliert – als modernes Objekt betrachtet kein griechisches Objekt, sondern ein englisches. Charakteristisch dafür – nur so als Randbemerkung – ist: Sie wurden eben nicht gekauft durch das British Museum, was oft gesagt wird, sie wurden erworben durch das Britische Parlament. Sie gehören gar nicht dem British Museum, sie gehören dem britischen Volk. Das ist ein entscheidender Aspekt, der bei der Sache bedacht werden muss: Wem gehören die Sachen heute eigentlich? Oft gar nicht den Museen, sondern den neuen Völkern, in denen sie schon lange ansässig sind.
Scholl: Der Streit um die Parthenonskulpturen, das war unser Architekturkritiker Nikolaus Bernau. Danke für diese Einschätzung!