Ende der Geschichtsvergessenheit?
Mehr als zwei Million Menschen kamen, Schätzungen zu Folge, im Gulag ums Leben, in Stalins schrecklichem Lagersystem. Und Stalin, der die vielen Toten auf dem Gewissen hat, wird wieder hoffähig. Umso erstaunlicher, dass in Moskau ein städtisches Gulag-Museum neu eröffnet - mit Geldern der Stadt.
Eine Putzfrau fegt den Boden, ein Handwerker verlegt noch schnell ein paar Kabel. Die letzten Vorbereitungen. In einem Saal sind Metalltüren aufgereiht: Grau, braun, hellblau. Schwer. Zellentüren. Allesamt mit Guckloch und den typischen Riegeln. Der Ton kommt aus Lautsprechern.
"Das sind Türen aus Gefängnissen in ganz Russland. Sie wurden auch in den 20er-, 30er-, 40er-Jahren benutzt. Im Moskauer Gefängnis Butyrka, in Tomsk, Magadan, Tschukotka."
Roman Romanow leitet das Museum der Gulag-Geschichte in Moskau. An diesem Wochenende wird es neu eröffnet.
"In den Erinnerungen ehemaliger Häftlinge spielen das Klirren der Türriegel, das metallische Knirschen, das Öffnen und Schließen von Türen, meist eine zentrale Rolle."
Im nächsten Raum stehen Vitrinen in Form von Baracken, darin Alltagsgegenstände aus dem Lagerleben, Fotos, Handarbeiten. Auf einer riesigen Leinwand werden Luftaufnahmen der Reste von Lagern im Fernen Osten gezeigt. Und es sind Interviews mit Zeitzeugen zu sehen. Sie berichten von ihren Lagererfahrungen. Zu ihnen zählt auch der mittlerweile verstorbene Gründer des Gulag-Museums, Anton Antonow-Ovsejenko. Er wurde 1943 wegen angeblicher antisowjetischer Propaganda verhaftet und verbrachte mehr als zehn Jahre in einem Arbeitslager in Workuta jenseits des Nordpolarkreises.
"In der Strafzelle, im Karzer, bekam man 300 Gramm Brot am Tag. Versuch mal, ein ausgemergeltes Skelett mit 300 Gramm am Leben zu halten. Und eine Tasse heißes Wasser gab es."
Antonow-Ovsejenko kam erst nach Stalins Tod frei und wurde dann rehabilitiert.
Viele junge Leute wüssten von diesem Teil der sowjetischen Geschichte gar nichts mehr, sagt Museumsdirektor Roman Romanow. Er ist 33 Jahre alt.
"Ich habe Freunde in meinem Alter. Als sie erfahren haben, dass ich im Museum zur Geschichte des Gulag arbeite, haben sie gefragt: Wieso machst du das, das ist doch die Geschichte von Straftätern? Ich betrachte es als meine Pflicht, sie aufzuklären."
Eine systematische und umfängliche Aufklärung über den stalinistischen Terror gibt es in Russland bisher nicht. Das Gulag-Gedenken wird von Einzelnen betrieben - und von der Historischen Gesellschaft "Memorial", einer Nichtregierungsorganisation. Memorial wurde vor bald dreißig Jahren von ehemaligen Repressierten gegründet und steht derzeit stark unter Druck der Behörden.
"Jeder muss Verantwortung tragen für sein Handeln"
Das neue Gulag-Museum nun gehört der Stadt Moskau. Bürgermeister Sergej Sobjanin stellte das Gebäude vor drei Jahren zur Verfügung und bewilligte umgerechnet mehr als sieben Millionen Euro für den Ausbau. Dass so etwas in Russland heute möglich ist, überrascht viele. Der Massenmörder Stalin erlebt in Russland gerade eine Renaissance. Viele preisen ihn als "effektiven Manager". Die Opfer im Inneren seien nötig gewesen, um den Staat zu stärken und den Sieg über den Faschismus zu ermöglichen. Am weitesten ging man bisher in Ussurisjk im Fernen Osten Russlands. Dort wurde in diesem Jahr sogar eine Gedenktafel für Stalin angebracht. Museumsdirektor Romanow nickt.
"Wir werden Dokumente zeigen, die Stalin persönlich unterzeichnet hat. Der Besucher muss daraus dann selbst seine Schlüsse über Stalin ziehen. Die Erschießungslisten mit seiner Unterschrift, der Mord an Millionen Menschen – für mich kann es da nur eine Haltung geben. Ich sehe nicht, dass diese Opfer irgendeinen Sinn hatten."
Dafür wird er kritisiert. Jugendliche demonstrierten vor dem Museum: eine Gruppe, die die Sowjetunion verherrlicht und sich als patriotisch bezeichnet.
Romanow hofft, dass auch Schulklassen in das neueröffnete Museum kommen. Er rechnet mit 80.000 Besuchern im Jahr.
"Das Interesse am Gulag ist immer noch da. Aber wenn die Menschen über das Thema reden, sind sie oft sehr emotional. Wir haben keinen Abstand. Wir müssen das Thema aber nüchtern durchsprechen. Wir müssen diesen Teil unserer Geschichte annehmen, verstehen und eine eigene Haltung dazu erarbeiten."
Den Besucher erwartet am Ausgang die Frage, was zu tun ist, damit sich so etwas wie der Gulag nicht wiederholt. Direktor Romanow beantwortet die Frage so:
"Jeder muss Verantwortung tragen für sein Handeln und muss sich das immer wieder klar machen."