Lesen ist ansteckend
05:56 Minuten
Bitte keine Corona-Romane!, fordert der Autor Jan Drees. Warum eigentlich nicht? Die Pandemie hat noch nicht einmal ihren Höhepunkt erreicht, schon hat Thomas Glavinic losgelegt, darüber zu schreiben. Und damit ist er nicht allein.
Vor etwa zweieinhalb Wochen twitterte der Autor und Journalist Jan Drees eine dringende Aufforderung an alle Absolventen der Literaturinstitute in Hildesheim und in Leipzig: "Bitte schreibt keine #Corona-Romane. Danke." Nun: Es sollte keine Woche dauern, da erschien in der Tageszeitung "Die Welt" bereits der erste Teil eines seriellen Textes von Thomas Glavinic. Überschrift: "Der Corona-Roman".
"Im Kampf zwischen meinem Verdrängungstalent und meiner ausgeprägten Beobachtungsgabe obsiegte leider letztere, und deshalb ist es mir nicht entgangen, dass ich wegen einer Pandemie, die entgegen den Beteuerungen offizieller Stellen unter gewissen Umständen durchaus das Zeug hätte, einen nicht unbeträchtlichen Teil der Weltbevölkerung zu töten, so wie alle anderen Österreicher zuhause unter vorbeugender Quarantäne stehe, was jemand, der so wie ich das Haus nach Möglichkeit sowieso nicht verlässt, tatsächlich erst einmal bemerken muss."
Wille zur schmerzhaften Autofiktion
Man erkennt schon an diesem einen Bandwurmsatz: Es ist alles vorhanden, was Leserinnen und Leser an Thomas Glavinic so schätzen. Der Wille zur schmerzhaften Autofiktion. Ein liebevoll gehegter Menschenhass. Humor und Hypochondrie. Sowie nicht zuletzt ein milder selbstironischer Größenwahn.
"Das kann auch nur mir passieren: Ich lasse die Welt kurz aus den Augen, und wenn ich wieder hinsehe, herrschen Finanzchaos, Pandemie und Ausgangssperre."
Die Erscheinungsform – tägliche Texthäppchen – erinnert an das Genre des Feuilletonromans, wie er im 19. Jahrhundert populär war. Allerdings ist die sich andauernd ändernde Informationslage einer geschlossenen Erzählung nicht gerade zuträglich – ob es sich bei Glavinics Text am Ende tatsächlich um einen "Roman" handelt, wird sich erweisen.
Die Erscheinungsform – tägliche Texthäppchen – erinnert an das Genre des Feuilletonromans, wie er im 19. Jahrhundert populär war. Allerdings ist die sich andauernd ändernde Informationslage einer geschlossenen Erzählung nicht gerade zuträglich – ob es sich bei Glavinics Text am Ende tatsächlich um einen "Roman" handelt, wird sich erweisen.
Extreme Ruhepause
Die Schriftstellerin Nora Bossong ging im Angesicht von Corona erst einmal bedächtiger vor – im Podcast "Der achte Tag" äußerte sie sich kürzlich in Form eines frei gesprochenen Essays zu den philosophischen und poetologischen Dimensionen der Krise:
"Ich glaube, dass wir momentan in eine Situation kommen, die man als Schriftstellerin ganz gut kennt, nämlich von einem sehr aktiven Leben plötzlich in eine Ruhephase überzugleiten, die extrem sein kann, die uns wirklich dahin zurück bringt, wo wir eigentlich stehen, die uns jegliche Ablenkung nimmt, die uns radikal entschleunigt, und dann muss man es erst einmal mit sich selbst aushalten."
"Literatur ist potenziell diagnostisch"
Die Pandemie zwingt uns also in einen Zustand der verlangsamten Konzentration, wie er sonst vor allem Autorinnen und Autoren zu eigen ist. Aber natürlich eignet sich eine solche Zeit des Stillstands nicht nur für Literaturproduktion, sondern auch für deren verstärkte Rezeption.
"Menschen in Selbstisolation suchen Ablenkungen: Kochen, Netflix, Musik, Lesen. Ich habe gelesen. Literatur enthüllt, präsentiert uns die Träume des Autors, ist indirekt intim und potenziell diagnostisch. Darum habe ich für Sie, Menschen in Deutschland, den einzigen Roman von Popo dem Todesclown gelesen. Ich wollte ein Bild von dem Autor bekommen. Ich war in keiner Weise darauf vorbereitet, was mir bevorstand."
So die schottische Autorin A.L. Kennedy in ihrem in der "Süddeutschen Zeitung" erscheinenden Brexit-Tagebuch, das sich nun notgedrungen auch mit Corona auseinandersetzt. Kennedy schreibt mit Hirn und Herzblut, mit Gift und Galle: "Popo, der Todesclown" ist ihre Bezeichnung für den britischen Premierminister Boris Johnson. Dessen Roman sollte man offenbar besser nicht lesen – stattdessen lieber die bitterkomische Kolumne von Kennedy.
Autor im Virenexil
Oder aber die Mini-Serie, die Tilman Rammstedt unter dem Titel "Der Quarantäne-Tröster" für Zeit Online verfasst hat. Hier der Autor selbst aus dem Virenexil:
"Wir sind leider alle ein wenig zu sehr in Christian Drosten verliebt und er, wahrscheinlich, leider ein wenig zu wenig in uns. Er hat gerade anderes zu tun, das wissen wir, das wissen wir doch. Wir geben ihm Zeit. Wir wissen nicht viel über den Virus. Nur, dass er dringend bei uns sein will. Nur, dass er verzweifelt versucht, sich ständig zu verändern, damit wir ihn nicht einfach ignorieren. Nur, dass er immer schon nach kurzer Zeit auf den Boden fällt und dort liegen bleibt. Für Sekunden fühlen wir uns ihm sehr nah."
Dort liegen wir nun und lesen. Die tröstliche Nachricht lautet: Nicht nur das Coronavirus, auch wir Menschen sind enorm wandlungsfähig. Früher oder später werden wir uns – notgedrungen – mit der neuen Lebenssituation arrangieren.
"Dann sind die Maßstäbe endlich angepasst. Losen Bekannten nickt man dann halt aus fünf Meter Entfernung freundlich zu, vier Meter sind die neue Umarmung unter Freunden. Und wie sehr das Herz klopfen wird beim ersten Mal 'drei Metern' mit jemandem, den man begehrt! Drei Meter sind dann der neue Zungenkuss. Und über alles, was sich auf zwei Meter Entfernung abspielt, kann man nur auf Englisch singen, leise und schnurrend, während die Zigarette verglüht."