Neues Institut für Osteuropaforschung

Arbeitsfeld mit Perspektive?

Ein ukrainischer Milizionär patroulliert vor der Ruine eines Hauses in der Nähe der Front im Osten der Ukraine
Auch mit dem Ukraine-Konflikt und dessen Folgen werden sich die Forscher am neuen Zentrum für Osteuropa- und internationale Studien beschäftigen. © AFP/Genya Savilov
Gwendolyn Sasse im Gespräch mit Liane von Billerbeck |
Das vom Bundestag beschlossene neue Zentrum für Osteuropa- und internationale Studien hat seine Arbeit aufgenommen. Die dort forschenden Wissenschaftler sollen die Weichen für einen anderen, neuen Blick auf Europas Osten stellen. Was das bedeutet, erzählt die Direktorin Gwendolyn Sasse.
Liane von Billerbeck: Vor gut einem Jahr, im Dezember 2015, beschloss der Deutsche Bundestag die Gründung eines neuen Instituts für Osteuropaforschung. Auch vor dem Hintergrund der russischen Intervention in der Ukraine, es sollte einen anderen Blick auf den Osten Europas richten. Ein Jahr später haben wir uns nun Gwendolyn Sasse eingeladen, sie ist die wissenschaftliche Direktorin des Zentrums für Osteuropa- und internationale Studien, um zu erfahren, wie diese Arbeit am Institut läuft. Frau Sasse, schönen guten Morgen!
Gwendolyn Sasse: Guten Morgen!
von Billerbeck: Wie lautete eigentlich damals Ihre genaue Aufgabenbeschreibung?
Sasse: Als wissenschaftliche Direktorin, meinen Sie?
von Billerbeck: Nein, fürs Institut.
Sasse: Das Institut, das Ziel des Instituts oder die Idee war schon im Koalitionsvertrag von CDU, CSU und SPD im Dezember verankert worden, und da hieß es, man wollte die wissenschaftliche Expertise zu Osteuropa stärken und auf eine solide Grundlage stellen. Und wie Sie schon sagen, hat dann der Bundestag im Dezember 2015 beschlossen, ein unabhängiges Forschungsinstitut zu gründen, das ZOiS – das Zentrum für Osteuropa- und internationale Studien.

Gesellschaftlich relevante Forschung

Und der Auftrag, der in der Satzung verankert ist – wir sind eine Stiftung, die eine gGmbH, eine gemeinnützige GmbH betreibt, das heißt, dadurch wird auch gleich die inhaltliche Unabhängigkeit vom Auswärtigen Amt, unserem Zuwendungsgeber signalisiert –, lautet, dass wir drei Aufgaben im Wesentlichen haben: Das eine ist, gesellschaftsrelevante wissenschaftliche Grundlagenforschung zu Osteuropa zu machen, zweitens auf dieser Grundlage Politikberatung zu betreiben und in die Öffentlichkeit hineinzuwirken, und drittens haben wir auch Nachwuchsförderung als eine unserer Zielvorgaben.
von Billerbeck: Aber Sie bilden nicht selber Studenten aus und erstellen auch keine kurzfristigen Expertisen. Aber Sie sollen den anderen Blick haben. Wie sieht der denn aus? Sind Sie differenzierter, facettenreicher, genauer?
Sasse: Genau, dadurch, dass es bei uns mit wissenschaftlicher Forschung losgeht, müssen wir zum einen, glaube ich, einige Vorbehalte, die es um den Begriff Wissenschaft herum vielleicht in der breiten Öffentlichkeit gibt, abbauen. Wissenschaft ist gesellschaftsrelevant, kann sehr gut kommuniziert werden, muss überhaupt nicht in abgeschotteten Räumen und in einer unverständlichen Fachsprache stattfinden.
Aber sie ermöglicht es, etwas mittelfristig, längerfristig in die Tiefe zu gehen, Projekte durchzuführen, die nicht nur ein paar Tage, ein paar Wochen dauern, sondern vielleicht Monate, Jahre. Und dass man dann an bestimmten Aspekten, die auch in der Politik relevant sind, in die Tiefe gehen kann. Dass wir auch eigene Daten generieren können zum Beispiel durch Umfragen, durch Feldforschung, und die dann in die breitere Gesellschaft, in die Diskussion einführen können.
von Billerbeck: Das war jetzt ein relativ allgemeiner Vortrag, da ging es noch nicht um Osteuropa. In welcher Hinsicht sind Sie denn facettenreicher und genauer und differenzierter, was diese Region betrifft?
Sasse: Ja, wir müssen sagen, wir haben im Oktober 2016 unsere Aufgabe begonnen, und unseren Aufbau betreiben wir jetzt aktiv, das heißt, wir stehen noch ganz am Anfang. Es geht wirklich bei null los, ein Institut aufzubauen. Und natürlich, wie ich gerade schon sagte, wenn Forschung auch etwas länger angelegt ist, dann brauchen natürlich einige Dinge auch noch etwas Zeit.
Aber wir haben hier aktiv angefangen, wir sind jetzt 16 Leute bereits, darunter sind fünf wissenschaftliche Mitarbeiter, Mitarbeiterinnen, wir arbeiten zurzeit an zwei Themenschwerpunkten, der eine ist Stabilität und Wandel von Regimen, da geht es um dynamische gesellschaftliche, politische, wirtschaftliche Veränderungen innerhalb der Gesellschaften, innerhalb der Regime Osteuropas. Osteuropa definieren wir flexibel, das ist ohnehin ein Konstrukt als Begriff, das ist der postsowjetische Raum, das kann aber je nach Thema und vergleichender Analyse auch Ost-, Mitteleuropa miteinschließen. Und der zweite Schwerpunkt, da geht es um Konfliktdynamiken, um ethnoterritoriale Konflikte.

In Deutschland wird das Thema facettenreicher behandelt

von Billerbeck: Sie waren zuletzt in Oxford, Sie haben dort gelehrt seit 2007 vergleichende Politikwissenschaften und haben fast zwei Jahrzehnte auch in Großbritannien gelebt. Wenn Sie das Revue passieren lassen, wie unterscheiden sich dann die Debatten in Großbritannien und in Deutschland, was Osteuropa betrifft?
Sasse: Ich empfinde die Debatte hier in Deutschland und gerade auch in Berlin als facettenreicher, und sie wird auch aktiver betrieben. Es sind einfach sehr viel mehr Akteure mit Osteuropabezug, sowohl in der Wissenschaft als auch in der Politik. Es gibt viele NGOs, die politischen und privaten Stiftungen, das ist ein sehr lebendiges Feld. Da freue ich mich, dazuzukommen, und wir hoffen, dass wir eine Art Forum werden können, das einen zusätzlichen Impuls in diese Debatte gibt. In Großbritannien habe ich diese Vielfalt der Debatte nicht erlebt. Sicher, es gibt auch gute Wissenschaft zu dem Thema, aber dass es darüber hinaus hinausgeht und so viele Akteure miteinander facettenreich diskutieren, habe ich da nicht so erlebt.
von Billerbeck: Warum war es eigentlich so, dass die Gründung dieses Instituts, in dem Sie wissenschaftliche Direktorin sind, nötig wurde? Warum ist die Forschung zum postsowjetischen Raum nach dem Zerfall der Sowjetunion eigentlich so zurückgefahren worden?
Sasse: Ja, das war ein schleichender Prozess und vielleicht hat man ihn zu spät auch wirklich bemerkt. Natürlich ist dann seit 2013 insbesondere durch die politischen Entwicklungen die Notwendigkeit, Expertise zu haben, ganz deutlich geworden, und das sehen wir auch jeden Tag jetzt ja wieder. Man hat sowohl im allgemeineren politischen Bereich, aber auch in der Wissenschaft vermutlich angenommen, dass einige Themen in eine generellere Debatte, vielleicht auch von westlicher Perspektive geprägte Debatte eingehen.

Die Relevanz erkennen

Man hat zum Beispiel das Bundesinstitut für ostwissenschaftliche Studien in Köln 2000 geschlossen, man hat viele Professuren mit Osteuropabezug, gerade in den Sozialwissenschaften, nicht wiederbesetzt. Und das ist dann, obwohl ich gerade gesagt habe, dass es noch eine facettenreiche Diskussion an verschiedenen Stellen gibt zu Osteuropa … Das soll nicht heißen, dass es nicht auch an zum Beispiel Universitäten wie in Bremen, in Leipzig, in Marburg, in Regensburg und an vielen Orten … gibt es noch auch institutionell verankert kleinere Strukturen, aber das Ganze ist etwas zersplittert geworden.
Und man hat vielleicht auch nicht mehr richtig aufzeigen können - sowohl in der Wissenschaft als auch in der Politik -, dass das auch ein Arbeitsfeld mit Perspektive ist und dass auch eines Tages mal wieder die tagespolitische Konjunktur anders aussehen könnte, und will dann doch die Relevanz wieder stärker erkennen.
von Billerbeck: Das ist jetzt mit Sicherheit geschehen, wenn wir nur Richtung Ukraine gucken oder auch die Auseinandersetzungen, die bestehen im Verhältnis zwischen Russland, Europa und den USA. Gwendolyn Sasse war das, wissenschaftliche Direktorin des Zentrums für Osteuropa und internationale Studien. Ich wünsche Ihnen und Ihrem Institut alles Gute und danke für das Gespräch!
Sasse: Vielen Dank Ihnen!
Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Deutschlandradio Kultur macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.
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