Nicht nur Schmerz im engeren Sinne
Auf einem neuen Internetportal kann man die Art seiner Schmerzen eingeben. Das soll einerseits helfen, die Schmerzen selbst einschätzen zu können, andererseits auch in der Kommunikation mit dem Arzt übersetzen. Doch die Macher kümmern sich nicht nur um das bloße Schmerzempfinden.
Einen Versuch ist es wert. Ich habe zwar nicht "Rücken" wie viele meiner Freunde. Aber ich habe "Wange" und das schon eine ganze Weile. Ein dumpfer Schmerz, der von der rechten Gesichtshälfte in die Schulter und den Arm ausstrahlt. Nicht stark, aber lästig. Und trotz Kernspin, Ultraschall und Nervenwasser-Untersuchung konnte mir bisher niemand erklären, woher der Schmerz kommt. Es sei quasi ein Phantom-Schmerz, hieß es, ungreifbar und schwer in Worte zu fassen. Ganz typisch sei das für Menschen mit chronischen Schmerzen, sagt der Präsident der Deutschen Schmerzliga, Dr. Michael Überall.
"Anders als bei Erkrankungen, bei denen man irgendetwas messen kann, wie beim Blutdruck zum Beispiel oder bei der Zucker-Erkrankung, muss der Arzt sich hier auf die Beschreibungen des Patienten verlassen – aber auch verlassen können. Und er muss auch die verschiedenen Facetten der chronischen Schmerz-Erkrankung erkennen können."
Facetten, die ich mit Hilfe der neuen Online-Plattform mein-schmerz.de Schritt für Schritt erfassen kann, um mich auf den nächsten Arztbesuch besser vorzubereiten. Die Website begrüßt mich mit einer Reihe von Zitaten wie "Schmerz ist die Krönung subjektiver Wahrnehmung".
Ziehend, quälend, stechend?
Nach der Eingabe von Alter, Geschlecht und Körpergröße werde ich aufgefordert, in ein Körperschema einzuzeichnen, wo es mir wehtut.
"Wählen Sie das Stift-Symbol und markieren Sie mit der Maus oder ihrem touchfähigen Stift oder ihrem Finger die gewünschten Stellen."
Leider merke ich zu spät, dass man die Stärke des Strichs verstellen kann und mit Farbabstufungen die Heftigkeit der Schmerzen anzeigen soll. Jetzt bin ich schon weiter im Fragebogen und habe mein leichtes Druckgefühl im Gesicht mit Alarmstufe rot markiert. Hoffentlich kann ich das ausgleichen, indem ich die Begriffe ankreuze, die mein Schmerzempfinden am besten beschreiben: ziehend, quälend, stechend, lähmend oder reißend.
"Schmerzen haben viele verschiedene Ursachen. Und da muss man, um ein besseres Verständnis vom Arzt zu erzielen, sich vorher genau Gedanken machen."
Bärbel van Severen leitet eine Selbsthilfegruppe der Deutschen Schmerzliga.
"Wo ist er? Wann tritt er auf? Bei welchen Gelegenheiten: früh mehr? abends mehr? Welche Körperregion? Gibt es Sachen, die den Schmerz verstärken oder verringern? Wenn man das alles aufschreibt, kurz und bündig, so dass es für den Arzt auch kurz, übersichtlich zu übersehen ist, dazu ist dieser Fragebogen da."
Aber das System kann noch mehr als diese Werte festzuhalten.
Dr. Michael Überall: "Es interpretiert die Werte des Patienten, und es gibt dem Patienten nicht nur die Antwort 'Kreuzchen hier oder da', sondern: das bedeutet für dich: Du bist genauso wie die deutsche Norm in deinem Alter, reg dich also nicht auf, das passt soweit alles, oder: Du bist auffällig oder du bist sogar besser als die deutsche Norm. Und daraus können Arzt und Patienten auch neue therapeutische Strategien entwickeln, weil sie Ressourcen entdecken, auf die man aufbauen kann, und weil sie auf der anderen Seite vielleicht auch Defizite erkennen, die man gezielt adressieren muss – vielleicht nicht mit Medikamenten, sondern mit therapeutischer Zuwendung, mit Gesprächsleistungen und ähnlichem."
Patienten ermutigen, aktiv zu werden
Dabei geht es nicht nur um Schmerz im engeren Sinne. Ich soll auch angeben, wie ich mich in den letzten Tagen gefühlt habe.
Sprecherin: "Ich fand es schwer, mich zu beruhigen." – "Ich fühlte mich grundlos ängstlich." - "Ich hatte das Gefühl, dass ich mich auf nichts mehr freuen konnte."
Das System berechnet daraus, ob ich unter Stress leide oder zu Angst-Störungen oder Depressionen neige – Aspekte, die in der Schmerztherapie oft vernachlässigt werden, sagt Michael Überall.
"Und das ist genau der Punkt: Diese speziellen Instrumente gehen eben nicht nur ein auf: Wie stark ist der Schmerz? Und: Wie viel Stunden am Tag bist du betroffen? Sondern: Was macht dieser Schmerz eigentlich mit dir? Was kannst du nicht mehr tun? Oder: Was kannst du noch tun? Inwieweit hast du dich ergeben? Nimmst du das Schicksal hin oder gestaltest noch selbst?"
Die Initiatoren der Online-Plattform möchten Patienten ermutigen, aktiv zu werden und mit ihrem Arzt auf Augenhöhe über eine individuelle Therapie zu sprechen.
Bärbel van Severen, Selbsthilfegruppe Deutsche Schmerzliga: "Ich habe so lange Ärzte gesucht, bis ich das Gefühl hatte, dass die mich ernst nehmen, so wie ich bin, und mich nicht von oben herab behandeln. Dieser Kittel in Weiß, dass er sich aufspielt, ich bin Krankenschwester, habe so einige lateinische Begriffe, die mir einfach geläufig sind, die habe ich in meiner eigenen Krankheits-Schilderung auch verwendet, wo ich dann wirklich erstaunte Blicke oder abschätzige Blicke geerntet habe: 'Ja, können Sie das nochmal auf Deutsch wiederholen?!' – Das ist sehr unangenehm, und da geht man dann nicht wieder hin. Ich komme hin, weil ich ein Problem habe, Schmerzen sind auf die Dauer ein Riesenproblem. Wenn man dann sich so abgewiesen fühlt, dann geht man, nee – der Nächste, bitte!"
Therapieverlauf über einen längeren Zeitraum dokumentieren
Digitale Instrumente, mit denen jeder mehr Verantwortung für seine Gesundheit übernehmen kann, sogenannte Medizin- und Gesundheits-Apps, werden allerdings seit Kurzem auch kritisch diskutiert. Im April 2016 ergab eine vom Bundesgesundheitsministerium geförderte Studie, dass viele der über 100.000 Apps deutsche Datenschutz-Bestimmungen nicht einhalten. Diese Entwicklung beobachtet auch Michael Überall mit Sorge.
"Sobald diese Instrumente eine Eigendynamik entwickeln, wenn sie anfangen, kritische Bereiche zu fokussieren, Patienten zu selektieren: Er hat Auffälligkeiten hier, dann könnten wir unter Umständen den Krankenkassenbeitrag ein bisschen erhöhen, weil der höhere Risiken hat, oder: Er hat weniger Auffälligkeiten, dann reduzieren wir z.B. den Beitrag, immer dann wird es kritisch."
Auf mein-schmerz.de kann man sich kostenlos anmelden, um seinen Therapieverlauf über einen längeren Zeitraum zu dokumentieren. Allerdings stelle ich damit meine Daten anonymisiert einem Register für medizinische Forschung zur Verfügung.
Wer das nicht will, der kann das Angebot auch ohne Anmeldung nutzen. Dann werden alle Angaben nach dem Besuch der Seite wieder gelöscht, und der Fragebogen dient allein dazu, meine Schmerzen besser beschreibbar zu machen.