Neues Kino im Baltikum

Von Miriam Rossius |
Das Baltic Film Festival ist eine der seltenen Gelegenheiten, hierzulande überhaupt Filme aus Estland, Lettland und Litauen zu sehen. Auf dem Festival werden mehr als 40 Produktionen aus den Bereichen Spielfilm, Dokumentation, Animation und Kurzfilm gezeigt.
Das Filmmuseum von Riga. Vier Räume im Keller eines bescheidenen zweistöckigen Gebäudes, das längst einen Anstrich verdient hätte. 16 Jahre nach der wiedererlangten lettischen Unabhängigkeit zeigt dieser Ort, was hätte sein können: Produktionen von mitunter verblüffend moderner Ästhetik und mutiger politischer Ausrichtung. Vor 35 Jahren wären sie vielleicht imstande gewesen, das lettische Kino zu revolutionieren. Doch unter sowjetischer Herrschaft waren die Werke allesamt verboten. Ans Licht geholt wurden sie nun unter noch immer widrigen Umständen.
Ilze Gailite Holmberg, Leiterin des Nationalen Film Centers:

"Russland erlaubt nicht, dass auch nur ein Filmnegativ aus Sowjetzeiten die Archive verlässt. Für jede Kopie, die wir machen wollen, müssen wir also nach Moskau fahren und dort viel Geld bezahlen."

Lettland sucht seine Identität und erhebt damit auch Anspruch auf die eigene Filmkunst, deren komplette Infrastruktur 1991 praktisch zusammenbrach.

"Die Studios in Riga gehörten zu den wichtigsten und einflussreichsten Produktionsstätten der Sowjetunion. Als die unterging, war die Zensur vorbei, aber es floss auch kein Geld mehr aus Moskau. Viele Filmleute gaben ihren Beruf auf. In den 90ern entstanden vielleicht ein, zwei Spielfilme pro Jahr. Doch seit 2004 geht es bergauf."

Nachdem die Branche jahrelang komplett auf staatliche Zuwendung verzichten musste, ist nun ein Gesetz zur Filmförderung in Arbeit. Baltische Regisseure sind inzwischen gern gesehene Gäste auf internationalem Parkett, bestes Beispiel: Laila Pakalnina. Ihr Film "The Hostage", Die Geisel, eröffnet das Baltic Fim Festival in Berlin.

Ausnahmezustand in Riga, ein entführtes Flugzeug ist gelandet. Der Entführer und ein Junge, der sich freiwillig als Geisel gemeldet hat, stellen seltsame Forderungen ...

Sie wollen lettische Schokolade; die Behörden sollen mit den besten Chören des Landes einen Gesangswettbewerb veranstalten, außerdem ein Biathlon-Turnier. Mit folkloristischen Motiven, die ironisch gebrochen werden, in bunter Bildsprache und mit teils grotesken Actionelementen zeichnet die 45-jährige Regisseurin ein Bild der lettischen Gegenwart.

"Jede Nation möchte doch auf sich stolz sein. Wir sind zum Beispiel sehr stolz auf unser traditionelles Liederfest, auch wenn ich das irgendwie ins Lächerliche ziehe. Und der Biathlet im Film – mit ihm haben wir bei den Olympischen Spielen mitgefiebert. Er ist für alle Letten ein Held. Aber wir haben ein Problem: Die Leute wandern aus, am liebsten nach Irland. Als wir diesen Biathleten anriefen, war er in Irland und hat Autos gewaschen. Von seinem Lohn hier konnte er die Familie nicht ernähren."

Was ist lettisch? Das zu entdecken lädt auch "The Dark Deer" ein, eine Geschichte über die 17-jährige Ria und ihre Familie, die Rentiere züchtet und dunkle Schatten der Vergangenheit totschweigt.

Ein fünfminütiger Animationsfilm durchschreitet 1000 Jahre Besatzungsgeschichte im Zeitraffer. – Und ihre aktuellen Folgen greift die brisante Arbeit "Us And Them" auf.

"Us And Them" / "Wir und sie" beschäftigt sich als erster baltischer Dokumentarfilm mit der starken russischen Minderheit in Lettland. Die junge Republik ist eine geteilte Nation: Von 2,3 Millionen Einwohnern sind fast eine Million russsicher Abstammung.

Wie sehr das Verhältnis zwischen ehemaligen Besatzern und Besetzten die Menschen bewegt, lässt auch eine Dokumentation über Andrei Sakharov erahnen, Schöpfer der sowjetischen Wasserstoffbombe, Dissident, Friedensnobelpreisträger. 1989 hielt er im sowjetischen Kongress ein eindringliches Plädoyer für Menschenrechte und radikale Reformen. Schließlich ließ Gorbatschow das Mikrofon abschalten.

Irina Kolmanes Film "My Husband Andrei Sakharov" entstand in ausführlichen Interviews mit Sakharovs Witwe Yelena Bonner und mit einmaligem Material aus den Archiven des KGB. Das lettische Publikum bedankte sich mit ausverkauften Vorstellungen. Die russischen Reaktionen waren geteilt.

"Überraschenderweise wurde der Film auf ein kleines Festival nach Russland eingeladen. Nach der Vorstellung gab es einige Bravo-Rufe im Publikum, andere Zuschauer beschwerten sich, dass Yelena Bonner die ganze Zeit raucht und unangenehme Dinge über Gorbatschow sagt. Sie warfen mir vor ich sei unprofessionell, weil ich diese Szenen nicht herausgeschnitten habe."

Viele Produktionen beim Baltic Film Festival loten Chancen und Probleme der Zivilgesellschaft aus. Doch es geht auch ohne Politik. Wie in dem Kung-Fu-Märchen "Jade Warrior", Jade-Krieger. Seine Entstehung hat etwas Visionäres für das baltische Kino: "Jade Warrior" ist eine estnisch-finnisch-niederländisch-chinesische Koproduktion.