"Mischung von Wahrheit und Fiktion"
Das neue Album "Die Unendlichkeit" von Tocotronic ist eine Art musikalischer Autobiografie. Im Gespräch erklärt Sänger Dirk von Lowtzow, was ihm autobiografisches Schreiben bedeutet, und was gute Popmusik ausmacht.
Als Tocotronic ihr Album produzierten, hatten sie ein Motto, erzählt von Lowtzow: "Ich erzähle dir alles und alles ist wahr." Eine Textzeile, die auch in dem Song "Electric Guitar" auftaucht:
Das Motto stimme auch zum größten Teil, sagt Lowtzow. Dennoch müsse man "einen gewissen Spielraum lassen, um verschiedene Deutungen zulassen zu können". Wahrhaftigkeit entstehe manchmal auch, ohne Fakten oder authentisch Erlebtes erzählen zu müssen:
"Ich glaube, diese Mischung zwischen Wahrheit und Fiktion ist es im Grunde, was ein autobiografisches Schreiben erst reizvoll macht."
"Ethnologe seiner selbst"
Dabei werde man zum "Ethnologen seiner selbst", sagt von Lowtzow - doch gleichzeitig entstehe unwillkürlich ein Porträt der Gesellschaft jener Zeit, über die man schreibe:
"Und so, glaube ich, kann auch eine Verwischung der ohnehin schon konstruierten Grenzen zwischen Privatem und Politischem passieren. Das wiederum (...) hebt das autobiografische Schreiben vom reinen Narzissmus oder vom Selfie oder von der reinen Selbstbespiegelung ab. Das wäre zumindest unsere Hoffnung als Band."
Eine "große Schönheit" autobiografischen Schreibens liege auch darin, dass man in einen Dialog mit den Lesern oder Hörern trete - "dass sie etwas dazu beitragen, nämlich indem sie ihre eigenen Erinnerungen auf die Lieder oder auf das Geschriebene projizieren":
"So (...) entsteht Popmusik überhaupt und wird sie erst zu dem Ding, was Popmusik ausmacht und auch so besonders macht. Aber ich bin schon der Meinung, dass man mit diesen Ingredienzien, die so ganz bewusst Erinnerungen antriggern, muss man sehr sparsam umgehen, sonst überwürzt man das."
(bth)
Das Interview im Wortlaut:
Liane von Billerbeck: "Electric Guitar" war das, ein Song vom neuen Album von Tocotronic, das Ende der Woche erscheint und schon vorab von der Musikkritik gefeiert wurde. Dirk von Lowtzow ist deren Sänger. Die Band wurde ja 1993 gegründet und ist immer mit dem Label Hamburger Schule verbunden. Von Lowtzow hat auch schon fürs Theater gearbeitet, zusammen mit René Pollesch an der noch Castorfschen Volksbühne. Aber zurück vom Theater zur Musik, darum geht es ja heute, um das neue, um das zwölfte Album von Tocotronic. Herr von Lowtzow, ich grüße Sie!
Dirk von Lowtzow: Ich grüße zurück, hallo!
von Billerbeck: Ihr neues Album heißt "Die Unendlichkeit", und das ist eine Art musikalische Autobiografie, und da fragt man natürlich sofort, wie viel Erlebtes ist denn drin, und wie viel ist gelogen?
von Lowtzow: Das kann ich jetzt natürlich nicht aufdröseln, weil sonst nehme ich so ein bisschen den Zauber und die Spannung da raus. Aber wir haben schon, als wir das Album produziert und ausformuliert, geschrieben haben, die Maxime gehabt, wie sie bei dem Stück "Electric Guitar" auch vorkommt, "ich erzähle dir alles, und alles ist wahr". Es ist schon alles von der erlebten Biografie beeinflusst, und zum größten Teil, würde ich sagen, auch wahr. Aber natürlich muss man so einen gewissen Spielraum lassen, um verschiedene Deutungen zuzulassen, zulassen zu können.
von Billerbeck: Wahr im Sinne von Vladimir Nabokov, auf dessen Autobiografie Sie ja mal in einem Interview hingewiesen haben, die ja bekanntlich auch erstunken und erlogen war, und trotzdem wahr. Ist das diese Art von Kunst, die Sie auch mit dieser neuen Platte gemacht haben?
von Lowtzow: Ja. Das ist ein sehr schönes Beispiel, weil man eben manchmal zu einer Form von Wahrhaftigkeit gelangt, ohne jetzt Fakten oder authentisch erlebte Dinge erzählen zu müssen. Ich glaube, diese Mischung zwischen Wahrheit und Fiktion ist es im Grunde, was ein autobiografisches Schreiben überhaupt erst reizvoll macht.
Konstruierte Grenzen zwischen Privatem und Politischem
von Billerbeck: Aber autobiografisches Arbeiten, das ist auch ziemlich narzisstisch. Wenn wir uns unsere Gegenwart angucken, dann sind ja Selbstinszenierungen in Zeiten von Instagram und Selfies eine Art Massenphänomen. Was steckt denn Ihrer Ansicht nach dahinter, woher kommt sie, diese große Lust an dem Sich-selbst-Darstellen, Sich-selbst-Inszenieren?
von Lowtzow: Ich glaube, wenn man autobiografisch schreibt, wird man in gewisser Hinsicht zum Ethnologen seiner selbst. Das ist eine Bezeichnung, die die französische Schriftstellerin Annie Ernaux für ihr Arbeiten, für ihr autobiografisches Schreiben gefunden hat. Und ich glaube, in dieser Feldforschung oder wie man es nennen mag, passiert etwas, das ganz unwillkürlich auch ein Porträt der Gesellschaft mit entsteht, in der man sich zu der Zeit, von der das, was man schreibt, handelt, bewegt hat.
Und so, glaube ich, kann auch eine Verwischung der ohnehin schon konstruierten Grenzen zwischen Privatem und Politischem passieren. Und das wiederum, würde ich sagen, hebt das autobiografische Schreiben vom reinen Narzissmus oder vom Selfie oder von der reinen Selbstbespiegelung ab. Das wäre zumindest unsere Hoffnung als Band.
von Billerbeck: Aber man macht sich ja mit diesem autobiografischen Arbeiten möglicherweise auch ganz schön nackig. Wann war denn der Punkt, wo Sie gesagt haben, also das müssen wirklich nicht alle erfahren, und den Song oder diese Geschichte, die lassen wir lieber weg?
von Lowtzow: Ich finde, Diskretion ist bei diesem autobiografischen Schreiben sehr wichtig.
von Billerbeck: Sie sind Hamburger, klar.
von Lowtzow: Ich bin kein Hamburger, ich bin Süddeutscher, ich komme aus Offenburg.
Nackt, angreifbar, entblätternd
von Billerbeck: Das war ein Witz …
von Lowtzow: Ich finde, Diskretion und Selbstzensur ist sehr wichtig. Wir haben für das Album sehr viele Stücke geschrieben und auch gegenseitig lektoriert. Es gibt ja den schönen Satz, wenn man von Menschen zugetextet wird, dass man denkt, das ist jetzt too much information. Und das wollten wir natürlich vermeiden. Aber in gewisser Hinsicht nackt oder angreifbar oder entblätternd, das macht man natürlich, und das ist auch der Sinn der Sache.
von Billerbeck: Auf dem Album geht es ja auch um Musik als Teil Ihrer Sozialisation, auch in dem Song, den wir gerade gehört haben. Inzwischen ist ja Ihre Musik, die von Tocotronic also, Teil der Sozialisation derjenigen, die heute so um die 40 sind. Macht man sich das als Musiker bewusst, und spielt man da auch damit, dass man dann zum Beispiel Ereignisse oder Dinge, die es damals gegeben hat, in diese Songs reinpackt, dass die Leute dann sagen, ah, stimmt, erinnere ich mich, kenne ich, war so?
von Lowtzow: Ich persönlich finde, eine große Schönheit im autobiografischen Schreiben liegt darin, dass man in Dialog mit den Lesern oder in unserem Fall Hörerinnen und Hörer treten kann, dass sie etwas dazu beitragen, nämlich indem sie ihre eigenen Erinnerungen auf die Lieder oder auf das Geschriebene projizieren.
Und so, glaube ich, entsteht Popmusik überhaupt und wird sie überhaupt erst zu dem Ding, was Popmusik ausmacht und auch so besonders macht. Aber ich bin schon der Meinung, dass man mit diesen Ingredienzien, die so ganz bewusst Erinnerungen antriggern, sehr sparsam umgehen muss. Sonst überwürzt man das, und ich kann nur hoffen, das uns das gelungen ist.
von Billerbeck: Sie und auch Ihre Band haben sich immer wieder auch öffentlich politisch geäußert, in letzter Zeit vor allem über das Thema Migration und Flüchtlinge. Ihre Texte allerdings, die waren und sind eher bewusst explizit unpolitisch, könnte man sagen. Und Sie haben sich da in einem Interview mal auf den französischen Philosophen Jacques Rancière berufen. Der hat nämlich "Madame Bovary", den Roman, als "das wahrscheinlich politischste Buch schlechthin" bezeichnet. Ist diese Art der Absichtslosigkeit auch das Politische bei Tocotronic?
Je weniger Intention, desto mehr Wahrhaftigkeit
von Lowtzow: "Absichtslos" gefällt mir sehr gut als Wort, weil ich glaube, je weniger Intention man in das Schreiben oder Musizieren legt, desto mehr – wir sprachen vorhin davon – Wahrhaftigkeit kommt unmittelbar zutage. Zum ersten Teil der Frage würde ich schon widersprechen wollen, weil es sehr viele Stücke von uns gibt, die sich sehr explizit politisch äußern.
Wir hatten auf dem letzten Album, das hieß "Solidarität", und auch auf dem neuen Album gibt es sehr viele politische Momente. Es gibt den Satz "Wir verwischen die Spuren" in dem Song "Mein Morgen", der sich auf Berthold Brecht bezieht und sein Gedicht. Und das finde ich gerade in der heutigen Zeit einen sehr wichtigen, wenn nicht gar einen der wichtigsten Sätze, den man sozusagen der allgegenwärtigen Absaugung der gesamten Existenz entgegensetzen kann.
von Billerbeck: Wir hatten es schon gesagt, dass das Album eine Art musikalische Autobiografie ist, und die endet mit einem Song, und der hat den Titel "Alles, was ich immer wollte, war alles". Wie weit sind Sie denn mit der Erfüllung des Wunsches nach allem gekommen?
von Lowtzow: Glücklicherweise noch nicht sehr weit, weil sonst würde es die Band, glaube ich, nicht geben. Wenn man in völliger Zufriedenheit und im Einklang mit sich selbst in einem Alles-in-allem leben würde, dann, glaube ich, hätte man keine weiteren Wünsche mehr. Besser gesagt, dieses Niemals-zufrieden-sein, das lässt einen natürlich weitermachen.
von Billerbeck: Dirk von Lowtzow, Musiker von Tocotronic. Das neue, zwölfte Album der Band erscheint diese Woche, vorab schon euphorisch gefeiert von der Musikkritik. Wir danken für das Interview, das wir aufzeichnen mussten, weil die Schlange von Interviewern doch sehr lang gewesen ist.
Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Deutschlandradio Kultur macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.
Im Interview mit der Sendung "Tonart" haben Sänger Dirk von Lowtzow und Schlagzeuger Arne Zank Einblicke in den Produktionsprozess ihres neuen Albums gegeben. Auf die Idee, die Platte als "autobiografische Narration" anzulegen, sei der Produzent Moses Schneider gekommen.