Neues Zuhause. Geschichten vom Ankommen

"Im Flüchtlingsheim fühle ich mich heimisch"

Der Religionswissenschaftler Ahmad Milad Karimi
Der Religionswissenschaftler Ahmad Milad Karimi © Deutschlandradio / Volker Finthammer
Von Volker Finthammer |
Er sei immer noch nicht richtig in Deutschland angekommen, glaubt der Religionswissenschaftler Ahmad Milad Karimi - und das, obwohl er seit 23 Jahren hier lebt. Ein "Urgefühl der Vertrautheit" empfinde er nur in Flüchtlingsheimen.
Die Entscheidung zur Flucht haben seine Eltern getroffen. Milad Karimi war gerade einmal zwölf Jahre alt und ging in die siebte Klasse der deutschen Schule in Kabul, als die Eltern vor dem Hintergrund der Eroberung der Stadt durch die Mudschaheddin Afghanistan verlassen mussten. Der Vater hatte in Deutschland studiert. Von daher lag das Ziel der Flucht auf der Hand. Doch trotz der deutschen Schule konnte Malid Karimi gerade einmal seinen Namen und das Alter in der neuen Sprache sagen. Deutsch hätte er in Kabul erst ab der achten Klasse gelernt.
"Insofern, wenn sie hierher kommen und diese Sprache Sie beherrscht und Sie nicht die Sprache, dann ist das immer ein Stück nicht hier sein ein Stück Abwesenheit von dem Ganzen, was man eigentlich mitbringt."
Mittlerweile lebt Milad Karimi seit 23 Jahren in Deutschland und ist Professor für islamische Theologie an der Universität Münster. Das seine Familie in der Heimat der Bildungsschicht angehörte, hat im Flüchtlingsheim in Darmstadt nicht mehr viel genutzt. Hier war es die ganz praktische Hilfe einer Deutschlehrerin in der Hauptschule, die ihm den Weg in die neue sprachliche Heimat geöffnet hat.
"Und es hat sehr, sehr lange gedauert, bis ich wirklich etwas sagen konnte ohne nachzudenken. Sprechen zu können ohne zunächst einmal grammatikalisch im Kopf durchzuspielen, ob der Satz auch so hinhaut. Das hat vielleicht sechs, sieben Jahre gedauert. Also man ist nie angekommen, wenn man bloß da ist."

Meine Heimat hat mich verraten

Als Philosoph hat Malid Karimi die Sprache zum Beruf gemacht, Gedichtbände veröffentlicht und den Koran in neuer deutscher Übersetzung herausgebracht. Sein autobiografisches Buch "Osama bin Laden schläft bei den Fischen" unternimmt den Versuch, diese verschiedenen kulturellen Welten zusammenzubringen. Wohl auch um sich selbst eine neue Identität zu geben. Denn auf die Frage, ob er sich in Deutschland zuhause fühlt, gibt er auch heute noch keine eindeutige Antwort:
"Wissen Sie, die Flucht hat mich gelehrt, dass ich mich eigentlich nirgendwo zu Hause fühlen darf. Ich war zu Hause. Ich war in Afghanistan. Das war mein Vaterland, mein Mutterland. Und dieses Land, diese Heimat hat mich verraten. Was ist das für eine Heimat, in der ich nicht mehr leben kann, in der ich nicht zu Hause sein darf? Insofern habe ich mir abgewöhnt während der Flucht, nach einen geografischen Ort zu suchen, an dem ich mich zuhause fühle."
Wenn er seiner kleinen Tochter beim Schlafen oder seinem Sohn beim Fußballspielen zuschauen, oder die Gegenwart seiner Frau genießen kann, dann sind das die Augenblicke, in denen er sich wirklich zuhause fühlt, sagt Karimi. Und ob das jetzt in Münster oder sonst wo sei, ist ihm dabei vollkommen egal.
Der Religionswissenschaftler Ahmad Milad Karimi
Der Religionswissenschaftler Ahmad Milad Karimi© Deutschlandradio / Volker Finthammer

"Ich bin noch nicht angekommen"

So wenig das Glück der Familie an einen ganz konkreten Ort gebunden ist, so wenig gibt es auch einen Ort, der für die neue Heimat steht. Ein Zustand, würde der Sache schon viel näher kommen.
"Die Orte, die mir sehr viel bedeuten - und sie werden lachen - das sind Flüchtlingsheime. Wenn ich in einem Flüchtlingsheim heute bin, fühl ich mich heimisch. Das ist so als wäre das ein ganz vertrautes Gefühl. Ein Urgefühl der Vertrautheit."
Malid Karimi hat die große Gabe, all diese Zerrissenheit, all diese ungewissen inneren Zustände in Worte fassen und ihnen eine konkrete Form geben zu können. Er ist ganz gewiss ein kosmopolitischer Ankommender, der in Deutschland zumindest vorübergehend eine neue Heimat gefunden hat, aber ob es dabei bleiben wird, darauf gibt er abermals keine eindeutige Antwort:
"Das kann ich kaum sagen. Ich hoffe schon. Gerade jetzt, weil ich auch Vater geworden bin Kinder habe und denke okay, das könnte hier so etwas wie ein Zuhause, eine Zukunft sein. Aber so, wie ich mich kenne: Ich bin noch nicht angekommen."
Ahmad Milad Karimi, Religionswissenschaftler, 36 Jahre, aus Afghanistan, seit 23 Jahren in Deutschland
Fühlen Sie sich in Deutschland zu Hause?
"Wissen Sie, die flucht hat mich gelehrt, dass ich mich eigentlich nirgendwo zu Hause fühlen darf. Ich war zu Hause. Ich war in Afghanistan. Das war mein Vaterland, mein Mutterland. Und dieses Land, diese Heimat hat mich verraten. Was ist das für eine Heimat, in der ich nicht mehr leben kann, in der ich nicht zu Hause sein darf? Insofern habe ich mir abgewöhnt während der Flucht nach einen geografischen Ort zu suchen, an dem ich mich zuhause fühle. Heute bin ich zuhause, wenn ich meiner kleinen Tochter beim Schlafen zusehe, wenn ich meinem Sohn beim Fußballspielen zuschauen darf, oder die Gegenwart meiner Frau habe. Das sind Augenblicke, in denen ich mich wirklich zuhause fühle. Und ob das jetzt Münster ist, Deutschland ist oder sonst wo, das ist mir eigentlich vollkommen egal."
Wie lange hat es gedauert in Deutschland anzukommen?
"Also ganz ehrlich, erst nachdem ich Goethes Faust gelesen habe. Ich wusste, dass wir in der 13. Klasse in der Schule Goethes Faust lesen. Und aufgrund der Sprache dachte ich, ich fang damit schon einmal im Sommer an und habe mir in den Sommerferien Faust geholt. Und in der Mitte des Buches habe ich kein Wörterbuch mehr gebraucht. Ich las und ich verstand, was da vor sich geht und ich habe mich verliebt in Faust, in Goethe und in die deutsche Sprache."
Hat die neue Heimat Sie verändert?
"Deutschland hat mich unheimlich geprägt, aber auch die Fluchtgeschichte, weil ich dort auch einsehen konnte, dass vieles nicht wert war, wonach ich eigentlich trachten wollte, als ich noch in Afghanistan war. Und meine Antwort, die mir diese Flucht geschenkt hat war: Nicht etwas, was man so einfach verlieren kann. Also nichts Materielles. Ich bin immer noch auf der Suche. Derjenige, der alles infrage stellt, jeden Tag erneut. Der glaubt, um dem sein Glaube nichts anderes bedeutet als mit Gott zu hadern. Das hätte ich in Kabul glaube ich nicht gehabt. Insofern bin ich sehr dankbar, hier zu sein."
Was ist Ihr Lieblingsort? Wo ist der?
"Die Orte, die mir sehr viel bedeuten - und sie werden lachen - das sind Flüchtlingsheime. Wenn ich in einem Flüchtlingsheim heute bin, fühl ich mich heimisch. Das ist so als wäre das ein ganz vertrautes Gefühl. Ein Urgefühl der Vertrautheit. Irgendwann, als ich Student war und ich in Freiburg gelebt habe, hab ich dann Flüchtlingsheime besucht, um für Kinder dort Kinderbücher zu lesen. Und wissen Sie, ich fühlte mich so gut dort unter ihnen. Es war einfach etwas ganz eigenes und das berührt mich sehr."
Wollen Sie hier alt werden?
"Das kann ich kaum sagen. Ich hoffe schon. Gerade jetzt, weil ich auch Vater geworden bin, Kinder habe und denke okay, das könnte hier so etwas wie ein Zuhause, eine Zukunft sein. Aber so, wie ich mich kenne: Ich bin noch nicht angekommen."