David Lauer ist Philosoph und lehrt an der Christian-Albrechts-Universität zu Kiel. Seine Forschungsschwerpunkte liegen in der Philosophie des Geistes- und der Erkenntnistheorie. Er lebt mit seiner Familie in Berlin.
Neujahr als ewige Wiederkehr
Wie Sisyphos müssen wir immer wieder unsere Felsen den Berg hinaufrollen – ob uns das quält, ist eine Frage von Haltung und Bewusstsein. © Getty Images / akinbostanci
Durchatmen mit Sisyphos
04:52 Minuten
Neujahr als Neustart? Von wegen: Der Jahreswechsel ist nur ein willkürlicher Termin, nach dem alles weitergeht wie vorher – Alltag, Sorgen, Krieg. Um dennoch nicht zu verzweifeln, sollten wir uns ein Beispiel an Sisyphos nehmen.
Neujahr. Echt jetzt? Sind wir schon wieder soweit? Und, Entschuldigung bitte, was ist hier überhaupt neu? Von jeher hat das pompöse Zelebrieren des Jahreswechsels etwas Künstliches. Ohrenbetäubendes Getöse soll uns weismachen, dass mit diesem Einschnitt etwas zu Ende geht und nun – prosit! – etwas ganz Neues beginnt.
Nichts davon stimmt. Das Ganze ist ja nur ein willkürlich gesetzter, vollkommen beliebiger Punkt auf dem endlos sich drehenden Jahreskreis. Wenn der Kater sich verzogen hat, ist alles wieder da: dieselben Sorgen, derselbe Alltag, dieselben Krisen, derselbe Krieg.
Alles geht nur einfach irgendwie weiter oder wiederholt sich stupide von vorn. Well, here we are again: Es ist wie ein ewiges Dinner for One, nur ohne Alkohol und irgendwie nicht lustig. „Must I, Miss Sophie?“, möchte man gen Himmel rufen, aber Gottes Platz an der Tafel ist leer. An seiner statt sitzt dort kichernd eine verschrobene Greisin mit zweifelhaften Absichten.
Warum "Dinner for One" Camus gefallen hätte
Denkt man sich das versöhnliche Ende weg, entpuppt sich Dinner for One als ein existenzialistisches Drama, das Albert Camus hätte gefallen können. Butler James muss seinen Tisch umrunden, Gläser füllen und leeren und am Ende doch unvermeidlich über seinen Tigerkopf stolpern – so wie Sisyphos, der Held von Camus’ epochalem Essay, seinen Felsen bis in alle Ewigkeit einen Hügel hinaufstemmen muss, nur um am Ende zuzusehen, wie er kurz vor dem Ziel wieder hinabrollt. Andererseits endet auch Camus’ „Mythos von Sisyphos“ durchaus hoffnungsvoll, allerdings nicht durch einen versöhnlichen Ausstieg aus dem ewigen Kreislauf. Camus meint, dass es Sisyphos gelingen kann, seine Marter zu durchbrechen, auch ohne ihr zu entfliehen. Wie macht er das?
Schon Aristoteles erkannte, dass jede menschliche Handlung auf ein Ziel ausgerichtet ist. Doch gibt es zwei Arten, wie dies geschehen kann. Manche Handlungen sind auf ein Ziel ausgerichtet, das nicht in ihnen selbst liegt. So gehe ich die Straße hinunter, um Brot zu kaufen. Eine solche Handlung vollendet sich erst an ihrem Ziel- und Endpunkt: wenn ich das Brot in der Hand halte. Führt sie nicht zum Ziel – weil der Bäcker geschlossen ist oder ich mir vorher den Fuß verstauche –, so ist es mir nicht gelungen, zu tun, was ich tun wollte, nämlich Brot kaufen. Mein Gehen war umsonst.
Es gibt jedoch auch eine andere Art von Handlungen. Auch diese Handlungen verfolgen ein Ziel, doch liegt dieses Ziel in ihnen selbst. Ich spaziere die Straße hinunter – einfach um spazieren zu gehen. Das Gehen selbst ist bereits das Ziel. Eine solche Handlung vollendet sich nicht erst an einem bestimmten Ziel- und Endpunkt. Sie trägt ihre Vollendung schon im Verlauf in sich. Ich muss gar nicht irgendwo ankommen, um spazieren gegangen zu sein.
Wie Sisyphos den Fels zu unserer Sache machen
Sisyphos rettet sich, indem er das Rollen des Felsens, das dem Willen der Götter nach eine scheiternde Handlung des ersten Typs sein soll, zu einer gelingenden Handlung des zweiten Typs macht. Darin, so schreibt Camus, besteht sein trotziger Sieg: „Sein Schicksal gehört ihm. Sein Fels ist seine Sache.“ Er macht den Fels zu seiner Sache, indem er die Fesselung an ein finales Ziel aufgibt und sich ganz seinem Tun im Hier und Jetzt verschreibt: „Der Kampf gegen Gipfel vermag ein Menschenherz auszufüllen.“
Diese Haltung gewinnt Sisyphos in der Stunde, in der er den Hügel hinabschreitet, um den Fels an dessen Fuß wieder aufzunehmen – die Stunde, die Camus „ein Aufatmen“ nennt und „die Stunde des Bewusstseins“. Und vielleicht ist der Jahreswechsel eben das: Nicht ein Ende, nicht ein Anfang, sondern eine Stunde des Luftholens – bevor wir weitermachen, mit den Sachen, die wir zu den unsrigen gemacht haben. Die unser Herz ausfüllen, hier und jetzt. Es geht weiter. Wir müssen uns James als einen glücklichen Menschen vorstellen.