neunzehn fünfundvierzig - Flucht und Vertreibung (2)

Vor 60 Jahren wurden die letzten Schlachten des Zweiten Weltkrieges geschlagen. Die Eroberung Deutschlands durch Alliierten ist in vollem Gange. Im Osten stehen sowjetische Truppen vor Danzig und Königsberg. Millionen Deutsche sind auf der Flucht nach Westen.
"Über die Nehrung strömten unbewaffnete und abgerissene Uniformen tragende deutsche Soldaten."

Katharina Hoesch erinnert sich an die letzten Tage im Januar 1945, als sich die Front ihrem Heimatort Rossitten an der Kurischen Nehrung in Ostpreußen nähert.

"Im Walde lagen weggeworfene Waffen und Munition. "Feiglinge", wurden diese Soldaten von meinem Vater beschimpft. "Der Krieg ist für uns aus", bekam er zur Antwort, "seit 1939 haben wir umsonst gekämpft. Unsere Familien, unsere Häuser sind im Bombenhagel untergegangen. Wofür sollen wir noch kämpfen?". Feldpolizei wurde in Rossitten stationiert. Sie versuchte, die Flüchtenden aufzuhalten."

Der Krieg ist längst verloren. Viele Soldaten wissen das; manche versuchen, sich abzusetzen, wenn sie auf dem Rückzug in die Nähe ihrer Heimatorte kommen.

Christel Boruzki will sich im März 1945 von ihrer schwer zerstörten Heimatstadt Danzig aus in Richtung Westen einschiffen. Sie notiert später:

"Am Olivaer Tor baumelten 7 Leichen. Darunter ein 17jähriger Mensch mit dem Schild: "Vor dem Feinde gewichen." Voller Grauen wandten wir uns ab."

Günter Brandenburg aus der Nähe von Schwedt weiß noch, dass in den letzten Januartagen in seinem Dorf SS-Kommandos aufgetaucht sind, auf der Suche nach Deserteuren. Er beobachtet während der Flucht über die Oder:

"An jedem Brückenbogen hingen strangulierte Soldaten und blutige Menschen in Arbeitsdienst-Uniformen. Ihre Köpfe waren seitwärts geneigt und die Gesichter blauschwarz. An Stricken baumelten ihre leblosen Körper im Wind."

Die Vertreter des Regimes, die Amtswalter der NSDAP, die Ortsgruppenleiter und Bürgermeister haben die Bevölkerung bis zum letzten Moment im Griff. So erinnert sich Ida Helene Ulm aus Reesewitz bei Breslau:

"Als Opa mit seinem Wagen losfahren wollte, kam der Bürgermeister und holte den 58jährigen Mann mit Drohungen vom Wagen. Er sagte, er müsse da bleiben und im Volkssturm gegen die Russen kämpfen. Dem Opa liefen die Tränen, als er allein zurückbleiben musste und nicht mitfahren durfte. Der Abschied von seiner kranken Frau und von seinem Gespann war erschütternd."

Günther Schulz aus Pollenzig, östlich von Guben, seinerzeit zehn Jahre alt:

"Dann kam ein deutscher Offizier und hat dann nur noch gesagt, dass Polenzig beziehungsweise die Oder zur Hauptkampflinie erklärt wurden. Kaum eine halbe Stunde später, da fährt der Ortsbauernführer mit seinem Pferd und Wagen schon fort über die Oder, obwohl sie vor einer Stunde gesagt hatten: Wir bleiben alle hier."

Irmgard Baumgarten aus Braunsberg in Ostpreußen erinnert sich an die abendlichen Lautsprecher-Durchsagen des NSDAP-Kreisleiters.

"Der Kreisleiter versicherte: Volksgenossen und Volksgenossinnen! Die militärische Lage ist nicht so, dass Grund zur Aufregung besteht. Bewahrt weiterhin Ruhe - hört nicht auf wilde Gerüchte! Er schloss seine Sendungen immer mit "Heil Hitler!" Eines Abends sagte er ganz einfach: "Gute Nacht!". Da wussten wir, was die Glocke geschlagen hatte."

Marie Schlottke aus Schöneberg an der Weichsel registriert um den 19. Januar den nahenden Geschützdonner.

Als besonders lächerlich kam mir vor, dass von Danzig her noch ein Parteiredner geschickt wurde, der von Tiegenhof mit Pferden abgeholt werden sollte, der vereisten Straßen wegen, und der eine Versammlung abhalten sollte, sozusagen als Vorfeier für Hitlers Geburtstag.