Sieglinde Geisel, 1965 im schweizerischen Rüti/ZH geboren. Sie arbeitet für verschiedene Medien als Literaturkritikerin, Essayistin und Reporterin und betreibt das Blog "tell review - literatur und zeitgenossenschaft". Buchpublikationen: "Irrfahrer und Weltenbummler. Wie das Reisen uns verändert" (2008) und "Nur im Weltall ist es wirklich still. Vom Lärm und der Sehnsucht nach Stille" (2010).
Auch Intellektuelle wollen auf einmal Dinge "sagen dürfen"
Intellektuelle Redlichkeit fordert, zwischen Gefühlen und Gedanken zu unterscheiden, zwischen Klischees und Fakten. Das sind die Prämissen der Aufklärung. Darf sich, wer sie verrät, noch zu den Intellektuellen zählen, fragt die Kolumnistin Sieglinde Geisel.
Wir leben in einer Zeit des Umbruchs. Was gestern selbstverständlich war, gilt heute nicht mehr, und was morgen sein wird, weiß erst recht niemand. Zeiten des Umbruchs sind Zeiten des Unbehagens, und Zeiten des Unbehagens sind Zeiten der Narrative.
Es ist kein Zufall, dass dieser literaturwissenschaftliche Begriff in unseren Alltag Eingang gefunden hat. Narrative sollen unsere Zeit wieder deutbar machen. Deshalb haben vor allem jene Geschichten Konjunktur, die sagen, wie’s ist, auch wenn sie nicht stimmen. Motive sind glaubwürdiger als Fakten, und große Worte wirken auch ohne Inhalt.
"Elite", "Populisten", "identitäre Politik", "Leitmedien" – solche Begriffe kosten nichts, denn sie sind unscharf. Nie ist ganz klar, von wem die Rede ist, deshalb ist es auch so schwer, einen Dialog darüber zu führen.
Als "rechts" will sich niemand bekennen
Nicht nur auf Facebook. Neuerdings ist es auch unter Intellektuellen Mode geworden, sich in rechte Posen zu werfen und Gefühle zu äußern, von denen es gern heißt, man müsse sie ernst nehmen. Bei jeder Frau, die ihr "kopftuchbewehrt" entgegenkomme, frage sie sich: "Was willst du mir damit sagen? Dass du anders bist als ich? Dass du besser bist als ich? Dass meine Enkeltochter eines Tages auch so rumlaufen wird?". Monika Maron schreibt das, und die "Neue Zürcher Zeitung" druckt es. Sie gehöre zu denen, "die neuerdings als rechts bezeichnet werden", sagt Maron. So stehe es jedenfalls in den Zeitungen.
Rechts genannt werden, das will niemand. Der Historiker Jörg Baberowski hat (zunächst)* erfolgreich dagegen geklagt, als rechtsradikal bezeichnet zu werden.
Wo Widerspruch zur "Atmosphäre der Zensur" stilisiert wird
Auch Intellektuelle wollen auf einmal Dinge "sagen dürfen". Wenn sie es tun, sagen sie dazu meist, sie dürften es nicht sagen, obwohl man ihnen in den angesehensten Feuilletons dafür Platz einräumt. Niemand übt Zensur. Es sei eine Atmosphäre der Zensur, präzisierte Jörg Baberowski vor einiger Zeit in der FAZ.
Sagen lässt man sie es schon. Doch sie sind beleidigt, dass man ihnen anschließend die Zustimmung verwehrt. Und wer weiß, ob sie sich danach noch blicken lassen können.
Die neurechten Intellektuellen wollen weiter zu der Elite gehören, die sie denunzieren. Sie kokettieren damit, dass in diesen Kreisen rechts sein uncool ist. Statt über die Lösung der weltweiten Migrationsprobleme nachzudenken, widmen sie sich dem Elitenbashing, als wäre das linksliberale Milieu schuld an Flucht und Auswanderung.
Statt die neuen Identitätsgefühle zu hinterfragen, stimmen sie ein in das neue Wir, den vermeintlich authentischen Volkswillen. Vorderhand sind es noch Strohfeuerchen, wenn auch beunruhigende. Ein Buch aus einem rechtsextremen Verlag auf der Bestenliste der SZ und des NDR? Ein schwulenfeindlicher Gastkommentar zur "Ehe für alle" in der FAZ? Entgleisung oder Trend?
Geistiger Verrat an den Prinzipien der Aufklärung
Was bedeutet es, wenn Intellektuelle Intellektuelle Intellektuelle schimpfen? Das lateinische Wort "intellegere" heißt verstehen. Ein Intellektueller ist jemand, der sich dem Geschäft des Nachdenkens, Analysierens, Hinterfragens widmet. Intellektuelle Redlichkeit fordert, zwischen Gefühlen und Gedanken zu unterscheiden, zwischen Klischees und Fakten. Das sind die Prämissen der Aufklärung. Darf sich, wer sie verrät, noch zu den Intellektuellen zählen?
* Der Historiker Jörg Baberwoski hat in zweiter Instanz seinen Antrag zurückgezogen, nicht als "rechtsradikal" bezeichnet werden zu dürfen. Dies war in einer ersten Fassung des Textes missverständlich formuliert.