Neurodivergenz

Zwischen Trend und Reform der Psychologie

29:48 Minuten
Illustration mehrerer Köpfe, die verschieden gefüllt sind: mit abstrakten Formen, parallelen Linien oder Wolken und Sternen.
Was ist eigentlich normal? Neurodivergenz ist ein Konzept für alle Menschen, die außerhalb der neurotypischen Norm stehen. © Getty Images / iStockphoto / VectorMine
Von Carina Schroeder |
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Autismus, ADHS, Zwangsstörungen. Wenn neurobiologische Unterschiede als Dispositionen unter anderen betrachtet werden, sind diese Phänomene Bestandteile menschlicher Vielfalt und keine „Krankheiten“. Was kann das Konzept der Neurodivergenz bewirken? (Erstsendung 2. 2. 2023)
Vor ein paar Jahren haben zwei Freundinnen und ich eine Schnitzeljagd organisiert. Gemeinsame Erinnerungen wurden in kleine Rätsel verpackt. Die wiederum musste der andere Teil der Clique lösen. Das große Finale: ein Festmahl.
Hierfür habe ich mich in der Küche meiner Freundin verschanzt. Während die anderen noch die Aufgaben lösten, schrubbte ich. Eine fremde Küche. Ich kann einfach nicht kochen, wenn es unordentlich ist.

Bin ich anders oder ist das normal?

Routinen sind mir wichtig. Wenn die jemand stört, bin ich innerlich durcheinander und manchmal äußerlich aufgebracht. Viele Menschen an einem Ort machen mich nervös, genauso wie viele Geräusche. Mein Kopf hingegen ist quasi niemals still, die Gedanken rasen nur so durch. Die Liste geht noch weiter. Manche Menschen um mich herum finden das seltsam.
Aber ist da etwas dran, bin ich anders? Oder ist das normal? Und was heißt eigentlich normal?
Das Internet jedenfalls ist, wenn es um so was geht, Fluch und Segen. Ich finde ganz viele Diagnosen, kann Tests für alles Mögliche machen und bin doch am Ende nicht schlauer.
Ich bin ein normaler Mensch, aber was daran die Besonderheit ist, ich glaube, das ist ein Stückchen weit, dieses Sprunghafte“, erzählt Max, der eigentlich anders heißt, aber anonym bleiben möchte.
Ein Beispiel: „Wenn du mit mir einkaufen gehen würdest, und wir würden uns jetzt zehn Sachen ausdenken, was wir brauchen: Tomaten, Gurken, was auch immer. Ich bin mir sicher, dass ich davon drei bis vier nicht mitbringen würde. Das ist vielleicht eine ganz kleine Sache, weil ich so viele andere Dinge entdecke und dann plötzlich einfach ganz andere Sachen im Warenkorb einfach habe.“

Lebendigkeit der Tochter lässt ihn nachdenken

Auch er hat sich vor gut zwei Jahren auf die Suche nach Antworten gemacht, inspiriert durch seine Tochter:
„Eine Szene der letzten Woche. Ich war in einer Straßenbahn unterwegs, mein Kind plapperte, quatschte die ganze Zeit, wackelte mit ihrem Popo auf dem Sitz hin und her und spielte mit ihren Händen, hatte irgendwas in der Hand, hat mir in die Nase gekniffen“, erinnert er sich. „Und mir gegenüber saß eine Frau schräg gegenüber mit dem Kind, das ganz still dort saß. Die beobachteten uns.“
Die Lebendigkeit seiner Tochter ist einerseits etwas unheimlich Schönes für Max, doch sie überwältigt ihn auch. Bei seinen Recherchen erkennt er Parallelen zu sich selbst und findet: die Diagnose ADHS.
„Am besten erklärt es eigentlich der Name an sich, wenn man sich mal anschaut, was hinter diesen vier Buchstaben steckt. Also das Aufmerksamkeitsdefizit und Hyperaktivitätssyndrom“, sagt Felix Betzler, Facharzt für Psychiatrie und Psychotherapie an der Charité.
Äußere und innere Unruhe, Konzentrationsstörungen, Impulsivität: Das alles gehört dazu, sagt er. An ihn können sich Menschen wenden, wenn sie einen ähnlichen Verdacht wie Max haben.

ADHS beginnt im Kindesalter

„Man spricht mit den Betroffenen. Es kommen auch Fragebögen zum Einsatz und man spricht mit den Angehörigen“, erklärt er. „Das ist auch eine ganz wichtige Säule in der Diagnostik, um eine Perspektive auf das Kindesalter von außen zu bekommen, und man schaut sich Schulzeugnisse an.“
ADHS beginnt immer im Kindesalter, auch wenn es erst im Erwachsenenalter festgestellt wird. Sobald die Diagnose gesichert ist, hilft Felix Betzler auch bei der Behandlung. Es gibt Medikamente, die teilweise die Konzentrationsfähigkeit verbessern und ein bisschen Ruhe reinbringen. Doch sie können auch die positiven Auswirkungen vermindern.

Also ADHS-Betroffene sind beispielsweise sehr kreativ, sehr flexibel. Müssen sie auch, weil sie eben an vielen anderen Stellen beeinträchtigt sind. Sie sind sehr lustig, auch und einfach in Gesellschaft sehr verträglich. Also es sind sehr, sehr angenehme Menschen. Ich mag die sehr.

Felix Betzler, Facharzt für Psychiatrie und Psychotherapie

ADHS hat in den letzten Jahren in der Öffentlichkeit viel Aufmerksamkeit bekommen. Prominente wie Autorin Sarah Kuttner oder der frühere Radprofi Jan Ullrich haben ihre ADHS-Diagnose öffentlich gemacht. Das gibt auch vielen anderen Menschen den Mut, zur Ärztin oder zum Arzt zu gehen.
Circa fünf Prozent der Kinder in Deutschland werden mit ADHS diagnostiziert und davon weisen 60 Prozent im Erwachsenenalter noch Symptome auf.

„Ich bin in meinen Gedanken verloren“

So auch Max, der endlich seine Diagnose bekommt: Aufmerksamkeits-Defizit-Syndrom, ADS. Nur das Hyperaktive fehlt ihm.

Es ist, ich habe mal die Formulierung gehört, Kirmes im Kopf. Ich bin halt in meinen Gedanken verloren. Aber auch hier denke ich, dass es nicht etwas ganz Besonderes ist. Aber vielleicht ist es bei mir einen Tick weiter ausgeprägt als beim durchschnittlichen Menschen.

Max

Eins fällt mir immer wieder auf, wenn er über sich spricht. Zum Beispiel wenn es um die Schwierigkeiten in der Schulzeit geht: „Ich meine, das ist jetzt auch gar nichts Besonderes.“ Oder wenn er beschreibt, wie schwer ihm Kneipenbesuche fallen, weil ihn die Eindrücke überfordern: „Auch hier denke ich nicht, dass das was ganz Besonderes ist.“
Ein junger Mann, fotografiert von hinten, er hält sich die Ohren zu.
Was steckt dahinter, wenn einen Eindrücke überfordern, die für andere kein Problem sind?© picture alliance / Markus Scholz
Max erklärt sich das so: „Vielleicht ist es auch ein Stückchen Streben nach Normalität. Wenn ich es einfach betone und sage ‘Eigentlich ist es gar nichts Außergewöhnliches’. Was es für mich auch nicht ist. Es ist einfach nur eine andere Spur, die ich manchmal befahre.“

Streben nach Normalität

Dieses Streben nach Normalität ist auch Judy Singer nicht fremd. „Meiner Mutter hatte etwas an sich. Sie war eigenartig. Sie war seltsam. Sie war schwierig. Es war, als käme sie von einem anderen Planeten“, erzählt sie.
Sie erinnert sich: „Als ich 15 Jahre alt war, war ich alt genug, um alleine in die Bibliothek für Erwachsene zu gehen, und habe mir als erstes alle Psychiatriebücher angesehen und nachgesehen, was mit meiner Mutter nicht stimmt. Und ich konnte nichts finden. Da war nichts, niemand wie meine Mutter. Es war also ein ewiges Mysterium. Und ich habe immer versucht herauszufinden, wer meine Leute sind, wissen Sie?“
Einige Jahre später wird ihre Tochter geboren und Judy Singer erkennt: Ihr Kind ist wie ihre Mutter. Beide sind im autistischen Spektrum und auch sie selbst hat autistische Anteile sowie Züge von ADHS und auch Dyspraxie, also Koordination- und Entwicklungsstörungen.
Im Soziologiestudium und im Internet trifft sie auf Menschen, die von ähnlichen Erfahrungen berichten und baut eine Community auf. Aus ihren Beobachtungen entsteht Mitte der 90er eine wissenschaftliche Arbeit, die bis heute tief greifende Folgen hat.

Also gut, wie würde ich mich beschreiben? Ach je. Das hat mich noch nie jemand gefragt. Judith Singer ist eine australische Soziologin, die die weltweit erste soziologische Dissertation über, ich nannte es ‚eine persönliche Erforschung einer neuen sozialen Bewegung, die auf neurologischer Vielfalt basiert‘ und verkürzte das dann auf Neurodiversität.

Judy Singer, Soziologin

Die Vielfalt der Gehirne beschreiben

Singer hat nicht die Absicht, den Begriff zur Beschreibung bestimmter Erkrankungen zu verwenden. Es geht ihr darum, die Vielfalt der Gehirne zu beschreiben.
„Es liegt einem wissenschaftlichen Konzept zugrunde, dass den Zeiten entsprach, weil die Menschen die Psychologie satthatten. Es half ihnen nicht. Sie zahlten ein Vermögen, gingen zu Therapeuten und Analytikern, und bei ihnen änderte sich nichts. Dann kamen die Neurowissenschaften, und es war viel strengere Wissenschaft“, erklärt sie.
Judy Singer stellt sich gegen das alte Paradigma, in dem Menschen mit ADHS, Autismus, Rechenschwäche, Lese-Rechtschreibschwäche sowie Bewegungs- und Koordinationsstörungen als krank gelten. Atypische neurologische Entwicklungen sind natürliche menschliche Unterschiede. Bislang sind es die neurotypischen Menschen, die definieren, was „normal“ ist.
Diese Überzeugung ist auch mit ihrer eigenen Geschichte verbunden. „Und jetzt komme ich zum schwierigen Teil, weil meine Mutter nicht nur autistische Züge hatte, sondern sie war auch Auschwitz-Überlebende und die einzige in ihrer Familie. Und das ist der Titelsong meines ganzen Lebens bis heute“, sagt sie.

„Die Neurodiversität widerspricht der Eugenik“

Sie ergänzt: “Besonders ein deutsches Publikum muss das wissen. Ich sage nicht, nun, es ist gut, dass der Holocaust passiert ist, denn jetzt haben wir Neurodiversität. Ich wünschte, wir hätten beides nicht oder bräuchten beides nicht. Doch die Neurodiversität widerspricht eigentlich der Eugenik, die auch den Holocaust verursacht hat.“
Eugenik ist die pseudowissenschaftliche Lehre von der Verbesserung des biologischen Erbgutes des Menschen. Tatsächlich haben viele Eugeniker auch Euthanasie unterstützt, also die systematischen Morde an Behinderten und Kranken in der Zeit des Nationalsozialismus.
Dem setzt die Soziologie Erkenntnisse entgegen, die für Judy Singer die Basis von Neurodiversität darstellen. “Ein Ökosystem oder ein kulturelles System ist nachhaltiger, wenn es Nischen für alle hat, je vielfältiger das System, so die Theorie, desto mehr Nachhaltigkeit“, sagt sie.

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Damit folgt die Neurodiversität-Bewegung einem allgemeinen gesellschaftlichen Wandel, der in den letzten 40 Jahren beobachtet werden kann. Hinter Bürgerrechtsbewegungen, Frauenemanzipation und queeren Strömungen stehen Gruppen, die aufgrund ihrer biologischen oder auch anderen Merkmale marginalisiert und diskriminiert worden sind.

Marginalisierte Gruppen machen sich stark

“Also während bis in die 70er-Jahre hinein das weiße, heterosexuelle, männliche Subjekt, das normale Subjekt war und Weiblichkeit, ethnische Differenz oder sexuelle Orientierung als minderwertig gedacht worden sind, haben die diese Bewegungen ganz stark gemacht: Nein, das ist nicht minderwertig, das ist einfach nur anders und genauso legitim“, sagt Rüdiger Graf.
Als ich in sein Büro trete, bemerke ich gleich eine gewisse Ernsthaftigkeit. Er sitzt kerzengerade auf dem Stuhl. Der Historiker vom Leibniz Zentrum für Zeithistorische Forschung in Potsdam beschäftigt sich seit mehr als fünf Jahren mit der Geschichte der Bewegung.

Ich habe parallel einen Sohn gehabt, der da im Alter von drei Jahren sich relativ plötzlich in allen möglichen Bereichen sehr anders verhalten hat als seine Altersgenossen. Das hat für mich noch mal viel grundsätzlicher die Frage aufgeworfen danach, was eigentlich normales Verhalten ist, was abnormes Verhalten ist und wie eigentlich die Standards entstehen, die wir für uns als normal und Normalität betrachten.

Rüdiger Graf, Historiker

Nach eingehender ärztlicher Beobachtung und anhand von Fragebögen wird festgestellt, dass sein Sohn im autistischen Spektrum verortet ist. Rüdiger Graf liest immer mehr zu Neurodiversität und stellt fest, „in den USA wird intensiver über Neurodiversität diskutiert.“
Denn: „Es gibt in den USA auch ein stärkeres Bewusstsein dafür, dass Menschen, die in bestimmten Bereichen vielleicht kognitive oder Wahrnehmungsdefizite haben, in anderen Bereichen Stärken haben können und dass diese Stärken genutzt werden müssen oder genutzt werden können.“

Neurodiversität und vermeintliche Superkräfte

Menschen im autistischen Spektrum wird oft eine gewisse Superkraft unterstellt. Das unterstreicht das Buch von Steve Silbermann aus dem Jahr 2016: “Neurotribes - Das Erbe des Autismus und die Zukunft der Neurodiversität”.
“Der Bezug auf das Silicon Valley und die Frage danach, ob eben Menschen mit gerade autistischen Zügen oder mit einer bestimmten Form der Neurodiversität, die sie eben weniger sensibel macht für vielleicht zwischenmenschliche Beziehungen, aber dafür stärkere oder höhere Fähigkeiten der Pattern Recognition gibt. Dass die gerade in der bestimmten technischen Zivilisation oder in einer ganz stark digitalen Ökonomie sehr leistungsfähig sein können“, erklärt der Historiker.
Ein Bestseller, der auch der Neurodiversitätsbewegung einen echten Aufschwung verschafft hat und sicherlich auch nicht unschuldig daran ist, dass bestimmte Unternehmen – gerade im technischen Bereich – mit Neurodiversität werben. Aber auch in anderen Bereichen werden die Menschen im autistischen Spektrum beinahe zu Superhelden erkoren.
“Man kann zum Beispiel an der Diskussion um Greta Thunberg relativ gut festmachen, wo dann auch sie ihren Autismus offengelegt hat und den dann eigentlich zu einer Stärke gemacht hat. So ist es, glaub ich auch, von anderen geframet worden, dass das ihr sozusagen die Möglichkeit gibt, irgendwie sich auf bestimmte Dinge zu konzentrieren und andere Dinge vollkommen auszublenden, und sie dadurch sozusagen diese Klimawandelproblematik besser begreift, als andere sie begreifen würden“, sagt Rüdiger Graf.
Er glaubt allerdings, dass die Debatte dem breiten Phänomen hinter den Diagnosen nicht gerecht wird. Vielmehr müsste sich die Gesellschaft um jene Menschen im Spektrum kümmern, die Hilfe brauchen.
Oder wie Judy Singer es sagt: „Was ist mit dem Rest von uns, die keine Genies sind? Auf uns lastet ein hoher Druck. Dieses Supermacht-Zeug ist einfach Bullshit, wissen Sie?“

Die Breite des autistischen Spektrums

Bis in die 80er- und 90-Jahre wurde die Diagnose “Autismus” selten gestellt. Damals waren die Kriterien noch sehr eng gefasst. Nach der Erweiterung haben sich im Grunde zwei Gruppen herausgebildet, sagt Rüdiger Graf. Die einen, die zwar Schwierigkeiten im Alltag haben, doch durchaus kommunizieren können und selbstständig sind. Auf der anderen Seite gibt es Menschen im Spektrum, die ihr Leben kaum ohne fremde Hilfe meistern können.

Während die Fürsprecher der Neurodiversity-Bewegung, die erste Gruppe sind, diese extrem erfolgreichen, ist es unklar, wie sehr die für diese andere Gruppe eigentlich sprechen können. Also das Spektrum ist so breit, dass man sich fragt: Ist das tatsächlich das Gleiche? Wir haben es mit harten Glaubenskämpfen zu tun. Es ist eine Schwierigkeit, die aus der enormen Entfaltung dieses Spektrums resultiert.

Rüdiger Graf, Historiker

So erging es auch Hanna Bertilsdotter-Rosqvist. Sie ist Soziologin von der Södertörn University in Schweden. „Am Anfang war ich nur eine Autismusforscherin. Aber während meiner Forschung wurde ich selbst zur Autistin. Ich bin also nicht offiziell diagnostiziert, aber ich wurde irgendwie durch die Gemeinschaft diagnostiziert“, erzählt sie.
Ihr damaliger Lebensgefährte sagt ihr, sie sei zu angepasst, um nach den offiziellen Kriterien eine Diagnose zu bekommen. Auch sie selbst sieht keine Notwendigkeit dafür, weil sie nicht auf medizinische Hilfe angewiesen ist. Ihr reicht es aus, für sich diese Klarheit zu haben. Ein Gedanke, den auch Judy Singer mit ihrer Bewegung verfolgt. Ihr Ziel ist es, die Diagnose ganz abzuschaffen.

Kritik an pauschalen Diagnosen

“Also das wäre tatsächlich das Ideal. Das ist ja auch genau die Intention der Behindertenrechtskonvention, also die Leistung, die wir in der Betreuung von Menschen mit körperlichen und geistigen Behinderten hier vorhalten: In der Gesellschaft nicht mehr pauschal nach Diagnose zu gewähren und zu bezahlen, sondern ganz individuell anhand des Settings und eben des konkreten Bildes, was gebraucht wird”, erklärt Cornelius Borck.
Er ist Leiter des Instituts für Medizingeschichte und Wissenschaftsforschung der Universität zu Lübeck. Bei Autismus und Asperger handelt es sich - gemäß dem Sozialgesetzbuch - um eine Behinderung. Auf dieser Grundlage können autistische Menschen einen Schwerbehindertenausweis beantragen. Das trifft bei einer besonderen Schwere auch für Menschen mit ADHS zu.
Allerdings ist das Abschaffen von Diagnosen nicht so einfach.

Auf der anderen Seite haben wir eben 120 Jahre Sozialversicherung und Krankenversicherung, die eben nun mal genau nach der Diagnose funktionieren, weil das so unglaublich pragmatisch ist und weil es sich vor allen Dingen jetzt auch im System ganz, ganz fest etabliert hat.

Cornelius Borck, Wissenschaftshistoriker

Daran möchte Hanna Bertilsdotter-Rosqvist, die Autismusforscherin aus Schweden, etwas ändern. Und zwar bei der Erforschung von Autismus. Zum einen sei es wichtig, dass mehr Menschen aus dem autistischen Spektrum in die Forschung mit einbezogen werden, die bisher durch neurotypische Sichtweisen dominiert wurde.

Vergleich mit Forschung zur Sexualität

Sie vergleicht das mit ihrer Forschung zur Sexualität, auf die sie als bisexuelle Frau eine besondere Perspektive hat.
“Ungefähr bis Ende des 19. Jahrhunderts haben hauptsächlich deutsche Sexualforscher versucht zu definieren, was Sexualität und was gute Sexualität ist und was Perversionen sind. Sie betrachteten das irgendwie aus einer heterosexuellen Perspektive, und das taten sie schon lange”, erklärt sie.
Das änderte sich mit dem Beginn der Forschung zur Homosexualität in den späten 1970er-Jahren. Hanna Bertisdotter-Rosqvist möchte ihren speziellen Blickwinkel nutzen und neue Techniken für die Befragung von Menschen aus dem autistischen Spektrum Techniken erproben.
“Womit ich also experimentiere, sind verschiedene Arten des kollaborativen Schreibens. Einer von uns beginnt damit, einen Text zu schreiben, und dann schreibt die andere Person einen Text in Bezug darauf“, erzählt sie. „Es wird zu einem kollektiven Lernprozess, bei dem Menschen zum Beispiel über ihre Erfahrungen oder Wut oder Traurigkeit oder was auch immer sprechen oder schreiben, und in dem gemeinsamen Raum beginnen die Menschen mehr aus ihrer Sicht zu erzählen und drücken sich anders aus.“
Das Forschungsfeld entwickelt sich weiter. Und auch der Begriff der “Neurodiversität” wird zunehmend hinterfragt.

Jetzt muss es eher Neurodivergenz heißen. Es ist das Konzept für alle, die außerhalb der neurotypischen Norm stehen. Dazu können auch Menschen mit irgendeiner Art von geistiger Behinderung gehören, wie Menschen mit Psychosen. Es könnte ein ziemlich weit gefasster Begriff sein. Denn es ist wie bei Menschen in der queeren Gemeinschaft: Menschen, die außerhalb der Heteronormativität​ sind, sind queer. Hier ist eine ähnliche Sache.

Hanna Bertisdotter-Rosqvist, Autismusforscherin

„Es sind nicht alle hochbegabt“

Es ist Freitag Abend und ich sehe das erste Mal das Gesicht von Jessica vor mir. Bislang kannte ich ihre Stimme nur von einigen Telefonaten. Allerdings treffen wir uns digital. Es war ihr Wunsch, dass jeder heute vor seinem eigenen Computer sitzt. Ich erzähle ihr von den Besonderheiten und Zwängen, die ich an mir festgestellt habe.
“Mein innerer Monk. Das ist übrigens einer von den Begriffen, die ich persönlich überhaupt nicht mag. Weil es so ein bisschen schrullig und verniedlicht. Wenn man wirklich mal ganz schlimm unter einer Zwangsstörung gelitten hat, das ist wirklich alles andere als schrullig und niedlich, sondern es ist mir wirklich mit sehr viel Leid verbunden”, erzählt sie.
Zwar kann der Seriencharakter durch seine zwanghafte Art die Welt um sich herum besser analysieren, aber das ist keineswegs bei jedem so, sagt Jessica. „Ich meine, es sind ja nicht alle hochbegabt.“ Jessica ist skeptisch, wie sie in die Neurodiversitätsbewegung passen soll.
Doch auch Judy Singer plädiert dafür, den Blick auf die Bewegung größer zu fassen: “Die Leute fragen mich, kannst du mich miteinschließen? Wissen Sie, es ist das alte Denken. Es ist keine Diagnose. Es ist eine soziale Bewegung für Menschen, die unterdrückt wurden. Wurden Sie von Ihrer Zwangsstörung unterdrückt? Nennen Sie sich neurodivers.“

Zwangsstörungen sind ein Tabuthema

Jessica bedeutet es viel, mit eingeschlossen zu werden. Vor allem da Zwangsstörungen noch immer ein Tabuthema in der Gesellschaft sind. Deshalb weiß Jessica in ihrer Jugend, als alles anfängt, auch nicht, was mit ihr los ist.
“So in meinem Jugendzimmer saß ich auf meinem Bett und dachte irgendwann, dass die Vorhänge anfangen können zu brennen, weil die so direkt neben der Heizung hängen. Dazu muss man sagen, die hingen schon immer so. Irgendwie wurde nichts renoviert und es kam wie aus dem Nichts auf einmal so diese Angst, die könnten jetzt anfangen, Feuer zu fangen”, erklärt sie.
Sie legt also die Vorhänge auf die Fensterbank. Und ersetzt ihr Gefühl von Angst durch Kontrolle.
“Also Zwangsstörungen können sich zeigen in entweder Zwangshandlungen oder in Zwangsgedanken. Zwangshandlungen ist zum Beispiel etwas, das viele Menschen auch so kennen: Dass man, bevor man das Haus verlässt, noch mal guckt: Ist der Herd auch wirklich aus“, erklärt sie.

Zwangsgedanken könnten zum Beispiel so etwas sein wie: Dass man mit dem Auto wo lang fährt, und dann fährt man irgendwie über eine Erhebung oder irgendetwas und das Auto macht vielleicht ganz kurz ein komisches Geräusch. Dann ist es wie so ein Blitz, der so einschießt und dann kommt so ein Gedanke: Habe ich gerade vielleicht jemanden überfahren?

Jessica

Der Gedanke lässt die Menschen nicht mehr los, sie müssen immer wieder zu der Stelle fahren und kontrollieren, dass nichts passiert ist. So erging es auch Jessica. Damals steckte sie mit Anfang 20 in der zweiten, deutlich schwierigeren Phase der Zwangsstörungen.
Die meisten Menschen kennen irgendwelche Formen von Ritualen und sich aufdrängende Gedanken. Das ist auch etwas ganz Normales, dass sich derartige Gedanken aufdrängen. Aber die meisten Menschen leiden nicht darunter und es gehört auch eher zu unserem normalen und zum normal funktionierenden Gehirn, dass wir aufdrängende Gedanken auch mal haben“, sagt Lena Jelinek, Professorin für Klinische Psychologie am Universitätsklinikum Hamburg Eppendorf.

Gründe für Zwangsstörungen noch unklar

Da ist es wieder, das “normal” funktionierende Gehirn. Lena Jelinek hat während ihrer Promotion zahlreiche Menschen mit Zwangsstörungen kennengelernt. “Und sie lieben gelernt als sehr, sehr humorvolle Menschen, sehr beeinträchtigte Menschen, die sehr hilfsbedürftig sind, aber einfach auch generell sehr humorvoll“, sagt sie.
Eine Zwangsstörung liegt vor, wenn die Menschen sich mindestens eine Stunde am Tag mit den Gedanken oder den Handlungen aufhalten, oder wenn stereotype Verhaltensweisen durchgeführt werden – wie zum Beispiel das ständige Händewaschen. Wieso Menschen meist plötzlich eine Zwangsstörung entwickelt, ist allerdings noch nicht ausreichend geklärt.

Bei vielen gibt es eine familiäre Häufung, was auch für eine genetische Ursache spricht. Häufig kann es aber auch sein, dass in der Familie so etwas vorgelebt wurde, ein bestimmter Erziehungsstil vorgeherrscht hat.

Lena Jelinek, Psychologin

Bei vielen treten die Zwangsstörungen nach großen Veränderungen auf. Als Jessica zum Beispiel mit Anfang 20 ihre zweite, schlimme Phase durchmacht, ist sie kurz zuvor von zu Hause ausgezogen.

Hohe Dunkelziffer von Betroffenen

In Deutschland sind ungefähr zwei Millionen Menschen betroffen, aber es gibt auch eine hohe Dunkelziffer, sagt Expertin Lena Jelinek.
Jessica konnte irgendwann nicht mehr das Haus verlassen. „Und ich habe keine Freiheit mehr über mein eigenes Leben und kann auch niemandem mehr vertrauen. Am wenigsten mir selbst”, sagt sie.
Für die Behandlung der Zwangsstörungen müssen sich die Menschen ihren Ängsten stellen. Zum Beispiel bei einer kognitiven Verhaltenstherapie.
“Ich mag bis heute auch immer noch nicht so gerne, wie wahrscheinlich ganz viele Menschen, öffentliche Toiletten benutzen. Das ist auch immer so ein ganz gutes Beispiel, glaube ich, weil viele sich davor auch ekeln. So war das bei mir damals auch. Dann war quasi die erste Exposition, dass ich eben im Bad war und danach nicht die Hände waschen durfte“, erzählt sie.
Ihre Zwangsgedanken schreibt sie nieder, macht eine Aufnahme davon und spielt diese sich selbst vor, konfrontiert sich immer wieder damit. Ungefähr ein halbes Jahr dauert es, bis Jessica ihre Zwangsstörungen im Griff hat. Heute geht es ihr gut, sie sagt, sie habe ein schönes Leben. Geheilt ist sie nicht, in der Pandemie hatte sie einige Rückfälle.

„Ich habe ein Problem mit dem Wort geheilt“

Die Expertin Lena Jelinek definiert Therapieerfolg anders. “Ich glaube, ich habe ein Problem mit dem Wort geheilt. Das hieße ja auch, vorher ist etwas falsch. Wir haben gute Behandlungen, die auch wirksam sind, wo es den Menschen in unseren Studien und im Mittel auch sehr viel besser geht als vorher.“
Jessica möchte anderen Mut machen. Sie spricht und schreibt in ihrem Blog “Freiheit und Vertrauen” öffentlich darüber. Und engagiert sich im Verein “Deutsche Gesellschaft Zwangserkrankungen e.V.”.
Ihr Wunsch: „Dass sie sich nicht dafür schämen müssen, dass sie die haben, sondern dass sie ganz normal einfach im Büro sagen können: Ich bin krank, ich habe eine Zwangsstörung. Das wäre eigentlich mein Wunsch, oder eigentlich wäre mein Wunsch, dass ich gar nicht mehr hier sitzen müsste und das erzählen müsste, weil es sowieso einfach schon so in der Gesellschaft ist.“

Wie hilfreich ist ein offener Umgang?

Max hingegen hat noch starke Zweifel, ob er seine ADS öffentlich machen soll – vor allem bei der Arbeit. Und das obwohl ADHS in der öffentlichen Wahrnehmung viel präsenter und anerkannter ist als zum Beispiel Zwangsstörungen.
„Verbaue ich mir da nicht noch irgendwelche Wege? Weil es sind natürlich bestimmte Stereotypen darüber im Umlauf und die da schon mal gelesen haben: Das sind so hibbelige Leute, Struwwelpeter oder so. Aber das bin ich gar nicht. Ich könnte dadurch Überlegungen provozieren oder wachtreten, die ich dann irgendwann auch nicht mehr im Griff habe. Ich bin immer noch derselbe Mensch“, sagt er.
Dabei könnte der offene Umgang dabei helfen, dass eine neue Normalität entsteht - in der Menschen im autistischen Spektrum, mit ADS, Zwangsstörungen und anderen neurodivergenten Ausprägungen ganz selbstverständlich dazugehören und mit ihren speziellen Sichtweisen und Fähigkeiten den Alltag für alle besser machen.
Ein Beispiel, wie das gelingen könnte, hat Jobcoach Kristina Meyer-Estorf. Sie ist selbst im autistischen Spektrum und hat auch ADHS.
„Zum Beispiel jemand, der wirklich eine große Reiz-Schwäche hat im Großraumbüro. Der zum Beispiel dann eine extra Kopfhörervorrichtung haben darf. So. Dann ist da vielleicht eine Mama, die wirklich weiß, wenn ich jetzt aus der Arbeit komme, habe ich wieder drei Kinder und so würde es mir auch mal guttun, solche Noise-Cancelling-Sachen zu haben“, sagt sie.

Für mich ist das Inklusion. Wenn die Mama keine Autistin ist, dass sie trotzdem die gleichen Bedingungen haben darf wie der Mensch aus dem Autismusspektrum. Und dass der Autist, der ADHSler nicht extra fragen muss: Weil ich so anders bin, kann ich bitte das und das bekommen?

Kristina Meyer-Estorf, Jobcoach

Da sind wir wieder bei dem Gedanken, der am Ende alles bestimmt: Ein Mensch ist keine Diagnose, sondern ein Wesen mit Stärken, Bedürfnissen und Schwächen.
Mit diesem Gedanken im Kopf gibt es kein Normal, sondern nur ein menschlich - sagt auch Judy Singer: “Neurodiversität ist nur ein anderes Wort für Menschlichkeit.”
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