Neurologe und Amateurmusiker Jürg Kesselring

"Musik ist sozialer Kitt"

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Ein Gitarrist steht auf einem Balkon in Mailand, Italien, und spielt für seine Nachbarschaft.
Gitarrenklänge, die die Einsamkeit durchdringen: Musik bringt in der Coronazeit Menschen zusammen. © Getty / AGF / Universal Images Group / Nicola Marfisi
Jürg Kesselring im Gespräch mit Frank Meyer |
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Balkonkonzerte, Wohnzimmersessions, Onlineorchester: Es ist kein Zufall, dass Menschen derzeit Musik als etwas Überlebenswichtiges, Sozialverbindendes wahrnehmen, sagt der Neurologe Jürg Kesselring. Denn Musik sei die älteste Kommunikationsform.
Die Geschichte der heilenden Wirkung von Musik ist mindestens so alt wie die Bibel. Im Grunde sei David der Musiktherapeut von König Saul gewesen sagt der Schweizer Neurologe und Amateurmusiker Jürg Kesselring. Die "heilende Kraft der Musik" ist für ihn keine leere Worthülse.
"Musik ist sozialer Kitt", sagt Kesselring, der dies an vielen seiner Patienten beobachtet hat. Als Arzt hat er mit Menschen zu tun, die wegen ihrer Hirnerkrankung depressiv werden. Ihnen ihre Lieblingsmusik vorzuspielen, zeigt ihnen, dass sie nicht allein seien, so der Neurologe.

Musik gegen Depressionen in der Isolation

Letzteres trifft auch auf Menschen in der Isolation während der Coronakrise zu. Denn: Menschen, die auf Balkonen stehen und singen, Musikerinnen und Musiker, die aus ihrem Wohnzimmer Livekonzerte im Internet streamen, Coronaorchester, die nur online zusammen kommen - das alles gibt es seit einigen Wochen.
Millionen Menschen sind isoliert, weltweit - und kommen doch zusammen, um Musik zu machen beziehungsweise zu hören. Dass das ein menschliches Grundbedürfnis ist, hat sich selten so deutlich gezeigt wie in diesen Zeiten.

Hohes Selbstmedikationspotenzial

Das Musizieren besetze im Hirn "Areale, die wir zum Reden brauchen. Deshalb meine ich, dass Musik eine ursprünglichere Kommunikationsform ist als das Schwatzen und Reden", sagt Kesselring.
Musik ist für ihn allein deshalb sozialverbindend, weil man sich beim Musizieren mit Freunden oder Nachbarn im wahrsten Sinne aufeinander einstimmen muss. Dass sich dies dann auch im Gehirn niederschlagen muss, ist für ihn klar – "allerdings noch nicht wissenschaftlich nachgewiesen". Für ihn habe Musik in jedem Fall ein hohes Selbstmedikationspotenzial, sagt Jürg Kesselring.
(mkn)

Literaturtipp von Jürg Kesselring:

Eckart Altenmüller: "Vom Neandertal in die Philharmonie: Warum der Mensch ohne Musik nicht leben kann"

Springer, 2018, 525 Seiten, 24,99 Euro

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