Christof Kessler: Wahn
Eichborn Verlag, Frankfurt/Main 2013
207 Seiten, 16,99 Euro
Patient wiehert diabolisch
Der Spezialist für Hirnerkrankungen, Christof Kessler, führt uns in zwölf Kurzgeschichten vor Augen, wie wahnsinnig sich Menschen verhalten können. Die Ursachen liegen dabei nicht etwa in ihrer kranken Psyche, sondern in einer Störung des Gehirns.
Es ist ein harter Moment für den Arzt: Sein guter Freund kommt in die Klinik, alle Zeichen deuten auf den Beginn einer schweren, unheilbaren Demenz. Ein zweiter Unstern zieht über dem Schicksalsschlag auf: Die Ehefrau des Patienten reagiert auf die Diagnose mit offener Aggression.
In seinem Buch „Wahn“ erzählt der Neurologe Christof Kessler zwölf fiktive Short Stories, um von den fatalen, merkwürdigen und verstörenden Auswirkungen hirnorganischer und psychiatrischer Erkrankungen zu erzählen. Im Mittelpunkt seiner Geschichten stehen die Leiden und Dramen der Patienten; der Autor selbst tritt als behandelnder Neurologe am Rande auf.
Ganz normale Menschen, die in Zustände von Wahn, Realitätsverlust, Demenz oder Amnesie gerissen werden - das ist naturgemäß ein starkes Genre, aus dem auch die Storys des Autors ihre Wucht beziehen. In einer Geschichte wird ein Parkinson-Patient süchtig nach dem Medikament L-Dopa, das ihm als Ersatz für das fehlende Dopamin in seinem Gehirn verschrieben wurde. Auf windigen Wegen verschafft er sich mehr und mehr von der Droge, die ihn bald in psychotische Wahnvorstellungen katapultiert. Er wähnt sich von Autoschieber-Banden verfolgt und ersinnt einen Plan: Eine Autowerkstatt muss er in die Luft jagen, um die Zentrale des Bösen auszuschalten. In einer anderen Geschichte treffen sich zwei Ehepaare regelmäßig am Wochenende zum Partnertausch. Nach einer Weile fällt man den Beschluss, auf Dauer in den neuen Konstellationen zusammen zu leben. Kurz darauf wird einer der beiden Männer Opfer eines schweren Schlaganfalls. Also wird seine neue Partnerin bei der alten Ehefrau vorstellig - sie möchte den Mann wieder hergeben.
Einsacken in sprachliche Untiefen
Schwierige Wege zur Diagnose, seltene Nervendegenerationen, Frontalhirnläsionen, die stille Beamte in soziale Wüstlinge verwandeln - Christof Kessler reichert seine Geschichten mit hochinteressanten Details aus der Fachmedizin an. Doch das literarische Schreiben hat er nicht erfunden. Vor allem sprachlich sackt das Buch in etliche Untiefen ab. Wenn Ärztinnen mit kleinen braunen Augen böse unter den getuschten Wimpern hervor funkeln und Patienten diabolisch wiehern, dann sind die Formulierungskünste der Groschenheftchen des Bastei-Lübbe-Verlags nicht fern, dem Eichborn heute angehört. Durchaus punkten kann Christof Kessler allerdings, was Dramaturgie und vielschichtige Bedeutungsebenen angeht. Die meisten seiner Geschichten enden sonderbar offen und ungelöst, lassen den behandelnden Neurologen fragend zurück und zeigen: In der Welt der psychischen Krankheiten liegen Befremden und Kontrollverlust nicht allein auf Seiten der Patienten.
Weil psychische Prozesse offen und unvorhersehbar sind, bieten sie aber auch die Chance zum Happyend, auch davon erzählt Christof Kessler. Als sich sein hinfälliger Freund nach der Alzheimer-Diagnose scheiden lässt, löst sich die Vergesslichkeit als „Pseudo-Demenz“ in Luft auf. Der Mann sattelt auf ein Psychologie-Studium um, lernt eine neue Frau kennen und beginnt glücklich ein zweites Leben.