"Das Teilen hat uns mal groß gemacht"
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In der Evolution war das Teilen extrem nützlich. Die Idee des Eigentums existiere in der Menschheitsgeschichte noch gar nicht so lang, sagt die Neurowissenschaftlerin Franca Parianen. Doch wir hätten verlernt, gemeinsame Gewinne zu sehen.
Ute Welty: "Frische Ideen angewandt", das ist das Motto des Frankfurter Zukunftskongresses, und eröffnet wird der digitale Kongress unter anderem mit einer Keynote von Franca Parianen, Neurowissenschaftlerin, Science-Slammerin und Bestsellerautorin. Mitte März erscheint ihr neues Buch, "Teilen und Haben: Warum wir zusammenhalten müssen, aber nicht wollen". Und dieses Nichtwollen kann extrem hinderlich sein, wenn es darum geht, die großen Probleme zu lösen – von der Digitalisierung bis hin zum Arbeitsschutz.
Warum wollen Menschen nicht zusammenhalten, und was hat das mit Teilen und Haben zu tun?
Parianen: Grundsätzlich wollen wir das natürlich schon, wir wollen ja alle nette Menschen sein, hilfreich und gut, die Welt irgendwie besser machen, und dann sind wir ja doch ständig eigentlich überfordert von der Situation. Allein die Gedanken, die wir uns machen, wenn wir versuchen, ein guter Mensch zu sein, dieses verzweifelte Stehen vor dem Supermarktregal und noch mal drüber nachzudenken, ob wir jetzt plastikverpackt haben wollen oder doch lieber Soja und ob vegan und Soja jetzt besser ist als ohne plastikverpackt und so weiter und so fort.
Das heißt erst mal, das größte Problem ist, die Welt ist kompliziert. Das andere Problem ist, dass wir die Welt auch wirklich so gestaltet haben, dass es sehr, sehr schwierig ist, zu versuchen hilfreich zu sein. Das ist eigentlich nicht so richtig auf unsere Sozialtendenzen ausgelegt.
Kinder können viel besser zusammenarbeiten
Welty: Sind die Menschen denn auch inzwischen so etwas wie eine egoistische Spezies, denn die Evolution ist ja eigentlich voll von Beispielen, wo das Teilen für die Menschen extrem nützlich gewesen ist.
Parianen: Ja, absolut, gerade wenn man sich unsere Geschichte anguckt. Eigentlich ist Teilen die Grundlage, das Einzige, was wir die ganze Zeit wirklich gut konnten. Wenn wir uns angucken zum Beispiel, was können jetzt so Zweijährige besser als der handelsübliche Schimpanse, dann werden wir nicht finden, dass das Werkzeuge braucht.
Was wir finden werden, ist, dass Kinder viel besser in der Lage sind, Zusammenarbeit aufrechtzuerhalten. Wenn man erst mal angefangen hat, man versteht, danach muss man die Schokoriegel teilen, die man gewonnen hat, ansonsten spielt der andere danach nicht mehr mit und das ist blöde.
Das heißt, eigentlich haben wir da große Talente auch, zum Beispiel was das Teilen von Wissen angeht oder was das Teilen von Care-Arbeit angeht. Aber beides sind eigentlich gute Beispiele für Sachen, die schieflaufen. Wenn wir uns zum Beispiel das Teilen von Wissen angucken, sehen wir heute, dass der Begriff Eigentum dabei immer wichtiger wird, also wir haben viel mehr Möglichkeiten heutzutage, ganze Songs quasi zu patentieren und auch gleichzeitig wissenschaftliche Erkenntnisse hinter Paywalls zu verstecken und so weiter und so fort.
Das heißt, wo Bakterien weiter ihre Informationen frei teilen, hat sich der Mensch eigentlich viele Schranken auferlegt. Und das andere Beispiel Care-Arbeit ist natürlich was, was wir kennen, was immer außen vor gelassen wird und gar nicht wirklich Teil ist unseres ganzen Teilsystems, unseres ganzen Wirtschaftssystems.
Die Probleme begannen mit dem Eigentum
Welty: Wann und warum hat das denn angefangen schiefzulaufen?
Parianen: Das ist natürlich schwer zu sagen, aber man kann schon sagen, dass die Grundidee vom Eigentum was ist, was Menschen gar nicht so leicht fällt, da muss man sich vernünftige Gedanken zu machen, wie das laufen soll.
Wenn wir so auf die Menschheitsgeschichte gucken – ungefähr sechs bis acht Millionen Jahre, seit wir uns so ein bisschen entfernt haben auf dem evolutionären Ast –, dann ist eigentlich die ganze Idee, dass wir überhaupt Sachen haben, ziemlich neu. Vor vier Millionen Jahren haben unsere Vorfahren so ungefähr angefangen, vielleicht was mit sich rumzutragen, einzelne Werkzeuge oder so was, wie wir heute unsere Smartphones, aber diese ganze Sesshaftigkeit, das ist in den letzten 10.000, 20.000 Jahren passiert.
Jetzt plötzlich kann man Geld erben, man kann Geld ansammeln über Generationen und so weiter und so fort, und auf einmal müssen wir uns Gedanken dazu machen, wie wollen wir das aufteilen. Tatsächlich muss man sagen, wenn wir etwas erst mal besitzen, dann geben wir das sehr ungerne wieder her.
Gemeinsam auf ein Ziel hinarbeiten
Welty: Lässt sich denn dieser Prozess wieder umkehren im Hinblick auf mehr Solidarität?
Parianen: Wir können auf jeden Fall versuchen, wieder auf diese Sachen zu setzen, also uns wirklich klarzumachen, dass Teilen das ist, was uns mal groß gemacht hat und dass das eigentlich die Gesellschaft ist, die wir anstreben sollten.
Man merkt es auch, wenn man eben mit kleinen Kindern zusammenarbeitet, wenn man denen zum Beispiel ein Spiel gibt, wo sie gut zusammenspielen können, also wo man ein gemeinsames Ziel erreichen soll, für ein gemeinsames Ziel kämpft, oder eben ein Spiel gibt, wo sie gegeneinander kämpfen: Erst mal haben die Kinder, die gemeinsam für ein Ziel kämpfen, üblicherweise mehr Spaß und rennen seltener weinend zu ihrer Mutter, weil sie weniger angespannt sind.
Gleichzeitig, im Gegensatz zum Wettkampf, teilen diese Kinder auch in ganz anderen Situationen danach viel eher ihre Sticker. Das heißt nicht, dass wir Wettbewerb verbannen sollen, um Gottes willen – verlieren lernen können ist ja auch total wichtig, haben wir gerade an Trump gesehen –, aber trotzdem muss man schon sagen, alleine um diese Studie durchzuführen, mussten die Forscherinnen und Forscher erst mal ein neues Spiel designen lassen, weil es so wenig Spiele gibt, wo wir tatsächlich gemeinsam auf ein Ziel hinarbeiten.
Und das ist schon was, wo man sich sagen muss, wenn das so sehr zum Vorteil gewesen ist in unserer Entwicklung, warum spielt das in unserem Leben heute so wenig eine Rolle.
Verteilung von Ressourcen läuft falsch
Welty: Die Pandemie hat ja mehr als deutlich gemacht, dass Maßstäbe womöglich neu sortiert gehören und dass es eben nicht reicht, den Pflegekräften zu applaudieren, um nur mal ein Beispiel zu nennen. Ist das denn aber wenigstens mal ein Ansatz gewesen?
Parianen: Das Applaudieren an sich, die Wertschätzung natürlich. Das Applaudieren, wie wir jetzt wissen, wenn es dann nicht umgesetzt wird tatsächlich in eine bessere Verteilung von Ressourcen, dann muss man schon sagen, dann läuft was ganz falsch. Gerade wenn man bedenkt, das sind die Sachen, die uns groß gemacht haben, die Verteilung von Care-Arbeit, von Wissen und von Nahrung.
Und was sind heutzutage die Sektoren, die alle unterbezahlt sind? Das sind genau diese drei. Als wir damals das Wirtschaftssystem aufgebaut haben, haben wir blöderweise vergessen, genau diese Sachen wertzuschätzen, die keinen monetären Wert einbringen.
Wenn wir zum Beispiel an die Uni denken, die macht Forschung und gilt als Kostenfaktor – das sind Kosten für Bildung, und die ist wahrscheinlich für irgendwas gut oder so, wir sind uns nicht so ganz sicher. Aber gleichzeitig erfindet die Uni ja ganz viele Sachen: GPS, Internet, das sind alles Technologien, die eben aus öffentlicher Forschung erfunden worden.
In unseren Berechnungen tauchen die aber erst auf, wenn wir sagen: "Ah, das macht ja eigentlich Sinn für ein Apple-Produkt!" Dann sagen wir: "Apple ist ein innovatives Unternehmen, warum müssen die eigentlich Steuern zahlen." Das Gleiche mit Care und Pflege: Wir sehen ja jetzt gerade erst mit Corona auch wirklich, wie sehr Gesundheit auch zur Wirtschaft beiträgt, wie wichtig es ist, dass Leute gesund sind, dass sie die Möglichkeit haben, krank zu machen, wenn sie krank sind, sodass sie andere Leute nicht anstecken.
Das ist alles wichtig für die Wirtschaft, und trotzdem merken wir ja, wie langsam wir uns daran gewöhnen, zu sagen: "Oh, man kann das also nicht gegeneinander aufrechnen, das ist alles voneinander abhängig? Verrückt!"
Verlernt zu sehen, was allen Gewinn bringt
Welty: Haben wir den Wert von Investitionen verlernt zu schätzen?
Parianen: Von Investitionen in Gemeingüter. Eigentlich ist die Grundidee von Gemeingütern, dass wir alle zahlen gemeinsam was einzahlen, und dann kommt für uns alle was raus. Vielleicht ist es nicht immer ganz fair, vielleicht gibt es ein paar Leute, die zahlen mehr ein, vielleicht gibt es ein paar Leute, die könnten mehr einzahlen und tun das nicht. Aber dadurch, dass wir alle gewinnen, bringt das im Großen und Ganzen was.
Solche Gemeingüter sind eben auch die Investitionen in Naturschutz, die Investitionen in ein gesundes Zusammenleben, in Elektromobilität und so weiter, also Möglichkeiten, die eben das Klima schützen.
Was wir eben verlernt haben, ist, zu sehen, ah, wir machen das, weil uns das allen Gewinn bringt. Wenn wir zum Beispiel über den Klimawandel reden, dann reden wir viel eher darüber: "Aber worauf muss ich denn jetzt verzichten?" Anstatt zu denken, wenn wir all das Geld zusammenrechnen, das jeder Einzelne für sein Auto ausgeben muss, was könnten wir alles an öffentlichem Verkehr haben und wie toll könnte das sein?
Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Deutschlandfunk Kultur macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.