Neuwahlen in der Türkei

Angespannte, schwierige Situation

Antiregierungsproteste in Istanbul nach dem Anschlag in Ankara.
Nach dem Anschlag in Ankara gingen in Istanbul tausende Menschen auf die Straße, um gegen die Regierung zu demonstrieren. © picture alliance / dpa / Tolga Bozoglu
Kristian Brakel im Gespräch mit Ute Welty |
Im Juni verfehlte die islamisch-konservative AKP von Staatspräsident Erdogan erstmals die Mehrheit bei den Parlamentswahlen: Für Erdogan ein "Fehler", den die Türken "korrigieren" sollten. Kristian Brakel, Leiter der Heinrich-Böll-Stiftung Istanbul, glaubt nicht, dass Erdogan sein Ziel erreicht.
Rund 54 Millionen Wahlberechtigte in der Türkei sollen am 1. November ein neues Parlament wählen. Nur knapp fünf Monate nach der letzten Wahl, mit deren Ergebnis, dem Verlust der absoluten Mehrheit, Präsident Recep Tayyip Erdogan nicht leben wollte.
Der Leiter der Heinrich-Böll-Stiftung in Istanbul, Kristian Brakel, rechnet bei der Parlamentsneuwahl in der Türkei nicht mit einer Mehrheit für die AKP.
Die Stimmung im Land kurz vor der Wahl sei angespannt, auch angesichts des Anschlags von Ankara, sagte Brakel im Deutschlandradio Kultur vor der morgigen Parlamentsneuwahl in der Türkei. Umfragen zufolge werde die islamisch-konservative AKP von Präsident Recep Tayyip Erdogan erneut die absolute Mehrheit verfehlen. Einschränkend fügte Brakel hinzu, dass angesichts des Mehrheitswahlrechts aber auch wenige hundert Stimmen ausschlaggebend sein könnten. Zudem sei der Anteil der Stimmen der Auslandtürken größer als bei der Juni-Wahl.
Ungewiss, ob Erdogan so lange wählen lässt, bis ihm das Ergebnis passt
Ungewiss bleibe, ob Erdogan im Falle des Mehrheitsverlustes der AKP eine Koalitionsregierung akzeptieren werde oder das Land in eine dritte Wahlrunde zwingt. Allerdings gebe es auch in der AKP kritische Stimmen, die für eine Koalition für Stabilität im Land plädierten. So sei davon auszugehen, dass Premierminister Ahmet Davutoglu Erdogans Kurs nicht mittragen wollte: "Aber es gibt bisher niemanden, der es fertig bringt, sich öffentlich gegen den Präsidenten zu stellen und ihm die Stirn zu bieten", sagte Brakel, der das Büro der grünen-nahen Heinrich-Böll-Stiftung in Istanbul leitet und als politischer Analyst auch für verschiedene Nicht-Regierungsorganisationen, die Vereinten Nationen und die EU arbeitet.
Vorwürfe, die türkische Führung habe die Terrormiliz Islamischer Staat IS lange geduldet
Dem zuletzt von Präsident Erdogan in den Mittelpunkt gerückte Kampf gegen Terroristen des Islamischen Staates (IS) stünden Mutmaßungen auch der Opposition gegenüber, dass die Türkei den islamischen Staat mit aufgebaut habe. Vorwürfe, die türkische Führung habe den IS lange geduldet oder sogar unterstützt, seien schwer nachweisbar. Es habe aber zumindest lange Zeit in Teilen der Regierung das Gefühl vorgeherrscht "naja, das sind irgendwie doch unsere Jungs, die sind kontrollierbar (...) die sind nicht so gefährlich wie die PKK." Das gleichzeitige harte militärische Vorgehen gegenüber der verbotenen kurdischen Arbeiterpartei PKK, das Kollateralschaden an der Bevölkerung in Kauf nehme und den Kurden den Weg in die legitime Opposition verschließe, werde die Auseinandersetzungen in der Kurdenfrage verschärfen, erklärte Brakel.
Stimmung gegen die Opposition wurde geschürt
Schwierig sei die Situation im Land auch, weil bei linken Oppositionellen, Kurdinnen und Kurden nach dem Anschlag von Ankara das Gefühl vorherrsche, es gebe Kräfte im Land, die es darauf anlegten, dass diejenigen, die eine andere politische Meinung haben mundtot gemacht werden sollen."
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Das vollständige Interview im Wortlaut:
Ute Welty: Ja, es ist ein viel strapazierter Begriff, aber die Türkei steht wohl tatsächlich vor einer Schicksalswahl. Rund 54 Millionen Wahlberechtigte sollen morgen ein neues Parlament wählen, nur knapp fünf Monate nach der letzten Wahl, mit deren Ergebnis Staatspräsident Erdogan aber nicht leben wollte, nicht leben konnte. Seine AKP verlor bei dieser Wahl die absolute Mehrheit, weil die pro-kurdische HDP ins Parlament einzog. Der Wahlkampf dieser knapp fünf Monate war politisch mäßig, aber extrem blutig. Die türkische Regierung bombardierte nicht nur Stellungen des selbst ernannten Islamischen Staates, sondern auch die der kurdischen Arbeiterpartei und Untergrundorganisation PKK. Terroranschläge kosteten mehr als hundert Menschen das Leben. Die Entwicklung hat sehr genau beobachtet Kristian Brakel. Er leitet die Heinrich-Böll-Stiftung in Istanbul, und er arbeitete als politischer Analyst für verschiedene Nichtregierungsorganisationen, für die Vereinten Nationen und für die EU. Guten Morgen, Herr Brakel!
Kristian Brakel: Guten Morgen!
Welty: Wie erleben Sie diese Wochen?
"Es ist eine sehr, sehr angespannte Atmosphäre"
Brakel: Also es ist eine sehr, sehr angespannte Atmosphäre. Es ist eine Atmosphäre, in der auch gerade nach diesem Anschlag von Ankara diejenigen, die dort gemeinsam, die betroffen waren – Linke, Oppositionelle, Kurdinnen und Kurden –, in eine Art Depression versunken sind und sagen, wir wissen jetzt wirklich, es gibt Kräfte in diesem Staat, es gibt Kräfte in diesem Land, denen ganz egal ist, ob wir sterben, beziehungsweise die zum Teil es sogar es darauf anlegen, dass diejenigen, die eine andere politische Meinung haben, mundtot gemacht werden sollen. Das ist in der Tat eine sehr unberuhigende Situation, eine sehr schwierige Atmosphäre, die im Moment im Land herrscht.
Welty: Welche Kräfte sind da genau gemeint?
Brakel: Das ist natürlich sehr schwierig zu sagen. Also es gibt natürlich den Vorwurf da gegen den sogenannten Tiefen Staat, also die Verbindung zwischen Bürokratie und Geheimdiensten und mafiösen Strukturen. Es gibt den Vorwurf, dass die AKP des Premierministers und des Präsidenten direkt in die Anschläge verwickelt seien. Das sind aber natürlich alles Sachen, die sich nicht nachweisen lassen, und wir können auch nicht sagen, ob das stimmt oder nicht. Was wir sagen können, ist aber, dass die AKP, dass die Regierung, dass Präsident Erdogan selber in den letzten Monaten massiv dazu beigetragen hat, eine Stimmung im Land zu schüren, in der diese Anschläge überhaupt denkbar waren, in denen denkbar wurde, dass es eben wirklich so ist, dass bestimmte Teile, nämlich diejenigen, die der Regierung nicht opportun sind, dass diejenigen auch zu legitimen Zielen werden.
Welty: Was auf der Hand liegt, was nachweisbar ist, ist, dass Erdogan ja außen- wie innenpolitisch einen harten Kurs fährt gegen die PKK, gegen auch die Presse – was glauben Sie, wird die Mehrheit der Türken diesen Kurs mitgehen?
Brakel: Das ist im Moment sehr, sehr schwierig zu sagen. Wir haben ja verschiedenste Umfragen gesehen vor den Wahlen. Die meisten haben eigentlich vorausgesagt, dass sich an den Wahlergebnissen von Juni nicht viel ändern wird, plusminus zwei Prozent für die Parteien. Es ist allerdings so, dass die Türkei aufgrund ihres Mehrheitswahlrechtes – und dass es ja in manchen Wahlbezirken nur an ein paar Hundert Stimmen hängt –, dass sich da durchaus noch etwas drehen kann. Wir haben jetzt gesehen, es gibt eine sehr erhöhte Wahlbeteiligung aus dem Ausland im Gegensatz zur Wahl im Juni. Das sind durchaus alles Stimmen, die das Ergebnis durchaus noch massiv beeinflussen können.
Welty: Was glauben Sie, was passiert, wenn Erdogan erneut sein Ziel verfehlt, also keine absolute Mehrheit der AKP verzeichnet werden kann, wird dann so lange gewählt, bis dem Staatspräsidenten das Ergebnis gefällt?
Es gibt auch in der AKP Stimmen, die kritisch sich äußern zum Kurs des Präsidenten
Brakel: Das ist natürlich die Eine-Million-Dollar-Frage, wirklich sehr, sehr unklar, und es hat auch in der Türkei niemand eine Antwort darauf bisher, denn wie gesagt, der wichtigste oder eigentlich im Prinzip fast einzige Entscheidungsträger in der Türkei, der im Moment relevant ist, ist der Präsident. Der ist natürlich sehr abgeschirmt, an den kommen auch wir als Analysten nicht heran. Es gibt allerdings auch in der AKP viele Stimmen, die kritisch sich äußern über den Kurs des Präsidenten und sagen, nein, wir brauchen jetzt endlich Stabilität im Land, wir brauchen eine Koalition, die auch schon beim letzten Mal eine Koalition gewollt hätten. Wir können zum Beispiel davon ausgehen, dass der Premierminister Davutoglu, obwohl er eigentlich eng mit Erdogan vertraut ist, eigentlich diesen Kurs nicht mittragen wollte, aber es gibt bisher niemanden, der es fertig bringt, sich öffentlich gegen den Präsidenten zu stellen und ihm die Stirn zu bieten.
Welty: Erdogan betont immer wieder seine herausragende Rolle im Kampf gegen die Terroristen des Islamischen Staates – wie ist es Ihrer Einschätzung nach um diesen Kampf tatsächlich bestellt?
Einstellungen zum IS - "Naja, das sind doch irgendwie unsere Jungs"
Brakel: Also grundsätzlich ist es so, es gibt ja diese vielen Vermutungen und Verdächtigungen, die auch von der türkischen Opposition getragen werden, dass die Türkei den Islamischen Staat aktiv aufbaut und unterstützt und eben sogar auch schützt. Ich denke, das ist sehr schwierig nachweisbar. Was es aber auf jeden Fall gibt, ist anscheinend in Teilen der Regierung so ein Gefühl, was Sie vielleicht mit dem sächsischen Verfassungsschutz gegenüber der NSU vergleichen können, nämlich dieses: Na ja, das sind irgendwie doch unsere Jungs. Also die sind kontrollierbar, wir kennen im Prinzip zumindest die Richtung, aus der sie kommen, die sind also nicht so gefährlich wie etwa die PKK, denn die richtet sich ja gegen den türkischen Staat. Ich denke, dieses Gefühl und diese Einstellung ändert sich jetzt langsam ein bisschen nach den verschiedenen Anschlägen, die wir in der Türkei gesehen haben, aber immer noch gibt es natürlich auch aufgrund von Wahlkampfzwecken diese Behauptung etwa zu den Anschlägen von Ankara, der Islamische Staat würde da gemeinsame Sache machen mit der PKK, was natürlich völlig abstrus ist.
Welty: Inwieweit macht Erdogan denselben Fehler wie der israelische Premierminister Benjamin Netanjahu, inwieweit unterschätzen beide den IS und erliegen dem Irrtum, den IS instrumentalisieren zu können?
Den Weg für legitime Opposition zu verschließen wird die Auseinandersetzung verschärfen
Brakel: Ich denke, da gibt es sehr viele Parallelen, auch in der Art der Aufstandsbekämpfung, nämlich dass man die kurdische Bevölkerung, im Fall von Netanjahu die palästinensische Bevölkerung, als zumindest, ja, legitime Kollateralschäden sieht. Wenn man mit einer sehr harten Hand gegen bewaffnete Organisationen vorgeht und eben auch gar nicht versteht, dass es natürlich so ist, wenn man den Weg für die legitime Opposition schließt, wie das ja die Israelis sehr lange für die PLO getan haben und wie man das jetzt zum Beispiel für die pro-kurdische HDP tut, dass das natürlich automatisch dazu führt, dass militante Organisationen wie die PKK mehr Zulauf bekommen und dass sich diese Auseinandersetzung eher verschärfen wird.
Welty: Erdogan erfährt relativ wenig Druck, auch nicht von Seiten der EU, weil man dort auf die Türkei angewiesen ist, um die Flüchtlingskrise zu bewältigen. Welche Rolle hat diese Krise im türkischen Wahlkampf gespielt?
Brakel: Das ist ein sehr zweischneidiges Schwert. Grundsätzlich ist es so, dass die Türkei traditionell sich sehr stark an innenpolitischen Themen orientiert. Und die AKP – und das muss man natürlich auch positiv erwähnen – hat sich ja gegenüber den Flüchtlingen lange Zeit auch sehr generös gezeigt. Sie hat gesagt, wir nehmen die alle auf, es sind Gäste in unserem Land. Was sie nicht getan hat, ist, eine Situation zu schaffen, wo wirkliche Integration stattfindet. Man ist also immer davon ausgegangen, die Leute kommen ein paar Jahre zu uns, so wie das vielleicht mit den Gastarbeitern in Deutschland war in den 70ern und 80ern, und dann gehen sie auch wieder zurück, sobald der Krieg vorbei ist. Das ist natürlich völlig unrealistisch, auch weil der Krieg natürlich wahrscheinlich noch sehr lange andauern wird. Und da macht sich gerade in den Grenzregionen, wo es sehr viele Flüchtlinge gibt, Unmut breit, gerade eben natürlich, weil viele Syrerinnen und Syrer bereit sind, zu niedrigeren Löhnen zu arbeiten, zum Beispiel im Bausektor, in der Landwirtschaft. Da gibt es schon Spannungen, aber es ist nicht das bestimmende Wahlkampfthema.
Welty: Kristian Brakel von der Heinrich-Böll-Stiftung in Istanbul, ich danke für Ihre Einschätzungen. Und wie die Wahl in der Türkei gelaufen ist, das erläutern wir spätestens am Montagmorgen zusammen mit dem Wahlbeobachter Andreas Gross.
Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Deutschlandradio Kultur macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.
Programmtipp: Hören Sie zu den Parlamentswahlen in der Türkei auch ein
Interview mit Hans-Georg Fleck (Friedrich-Naumann-Stiftung Istanbul)
aus unserer Sendung "Studio 9 kompakt"
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