Zehn Jahre nach Katrina
Am 29. August 2005 traf Hurrikan Katrina auf die Südküste der USA. Es war die verheerendste Naturkatastrophe in der Geschichte des Landes. Wie sieht es dort zehn Jahre nach dem Unglück aus?
New Orleans ist nach wie vor die amerikanische Jazz-Metropole. Auf dem Jackson Square spielen täglich Amateur-Jazzbands, die besser sind als andernorts Profimusiker.
Das French Quarter, die Altstadt der Metropole am Mississippi, floriert wie eh und je. Seit Katrina ist ein neuer Uferweg am Fluss angelegt worden, der French Market ist renoviert worden, das Café du Monde lockt nach wie vor mit starkem schwarzen Südstaaten-Kaffee und den berühmten, mit Puderzucker bestreuten, frischgebackenen Beignets. Das French Quarter ist der älteste und deshalb auch der höchstgelegene Stadtteil von New Orleans – und nach wie vor ein Touristenmagnet, wichtig für die Stadt, die einen Gutteil ihrer Steuereinnahmen und Arbeitsplätze dem Tourismus verdankt.
Die Fluten, die der tropische Wirbelsturm Katrina mit sich brachte und die vor zehn Jahren durch die geborstenen Dämme in die Stadt eindrangen, richteten hier, im French Quarter relativ wenig Schaden an. Aber 80 Prozent der Stadtfläche standen unter Wasser, bis zu einer Höhe von 7,60 Meter. Viele Menschen mussten von den Dächern ihrer Häuser gerettet werden. 15.000 Bürger flüchteten sich in das örtliche Football-Stadium, den Superdome. Es kam zu Toten durch Gewalt, Wassermangel, medizinische Unterversorgung und gesundheitsgefährdende hygienische Zustände.
In den Wochen nach dem Hurricane wurde New Orleans fast komplett evakuiert. Eines Nachmittags hätten Soldaten der 82. Luftlandedivision angeklopft und sie aufgefordert, die Stadt zu verlassen, erinnert sich die pensionierte Immobilienmaklerin Margie Scheuermann:
"Ich möchte nie wieder eine Stadt auf diese Art verlassen. Es war herzzerreißend. Es brannte an vielen Orten. Überall waren Soldaten in voller Ausrüstung, es war einfach schlimm."
Die Bush-Administration reagierte viel zu spät. Die Katastrophenschutzbehörde, die Federal Emergency Management Agency, war auf diese Katastrophe nicht vorbereitet und fing erst am dritten Tag nach dem Deichbruch an zu arbeiten. Der Behördenchef wurde bald darauf gefeuert. Der Präsident überflog in seiner Maschine New Orleans, kam aber erst mehr als zwei Wochen nach dem Deichbruch in die Metropole am Mississippi, um eine Rede zu halten und den Einwohnern Mut zuzusprechen:
"Sie sollen wissen, dass die ganze Nation sich um sie sorgt und dass sie auf ihrem weiteren Weg nicht allein sind. All denjenigen, die einen Verlust erlitten haben, möchte ich die tiefste Anteilnahme des Landes aussprechen. Jedem, der geholfen hat in dieser Notsituation, möchte ich die Dankbarkeit des Landes aussprechen. Und ich möchte ihnen auch folgendes Versprechen des amerikanischen Volkes geben: Im ganzen Gebiet des Hurricanes werden wir tun, was zu tun ist, und bleiben, so lange es zu tun ist, um den betroffenen Bürgern dabei zu helfen, ihre Gemeinden und ihren Alltag wiederherzustellen. Allen, die die Zukunft dieser Stadt in Frage stellen, sage ich: Ich kann mir Amerika nicht ohne New Orleans vorstellen, und diese großartige Stadt wird wieder auferstehen."
71 Milliarden Dollar Hilfe aus Washington
Worte, die viele Einwohner von New Orleans als Hohn betrachteten – zu offensichtlich war das Behördenversagen gerade in der ersten Zeit nach dem Hurricane. Die 71 Milliarden Dollar, die die Bundesregierung in Washington in den letzten zehn Jahren zur Verfügung stellte, änderten an diesem ersten Eindruck nicht viel – jedenfalls nicht in den Augen der Bürger von New Orleans. Am schlimmsten war die Lage im Lower Ninth Ward, ein zumeist von ärmeren und schwarzen Bürgern bewohnter Stadtteil von New Orleans. Von ehemals 14.000 Einwohnern sind nur 2800 zurückgekommen.
Einer von ihnen ist Burnell Cotlon. Er war mit der Armee in Deutschland, und weil es ihm so gut dort gefallen hat, ist er nach seiner Zeit beim Militär eine Weile in Deutschland geblieben. Dann ist er in seine Heimatstadt New Orleans zurückgekehrt, in den Lower Ninth Ward, wo er aufgewachsen ist. Er betreibt drei Geschäfte: einen Friseur inklusive Nagelstudio, einen Gemischtwarenladen und das einzige Lebensmittelgeschäft im Lower Ninth Ward. Der Wiederaufbau in Eigenregie war harte Arbeit:
"Sehr, sehr schwer. Das war sehr anstrengend. Es gab im Lower Ninth Ward kein einziges Lebensmittelgeschäft. Nachdem ich mein Wohnhaus wieder aufgebaut hatte, bin ich im Lower Ninth Ward herumgefahren und konnte keinen einzigen Lebensmittelladen finden. Es gab hier überhaupt keine Infrastruktur mehr. Also habe ich beschlossen, daran etwas zu ändern. Entweder ist man Teil des Problems oder Teil der Lösung. Die Lösung war: Ich baue einen Laden auf, weil es hier keinen gab."
Ein Kredit von einer Bank war illusorisch. Deshalb hat Burnell Cottlon all seine Ersparnisse aus seiner Zeit als Soldat in die kleine Ladenzeile gesteckt:
"Ich habe viereinhalb Jahre dafür gebraucht. Es bleibt noch einiges zu tun, ich will ein zweites Stockwerk auf das Gebäude setzen. Ich will einen Waschsalon eröffnen und vielleicht ein Kino. All das gibt es hier nicht. Ich will mein Viertel mitaufbauen, weil ich möchte, dass es hier wieder so ist, wie im Rest der Stadt."
Seit fünf Monaten ist Burnell Cotlons Ladenzeile geöffnet, und die Einkünfte reichen gerade, um die Angestellten und die Rechnungen zu bezahlen. Die Kunden sind dankbar, sagt Burnell:
"Die Nachbarn hier lieben das Geschäft. Hier sind Leute hergekommen, die geweint haben. Sie haben mich umarmt, weil ich die Geschäfte eröffnet habe."
Neue Dämme statt Brachflächen
Der Rest der Stadt hat sich besser erholt als der Lower Ninth Ward. Das liegt unter anderem daran, dass in anderen, sozial besser gestellten Nachbarschaften viele eine Flutversicherung hatten, mit deren Hilfe die Bewohner ihre Häuser wieder aufbauen konnten. Experten hätten damals dafür plädiert, einige Stadtteile in Brachflächen umzuwidmen, so der Stadtgeograph Richard Campanella von der Tulane University in New Orleans:
"Die Frage war, ob wir tiefliegende, schwer beschädigte und entlegene Stadtteile nicht einfach schließen, die Eigentümer enteignen und diese Stadtteile in Feuchtgebiete umgestalten sollten. Dann könnten sie bei zukünftigen Wirbelstürmen einen Teil der Überschwemmung absorbieren. Das haben Stadtplaner und Geografen gefordert, die wussten, wie schwer es ist, eine Stadt auf einem absinkenden Grund in einem erodierenden Flussdelta nachhaltig zu schützen."
Dieser Vorschlag hatte jedoch keine Chance, umgesetzt zu werden. Die betroffenen Bezirke werden überwiegend von armen und schwarzen Bürgern bewohnt – es war unmöglich, dafür eine politische Mehrheit zu bekommen. Gleichzeitig wäre die Enteignung von zehntausenden von Immobilien gar nicht finanzierbar gewesen. Stattdessen steckte die Bundesregierung viel Geld in neue Dämme und die städtische Infrastruktur. Der Unternehmensberater Jeb Bruneau sagt, die Hilfe der Bundesregierung für New Orleans habe die Stadt zu einem besseren Wirtschaftsstandort gemacht:
"Nach Katrina sind Unternehmer nach New Orleans gezogen, die vorher nicht gekommen wären. Wir haben eine jüngere Bevölkerung. Die Absolventen unserer Hochschulen bleiben jetzt nach dem Studium in New Orleans. Sie gehen nicht mehr nach Atlanta oder nach Texas, wie vor Katrina. Wir haben jetzt hier eine stark wachsende digitale Medienindustrie, das ist sehr ermutigend für die Zukunft."
Weil viele Bewohner und Geschäfte in die umliegenden Bezirke bis hin zur 130 Kilometer entfernten Hauptstadt Louisianas, Baton Rouge, abgewandert seien, sei New Orleans tatsächlich besser in die regionale Wirtschaft integriert als vor Katrina:
"Vor Katrina wurde New Orleans als isolierter Ort in Louisiana angesehen. Im Süden gab es die Kultur der Cajuns, im Norden Louisianas die ländliche Südstaatenkultur, und New Orleans lag irgendwo dazwischen. Jetzt sind New Orleans und Baton Rouge zusammengewachsen. Es gibt eine Art große, wirtschaftlich zusammenhängende Region. Und das macht uns konkurrenzfähiger im Vergleich mit den größeren Städten in den Südstaaten."
Die kulturelle Renaissance
New Orleans hat 380.000 Einwohner, 70.000 weniger als vor Katrina. Doch die Demografie der Südstaatenmetropole habe sich positiv verändert, sagt der Stadtgeograph Richard Campanella. Seit Katrina seien immer mehr junge, gut ausgebildete Leute nach New Orleans gekommen, unter anderem, weil Häuser und Geschäftsgründungen hier preiswert seien. Eine Studie aus dem Jahr 2011 belegte, dass zehn Prozent der Einwohnerschaft von New Orleans nach Katrina zugezogen sei. Dies geschah im Wesentlichen in zwei Wellen. Die erste bestand aus den jungen Helfern und Mitarbeitern von Hilfsorganisationen, die unmittelbar nach dem Sturm nach New Orleans kamen, um beim Aufräumen zu helfen. Die zweite Welle kam wenige Jahre später, als die Stadt sich wieder einigermaßen erholt hatte und viele das urbane Flair und die zurückgelehnte, kulturell vielfältige Lebensart der Stadt entdeckten. Das habe eine kulturelle Renaissance ausgelöst, so der Stadtgeograph Richard Campanella, der selbst fasziniert ist und sieben Bücher über New Orleans geschrieben hat.
"Sie sind enthusiastische Einwohner von New Orleans, sie haben den Eifer von Konvertiten und sind oft lokalpatriotischer als die hier geborenen Bürger. Sie schätzen den Lebensstil von New Orleans und wollen nicht in den Vorstädten leben. Sie haben neues Leben nach New Orleans gebracht. Durch sie steigen aber auch die Immobilienpreise und die Mieten, was die anderen Einwohner nicht gerne sehen."
Die demografische Zusammensetzung von New Orleans und der umgebenden Bezirke hat sich geändert. New Orleans ist immer noch eine mehrheitlich schwarze Stadt, aber der Anteil weißer Einwohner und Hispanics ist deutlich gestiegen. Dafür sind die Vorstädte schwarzer geworden, wenn auch immer noch mehrheitlich weiß. Der Großraum New Orleans soll einer Studie zufolge 2030 eine mehrheitlich von Minderheiten bewohnte Region werden, die gleichzeitig stärker ethnisch durchmischt ist.
Auch die politische Kultur in New Orleans habe sich geändert, meint der Journalist John Pope. Der ehemalige Bürgermeister Ray Nagin wurde zwar kurz nach Katrina noch einmal wiedergewählt, versank dann aber in einer Korruptionsaffäre. Die Bürger seien zum Schluss einfach nur noch wütend darüber gewesen, dass Nagin die Stadt inkompetent und ineffizient geführt hatte.
So kam es, dass in einer mehrheitlich schwarzen Stadt zum ersten Mal seit den 60er Jahren ein weißer Bürgermeister gewählt wurde: Mitch Landrieu kommt aus einer alteingesessenen demokratischen Politikerfamilie und stellte sich im vergangenen Jahr erfolgreich der Wiederwahl. Dass dies möglich gewesen sei, so John Pope, habe auch mit der Zuwanderung neuer Bürger von außerhalb zu tun. Diese hätten an sich und an die politischen Verhältnisse höhere Ansprüche:
"Wir hatten einen Zustrom junger, gebildeter Leute, die Teil des Wiederaufbaus sein wollten. Ich habe zu dieser Zeit viel über das Gesundheitssystem geschrieben. Es kamen viele junge Leute, die hier Medizin studieren und die medizinische Infrastruktur wieder aufbauen helfen wollten. Es gibt mehr Restaurants in New Orleans seit Katrina, weil ihre Betreiber bessere Geschäftsaussichten sehen. New Orleans ist ein Hort für Firmenneugründungen geworden. Katrina hat dazu geführt, dass wir unsere Möglichkeiten neu bewertet haben und alte Pfade verlassen haben. Katrina hat alle alten Regeln gebrochen."
New Orleans ist weiterhin eine Metropole mit einer ganz eigenen Lebensart und einer unverwechselbaren Mischung von Kulturen und Ethnien. Doch der Hurricane Katrina hat tiefe Spuren in der Stadt hinterlassen – einige von ihnen positiv, andere eher ambivalent. Wirtschaft, Demografie, Mentalitäten und Politik der alten Stadt am Mississippi sind durch Katrina verändert worden.
Margie Scheuermann hat schon viele Hurricanes in New Orleans erlebt. Doch keiner sei so wie Katrina gewesen:
"Ich möchte die Stadt nie wieder in solch einem Zustand sehen. Es war herzzerreißend. Aber wir haben es überlebt, und falls es nochmal passiert, werden wir´s wieder überleben."