Für mich ist das eine Innovation, die vergleichbar mit der Einführung von Amazon in den 1990er-Jahren ist. Als sie das Geschäft damit begonnen haben, Waren direkt nach Hause zu liefern.
Lieferdienste in New York
Die Lieferservicedichte in New York hat unter Covid zugenommen - die Menschen haben ihr Einkaufsverhalten geändert. © Getty Images / Anadolu Agency / Tayfun Coskun
Revolution des Einzelhandels
25:18 Minuten
Nur 15 Minuten nach dem Klick sollen die Lebensmittel nach Hause kommen. Damit werben Lieferdienste in New York und revolutionieren somit den Einzelhandel. Oft auf dem Rücken der Fahrer, die sich jetzt das Recht erkämpften, auf Toilette zu gehen.
Das Rennen geht los. Sergio Solano hat keine Minute zu verlieren. 15 hat er. Dann muss der Inhalt seines Lieferrucksacks beim Kunden sein. Der zierliche Mann in schwarzer Radlerkluft tritt in die Pedale seines martialischen E-Bikes.
Ein Manhattan-Rider - ausgerüstet für den Kampf gegen die Zeit und den Verkehr des Geschäftsviertels Midtown. Jede Ampel ist ein Hindernis, geparkte Lieferwagen sind genauso lästig wie Fußgänger im Weg. Die Schlaglöcher nehmen Sergios dicke Reifen locker. Das ist eben New York, sagt er: "Das Hauptproblem ist der schwere Verkehr hier in der Stadt. Das ist echt hart. Der Job an sich ist nicht hart."
Die Rider der Lieferdienste sind die Ritter auf New Yorks Radwegen. Immer im Kampf darum, nicht abgehängt zu werden. Zwei Kilometer sind es noch – sagt Sergios Handy. Und das Handy ist der Boss.
Die App gibt die Befehle: Sie sagt Sergio, wenn er eine Ladung Lebensmittel am Lager abholen soll, sagt ihm, wo er hin muss. Sagt ihm, wie viel Zeit er dafür hat. Sagt ihm, dass schon wieder der nächste Job auf ihn wartet. Zeit ist Geld. Der mexikanische Einwanderer arbeitet gleichzeitig für mehrere Apps.
Deutsche Start-ups in Manhatten
Sie heißen Getir, Gorillas, Jokr, GoPuff. Und sie locken die stets zeitknappen New Yorker damit, sie in Minutenschnelle mit frischen Lebensmitteln zu beliefern. Leute wie IT-Mann Colin Robertson. Er arbeitet im Homeoffice. Sein Kühlschrank ist leer aber er kommt gerade nicht vor die Tür. Schnell lädt er sich eine App runter.
Colin entscheidet sich für das Unternehmen Gorillas. Das Berliner Start-up mischt mit bei der Lebensmittel-Lieferschlacht um Manhattan. Zu den sechs großen Playern hier gehört noch ein weiterer „Made in Germany“ – Jokr, das Start-up von Ex-Food-Panda CEO Ralf Wenzel. Homeoffice-Mann Robertson macht seine Einkaufsliste.
"Ich sehe bei den Apps viele Optionen: Sie haben auch ganze Mahlzeiten, das kann ich vielleicht auch mal machen. Aber jetzt bestelle ich Limetten, Wasser, Kokosmilch und Erdbeeren."
Die App verspricht: Spätestens in einer Viertelstunde liefert der Rider. Colin kann ihn sogar auf der Karte verfolgen: "Ich kann mir nicht vorstellen, dass sie nur 15 Minuten brauchen, um es zu meiner Tür zu bringen. Aber wenn, wäre ich echt beeindruckt."
Die dunklen Lager in Manhatten
Das Just-in-Time-Geschäft macht Tempo in Manhattan. Beflügelt von der langen Zeit der Pandemie. Mehr Menschen arbeiten von zu Hause. Hängen an Online-Diensten. Haben sich daran gewöhnt. Sie haben ihre Verhaltensweisen geändert – auch im Netz, sagt Adam Wacenske, US-Chef des deutschen Start-ups Gorillas. Das Modell funktioniere einfach für viele verschiedene Menschen, sagt Wacenske.
"Du kannst dir hier deine Lebensmittel für die ganze Woche ordern oder du hast kleine Kinder und brauchst schnell Windeln oder Babynahrung. Aber du kannst nicht mal eben in den Laden, weil du sie nicht alleine lassen kannst. Das hier funktioniert für Eltern, für junge Leute, die einfach nicht raus wollen, für so viele verschiedene Gruppen – und das macht es so stark."
Wacenske steht zwischen den Regalen eines Gorillas-Lagers auf der Lower East Side von Manhattan. Zwischen grell beleuchteten asiatischen Läden und Lokalen am Rande von Chinatown liegt der Eingang zum Lagerraum versteckt hinter zugeklebten Scheiben. „Dark Warehouses“ – dunkle Lager – so der geheimnisvolle Name dieser Läden, die keine Kunden einladen. Durch die hellen, schmalen Gänge der Regale und Kühlfächer laufen stattdessen die Picker, die die eingegangenen Einkaufslisten abarbeiten und die Tüten packen. Pausenlos schwärmen Rider damit aus.
New York als idealer Ort für Blitz-Lieferdienste
Ihren Fuß haben die "Gorillas" im vergangenen Sommer nach New York gesetzt: mit zwei Lagern. Inzwischen gibt es rund 20 in Manhattan, Brooklyn und Queens. Ziel der Berliner Start-ups ist es, ganz New York flächendeckend zu versorgen. Es herrscht ein reger Kampf.
Die New Yorker seien eine ideale Klientel für solche Blitz-Lieferdienste, sagt Wirtschaftsexperte Arun Sundararajan von der New York University.
"Es gibt diese Kultur, dass die Leute mal eben zum Deli oder Kiosk um die Ecke gehen. Die Meisten hier haben in ihrer Wohnung nicht viel Lagerfläche. Sie kaufen häufiger kleine Mengen ein. Das Unmittelbare wird hier mehr geschätzt als anderswo."
Jeder dritte Laden in der Metropole hat die Pandemie nicht überlebt. Die leeren Flächen eignen sich für die Dark-Warehouses der minutenschnellen Lieferdienste. Das sei eine Revolution auf dem Einzelhandelsmarkt, sagt Sundararajan.
"Für mich ist das eine Innovation, die vergleichbar mit der Einführung von Amazon in den 1990er-Jahren ist. Als sie das Geschäft damit begonnen haben, Waren direkt nach Hause zu liefern."
1,3 Milliarden Euro Risikokapital für Lieferdienste
Jetzt gehe es eben noch einen Schritt weiter. Lieferung am gleichen Tag war gestern. Heute geht es um Minuten. Spannend werde, welche Unternehmen dem Wettbewerb am Ende standhalten.
Noch überbieten sich die Investoren in den Finanzierungsrunden. Die Liefer-Einhörner haben vergangenes Jahr 1,3 Milliarden Euro Risikokapital eingesammelt. Gorillas allein sicherte sich knapp eine Milliarde US-Dollar. Wirtschaftsexperte Arun Sundararajan: "So wie Uber und Lyft im Personenverkehr erfinden diese Lieferdienste ein völlig neues Modell für den Einzelhandel. Mit enormer Innovation."
Tech statt Tante Emma. Was die Kundschaft wünscht, ermittelt künstliche Intelligenz. Das Sortiment der Großen reicht von Chips und Softdrinks, über Zahnpasta und Kopfschmerztabletten bis zu frischem Gemüse und Biofleisch von Farmern aus Dakota.
Die Lieferdienste beziehen ihre Ware direkt von Herstellern und können sie daher zu Supermarktpreisen verkaufen. Im Werbekampf um neue Kundschaft, überbieten sie sich gegenseitig mit Lockangeboten. So wirbt beispielsweise der türkische Lieferdienst „Getir“ für die ersten fünf Bestellungen im Wert ab 21 Dollar mit einem Rabatt von 20 Dollar. Bleibt ein Dollar für den Kunden – inklusive Lieferung. Das gehe nur am Anfang meint, Arun Sundararajan.
"Diese jüngste Generation der Lebensmittellieferanten ist noch in der Phase, wo sie schnell Kunden an sich binden wollen. Sie sind in der Phase der großen Investitionen und des schnellen Wachstums. So wie es der Fahrdienst Uber vor fünf, sechs Jahren war."
12,50 Dollar Stundenlohn plus Trinkgeld
Die App-Fahrdienste sind den App-Lieferanten in vielem einen Schritt voraus. Auch, wenn es um Arbeitsrechte geht, sagt Rider Sergio Solano. Er engagiert sich beim „NYC Food Delivery Movement“ – der Bewegung für Lebensmittellieferungen –, eine von vielen Gruppen, die für die Rechte der App-Arbeiter eintreten, erklärt er. Es gebe schließlich immer mehr Arbeiter wie ihn, aber es gebe keine festen Regeln. Das sei das Problem.
Sergio hat bei einem Lieferanten einen richtigen Arbeitsvertrag. Damit geht es ihm schon besser als anderen, die völlig frei arbeiten: "Sie zahlen 12,50 Dollar die Stunde plus Trinkgeld. An guten Tagen komme ich auf 40 Dollar Trinkgeld pro Stunde. An schlechten sind es vielleicht 20 Dollar oder sogar nur 15."
Damit finanziert er seine Wohnung in der Bronx. Zusammen mit seiner Frau, die auch jobbt. Allein der Weg zur Arbeit ist manchmal schon hart, sagt Sergio und zeigt auf seinen Kollegen.
"Er hat drei Stunden hinter sich. Jetzt muss er nach Hause in die Bronx radeln und nachher geht seine Schicht hier weiter. Dann muss er zurückkommen. Wir haben viel Bewegung."
Am Ende des Monats reicht das Geld sogar noch, um etwas davon an die Familie in Mexiko zu schicken. Doch in Fahrrad und Ausrüstung musste Sergio erst einmal selbst investieren. Und wie viele Rider sitzt er auf den Stromkosten für sein E-Bike: "Die Stromkosten sind hoch. Wir müssen jeden Tag die Batterien laden – acht bis zehn Stunden lang. Der Strom ist ein Problem für uns alle."
Arbeitskampf für das Recht auf Toilette zu gehen
Die Meisten der Rider sind Einwanderer. Viele von ihnen sprechen noch kein Englisch. Ihr Job ist ihr Einstieg in eine bessere Welt. Dafür nehmen sie oft schlechte Bedingungen in Kauf, sagt auch Rider Mani Ramirez.
"Es ist unfassbar. Du gehst zur Arbeit in der Pandemie, wo viele Jobs weg gefallen sind. Und inmitten von Gefahren und Unfällen kannst du noch nicht mal auf die Toilette gehen."
Dieses Recht haben sich New Yorks App-Arbeiter jetzt erstritten. Auch das Recht darauf, die digital überwiesenen Trinkgelder zu bekommen. Doch immer noch bleiben genug Gefahren: Überfälle, Unfälle, Gesundheitsschäden, die auch durch den Zeitdruck entstehen.
New Yorker Politiker haben deshalb einen Gesetzentwurf eingebracht. Er soll die Werbung für die 15-Minuten-Lieferung verbieten, sagt Stadträtin Carlina Rivera: "Durch diese Apps haben wir jeden Tag mehr Arbeiter. Wir wollen sicherstellen, dass sie fair behandelt werden. Wir hoffen auch, dass New York andere Städte im Land dazu inspiriert, dasselbe für ihre Arbeiter zu tun."
Ökonom Sundararajan sieht für das Geschäft trotzdem keine Gefahr.
"Das Überlebensmodell wird sein: dunkle Lagerräume und Auslieferung. Nicht die Geschwindigkeit. Auf die 15 Minuten-Option wird es am Ende nicht ankommen, um am Markt zu bestehen."
Auch die Arbeitsstandards können für den Wettbewerb eine Rolle spielen. Gorillas setzt darauf. Alle rund 500 Mitarbeiter inklusive Rider und Picker hätten bei ihnen feste Arbeitsverträge, inklusive Gesundheitsversorgung, so US-Chef Adam Wacenske. Er steht neben einer Flotte schicker weißer E-Bikes.
"Wir haben tolle E-Bikes, die Fahrer bekommen Helme und reflektierende warme und Regen-Kleidung. Die können sie mit nach Hause nehmen."
Welcher Lieferdienst bleibt am Ende übrig?
Die Frage sei, wie lange New Yorks ultraschnelle Lieferdienste mit ihren Ansprüchen auch überleben könnten, sagt Laura Kennedy vom Marktanalyse-Institut „CB Insights“.
"Was vielen zugute zu halten ist, ist, dass sie ihre Leute mit einem Vollzeitvertrag anstellen und keine Gelegenheitsarbeiter nehmen. Aber auch das ist teuer. Und natürlich ist es für die Kundschaft toll, ihre Milch in 20 Minuten geliefert zu bekommen. Aber es kostet viel Geld, so ein vier-Dollar-Produkt zu liefern."
Auch würden die Lagerräume inzwischen schon wieder knapp und teurer. New York sei einerseits ein idealer Standort, doch selbst hier hätten schon die ersten Just-in-Time Dienste wieder aufgegeben. Der Markt hier sei zwar ideal, doch er sei auch einer der am härtesten umkämpften weltweit, sagt die Online-Handelsexpertin Kennedy.
"Selbst für die Amazons und Walmarts dieser Welt – mit all ihrer Reichweite – sind die Lieferungen teuer. Und deshalb setzen so viele auf Automatisierungstechnik. Denn die Personalkosten sind hoch. Und im Mikrobereich sehen wir das Problem eben bei den Schnellliefer-Start-ups."
Natürlich seien sie auch eine Bedrohung für die kleineren Läden und Kiosks der Stadt. Auch sie hauptsächlich mit Einwanderern geführt. Doch Kennedy relativiert: "Wie ich es auch großen Läden sage: Es ist besser die Bedürfnisse der Kundschaft zu sehen und darauf zu reagieren, als sie zu bekämpfen."
Spannend wird, welcher der fixen Lieferdienste am Ende übrig bleibt. Gerade in den vergangenen Wochen, haben sich einige zurückgezogen. Berichtet wird, dass auch der zweite deutsche Player, Jokr, bereits solche Pläne hat. Demnach führt das Start-up bereits Verkaufsgespräche für sein New-York-Geschäft.
Marktbeobachter gehen davon aus, dass der Wettkampf um Manhattan am Ende ähnlich entschieden wird wie der bei den Fahrdiensten: Zwei Große bleiben übrig. Auch Gorilla-Chef Wacenske denkt – der Sieger wird mehr als einer sein. Und das sei gut so: Die Stadt sei groß, das Land sei groß. Es ist Platz für Diversität.
"Pepsi und Coke existieren, Uber und Lyft existieren."
Die Lieferung kommt nicht in 15 Minuten
IT-Mann Colin Robertson wartet an diesem Tag auf seine Lebensmittel dreimal so lang wie die 15 angekündigten Minuten.
Gegenwind und Verkehr, entschuldigt sich der Fahrer. Robertson schmeckt sein Essen trotzdem. Den nächsten App-Klick hat er sich schon vorgenommen. Schließlich kann er noch viele Lockangebote abgrasen, bevor er sich für eine App entscheidet.