Reinhard Mohr, geboren 1955, ist Journalist und Autor. Er schrieb für "Spiegel Online" und war langjähriger Kulturredakteur des "Spiegel". Weitere journalistische Stationen waren der "Stern", "Pflasterstrand", die "tageszeitung" und die "Frankfurter Allgemeine Zeitung". Buchveröffentlichungen unter anderem: "Bin ich jetzt reaktionär? Bekenntnisse eines Altlinken", "Das Deutschlandgefühl", "Generation Z", "Der diskrete Charme der Rebellion. Ein Leben mit den 68ern" und "Meide deinen Nächsten. Beobachtungen eines Stadtneurotikers
Das dröhnende Schweigen der Linken
Solidarität mit Nicaragua - das gehörte bis weit in die 1990er-Jahre unter Linken zum guten Ton. Wo bleibt ihre Solidarität mit der Protestbewegung - jetzt wo der einzige Revolutionsheld Ortega selbst zum Unterdrücker geworden ist, fragt Reinhard Mohr.
Die traurige Geschichte wiederholt sich: Aus Freiheitskämpfern werden skrupellose Gewaltherrscher.
Diesmal in Nicaragua. Der prominenteste Repräsentant der Revolution, Daniel Ortega, unter dessen Führung die Diktatur von Anastasio Somoza im Juli 1979 besiegt wurde, hat sich inzwischen selbst zum Diktator aufgeschwungen. Die Bilanz der letzten Monate: Hunderte Tote und Gefolterte, Tausende politische Gefangene, Terror gegen die wachsende Protestbewegung im ganzen Land.
In Deutschland bekommt man von all dem allerdings fast nichts mit – von öffentlicher Solidarität mit den Protesten gegen das brutale Ortega-Regime zu schweigen. Das war vor vierzig Jahren noch ganz anders, als sich zahlreiche Linke und Linksliberale, darunter Prominente wie Dietmar Schönherr, unter der Parole "Viva Sandino" versammelten.
Projektionsfläche revolutionärer Sehnsucht
Wir spendeten Geld, halfen als "Internacionalistà" bei der Kaffee-Ernte und gründeten Städtepartnerschaften. In der Kantine der "taz" gab es ausschließlich "Sandino-Dröhnung", den ziemlich bitter schmeckenden Solidaritätskaffee aus Nicaragua. Derweil wurde der kämpfende Dichter Ernesto Cardenal zum neuen sanften Ché Guevara verklärt und Nicaragua zum neuen Kuba – Projektionsfläche revolutionärer Sehnsüchte in Europa.
Und jetzt? Schweigen im Walde! Von wenigen löblichen Ausnahmen abgesehen, darunter die taz, ist selbst in der bürgerlichen Presse kaum etwas zu lesen über das Drama in Nicaragua. Anders als in Venezuela, wo sich ein ähnliches Desaster abspielt, verfügt das kleine Nicaragua über keine Ölreserven, ist also weltpolitisch ohne Bedeutung.
Schlimmer noch: Große Teile der traditionellen Linken, darunter die Arbeitsgemeinschaft "Cuba si" der Linkspartei, verteidigen den Diktator und verurteilen die "Einmischungsversuche der USA". Die "Junge Welt" etwa schreibt von "Strippenziehern" und "Hintermännern" der Proteste, die natürlich aus Amerika kommen. Der antiimperialistische Kampf geht unverdrossen über Leichen.
Kritik wird als Verrat an der Sache gebrandmarkt
Ich selbst habe mich Mitte der achtziger Jahre aus dieser bedingungslosen Solidarität verabschiedet, die Kritik an totalitären Tendenzen der Befreiungsbewegung sogleich als Verrat an der Sache brandmarkt. In einem Artikel in Dany Cohn-Bendits Sponti-Zeitschrift Pflasterstrand zitierte ich damals Professor Heinz Dietrich, der in der Nicaragua-Solidaritätszeitung des Vereins "Monimbo" schon 1986 die klassische Begründung für linke Terrorherrschaft lieferte: "Auf der politischen Ebene impliziert die notwendige Reaktion auf die konterrevolutionäre Bedrohung die Annullierung der formalen bürgerlichen Freiheitsrechte. Um den Angriff des Imperialismus abzuwehren, könnte sich die Regierung dazu gezwungen sehen, von der revolutionären Demokratie zur revolutionären Diktatur überzugehern."
Nichts aus der Geschichte gelernt
Das ist Stalinismus pur. Dass die stählerne Hardcore-Linke nichts, aber auch gar nichts aus der Geschichte gelernt hat, ist das eine. Deprimierend aber ist das weitgehende Schweigen jenes linksgrünen Milieus in der Erbfolge der 68er. Voll moralischer Inbrunst hat man die Generation der Väter und Großväter nach ihrer Verantwortung gefragt: Was habt ihr gewusst, was habt ihr getan? Legt Rechenschaft ab!
Nun aber könnten sich die Söhne und Töchter selbst einmal fragen, was denn aus jener leidenschaftlich bewunderten Befreiungsbewegung geworden ist, die man einst mit Herz und Hirn unterstützt hat.
Üblicherweise nennt man sowas Vergangenheitsbewältigung.